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Die Anfänge der Mennoniten in Russland

 

nach C. H. Wedel,

verfasst im Jahre 1901

(Die ursprüngliche Schreibweise des damaligen Deutsch ist beibehalten worden.)

Teil I

Die Anfänge der Kolonie Chortitz

 

        Enttäuschung. Im Juli d.J. 1789 erreichte die erste Gruppe der Emigranten den Ort der neuen Ansiedlung und schaute in das lange, breite Thal der Chortitza (im Original wird der Name mal mit "a", mal ohne "a" geschrieben), welches hohe Bergketten einrahmen. Leider hatten sich die meisten mit glänzenden Erwartungen bezüglich der neuen Zukunft getragen und nun zerstörte die rauhe Wirklichkeit alle ihre Illusionen. Kein Baum noch Strauch belebte dieses Thal und diese Höhen. In der Thalsohle lag ein Russendorf in Ruinen. Hier sollte ihnen ihr Brot wachsen, ihnen, die an die fetten Gründe des Weichseldelta gewöhnt waren? Den einen kamen die Thränen der Enttäuschungen und der Sorgen; einer Reihe anderer aber stieg ein böser Verdacht auf gegen die Deputierten, ob diese sie nicht am Ende beschwindelt hätten. Als Höppner zu ihnen kam, überschüttete man ihn mit einem Wutgeschrei von Vorwürfen. Es waren eben in dieser Gruppe viele verkommene und rohe Leute, die nur gemächliches irdischer Fortkommen suchten und un in entscheidenden Augenblicken ihre niedrige Gesinnung zum Ausdruck brachten.

       Besonnenes Handeln. Die Einsichtige untersuchten den Boden genauer und viele von ihnen erklärten sich für ganz befriedigt und machten sich daran, sich wohnlich einzurichten. Man bezog die paar leeren Russenhäuser und baute Erdhütten, und so gab es bald ein reges Pionierleben. Es war kein leichter Kampf. Im August kam anhaltendes Regenwetter und zwang die Ansiedler, still zu liegen. Infolge von Nässe und schlechter Nahrung stellte sich die rote Ruhr ein (ist eine ansteckende Durchfallerkrankung), raffte viele weg und machte andere arbeitsunfähig. Mit großer Freude begrüßte man die ankommenden Kisten und Kasten. Aber als man ans Auspacken ging, da fand sich altes Gerümpel in denselben. Russisches Raubgesindel hatten den wertvollen Inhalt gestohlen; anderes war von der Nässe verdorben. Thränenden Auges fragten sich die Hausfrauen, womit sie die Familie kleiden sollten. Auch das Bauholz, welches den Dnjepr herunter kam, wurden von dem umwohnenden Gesindel fortgeschleppt, und nur energisches Einschreiten konnte noch einen Teil desselben retten. 

         Anlegen von Dörfern. Während des Winters gewährte die Regierung vielen Familien Unterkommen in der nahen Festung Alexandrowsk. Im nächsten Frühjahr aber hieß es zu allen, auch den Unzufriedenen: "Bauen", und unter Anleitung der Deputierten wurden 8 Dörfer angelegt, meistens mit deutschen Namen, so Rosenthal, Einlage, Kronsweide u.s.w. Auf einer im Dnjepr gelegenen großen Insel entstand auch ein Dorf von 17 Wirtschaften. Hier siedelte sich Höppner an. Die Regierung lieferte den Ansiedlern Lebensmittel aus ihren Magazinen; die versprochenen Unterstützungsgelder gingen aber in so kleinen Raten ein und so langsam, daß sie wenige wirtschaftlichen Nutzen gewährten. 

        ppner hatte sich sein Haus schnell zu bauen verstanden. Da beschuldigten ihn nun die unzufriedenen Elemente, er hätte dazu dasjenige Geld verbraucht, welches er für andere empfangen hatte. Ebenso verlangten diese unsinnig räsonnierenden Leute, die beiden Deputierte sollten ihnen besseres Land und reichlichere Unterstützung verschaffen. Als diese das natürlich abschlugen, suchte man sich an ihnen zu rächen. Höppner wurde bei der Regierung als ein Betrüger verklagt. Die angestellte Untersuchung erwies jedoch seine Unschuld und einige der ärgsten Schreier wurden festgenommen. Auch durch russische Einbrecher, die bei ihm Geld vermuteten, geriet Höppner in ernstliche Lebensgefahr. Es veranlaßte dieser Vorfall die Ansiedler auf der Insel, nahe zusammen zu bauen und nicht weit auseinander zu wohnen, etwa jeder auf seinem Landgut, wie sie es von Preußen her gewohnt waren.

 

 

Die kirchlichen Zustände der ersten Zeit

 

        Traurige Wirren. Das kirchliche Leben der neuen Ansiedler befand sich in der ersten Zeit in traurigster Verfassung. Die Spannung zwischen der flämischen und friesischen Richtung entzweite die Gemüter bis zur Feindschaft; Enttäuschungen und Unglücksfälle erfüllten viele mit Verdruß und Bitterkeit und viel zu wenig strebte man nach der innern Herzensverfassung, welche auch in der Trübsal fröhlich macht. In einem der Dörfer wurde sogar eine Schenke errichtet, aber auch in so hitzige Streitigkeiten gerieten, daß es zu einem Mord kam. Und doch wollte man um des Glaubens willen ausgewandert sein! Namentlich gegen die Deputierten fand sich bald allgemein viel Neid und Haß. Sie wurden von der Regierung anfänglich dazu angestellt, Anordnungen und Befehle zur allgemeinen Kenntnis zu bringen und deren Ausführung zu überwachen, das ging nicht immer ohne eine gewisse Härte ab. Da sie nun aber auch Brüder in der Gemeinde waren, so beschuldigte man sie der Verleugnung mennonitischer Grundsätze. Auch im Lehrdienst nahm man Partei für sie und gegen sie. Bis vor die Obrigkeit ging man mit gegenseitigen Anklagen. Die friesischen Glieder sammelten sich schließlich zu einer eigenen Gemeinde, die aus Preußen einen Ältesten erhielt. Aber auch so trug sie nichts zum allgemeinen Frieden bei. Es schien, als sollten alle richtigen religiösen Empfindungen einem leidigen Parteiwesen zum Opfer fallen. 

        Die Ohms aus Preußen. Im J. 1790 war gemäß gewissen Anordnungen aus Preußen einer der Prediger, Behrend Penner, zum Ältesten gewählt und von Preußen aus bestätigt worden. Er vollzog die erste mennonitische Taufe in Rußland, zu welcher Feier ihm drei Brüder ein paar neue Stiefel verehrten. Er betrieb noch den Bau einer Kirche in Chortitz, wozu jeder Wirt zwei Stück Holz und fünf Rubel hergab. Dann aber rief der Herr ihn ab und nun ging es bald so traurig durcheinander, wie noch nie. Man wählte zwei Älteste, von welchen der eine das Amt nicht annahm, der andere, David Epp, folgte dem Rufe, hatte aber nur den kleinsten Teil der Gemeinde auf seiner Seite, während ihn der andere früherer und damaliger Unehrlichkeiten und Betrügereien beschuldigte. In den Gemeindeberatungen schrie und lärmte man so, daß viele Brüder gar nicht mehr hingingen. Ernstlicher als je wandte man sich wieder nach Preußen und bat die dortigen Ältesten und Prediger, sich ihrer sich doch anzunehmen und jemanden abzusenden, der ihnen zum Frieden verhelfen könne. Und siehe, hier erklärte sich der Älteste Cornelius Regehr von der Gemeinde zu Heubuden bereit, dem Rufe zu folgen und ein Prediger, Warkentin, begleitete ihn. Am Abend des 18. April 1794, einem Karfreitag, langten sie in Chortitz an und wie ein Lauffeuer ging die frohe Kunde von Mund zu Mund: "Die Ohms sind da!" und jung und alt drängte sich herzu, sie willkommen zu heißen. 

        Friedensverhandlungen. Die beiden Gäste arbeiteten unermüdlich an der Wiederherstellung brüderlicher Einigkeit. Und mit Erfolg. Die verschiedenen, einander bekämpfenden Parteien bekannten ihre Fehler, thaten Abbitte und bezeugten in einer Denkschrift, mit dem alten Hader brechen und Frieden halten zu wollen. Inmitten dieser Friedensarbeit aber trat der Tod an den Ältesten Regehr heran und rief ihn hier im fremden Lande, fern von seinen Lieben, im Juni 1794 aus diesem Leben ab. Vor seinem Scheiden befestigte er noch seinen Gefährten, Warkentin, zum Ältesten. Dieser ordnete nun die Verhältnisse der flämischen und auch der friesischen Gemeinde in endgültiger Weise und trat dann unter den Segenswünschen derselben seine Heimreise an. Die russische Regierung aber ehrte ihn durch  Übersendung einer Verdienstmedaille. In wehmütiger Dankbarkeit blieb aber auch allen der so schnell dahin geschiedene Älteste Regehr in Erinnerung. 

        Höppner. Leider leuchtete der flämischen Gemeinde die Sonne des Friedens nur kurze Zeit. Dann brach der alte Groll der Parteien mit verstärkter Macht hervor. Die Gemeinde teilte sich förmlich in zwei Lager, mit je dem Lehrdienst und den Deputierten an der Spitze. Die erste Partei beschuldigte die letztere der Veruntreuung öffentlicher Gelder und wollte sich ihrer Sache so gewiß sein, daß sie dieselbe mit dem Kirchenbann belegte. Und schließlich verklagte man sie bei der Obrigkeit. Bartsch verstand sich zu Abbitten. Höppner dagegen erklärte alle Beschuldigungen für Verleumdungen und ließ die obrigkeitliche Untersuchung ihren Gang gehen. Seine Feinde beteuerten vor den Beamten eidlich ihre Aussagen. An der Wahrhaftigkeit derselben hat man später mit Grund gezweifelt. Die Behörde aber verurteilte ihn darauf hin zur Gefängsnishaft und Wiedererstattung des angeblich Geraubten. Zu diesem Zweck wurden seine Güter öffentlich versteigert. Herumwohnende Edelleute kamen, zahlten hohe Preise und schenkten seiner Familie manches Stück. Der ganze Vorgang aber war eine arge Schändung des mennonitischen Rufes und zeigt, wohin Neid und Haß führen kann. Durch die Begnadigungsakte des Kaisers Alexander I. erhielt Höppner bald seine Freiheit wieder und er gewann auch ein gut Stück seines frühern Lebensmutes wieder. Vor seinem Tode aber verfügte er, daß man ihn allein auf seinem Gehöft begraben solle und nicht unter seinen Mitbürgern, welche ihm so übel mitgespielt hatten. Von einsamer Berghöhe schaut heute sein Grabstein auf den unten still dahinziehenden Dnjepr. Seine Verdienste um die Einwanderung unseres Volkes in Rußland sind bedeutend. Sein Geschick zeigt aber auch, mit welchem Neid und Mangel an Dankbarkeit dasselbe meistens denjenigen gegenüber gestanden hat, welche ihm öffentlich dienten. 

        Die friesische Gemeinde hatte auch viel Hader und Neid in ihrer Mitte. Leute, welche in Preußen weit von einander gelebt und in Bezug auf manche Lebensnormen und kirchliche Anschauungen sehr verschiedene Geleise ausgefahren hatten, sollten sich nun im engen Rahmen brüderlich vertragen und gemeinschaftlich bauen. Das war keine leichte Sache und so fanden die preußischen Ohms ihr Gemeindewesen in recht gesunkenem Zustande. Jahre lang schon hatte man kein Abendmahl unterhalten. somit hatten sie auch hier viel zu ordnen, was sie auf Wunsch der Gemeinde thaten. Aber auch hier kam es später wieder zu hitzigen Entzweiungen, so daß die größere Partei die Prediger absetzte, welche es mit der kleinern hielten. Erst allmählig kehrten auch hier friedliche Zustände ein. Im Jahre 1826 wurde ein gewisser Hildebrandt zum Ältesten ordiniert, welcher als junger Mann (1788) eingewandert war und über die erste Zeit der Ansiedlung sehr wertvolle Aufzeichnungen gemacht hat, in denen er es lebhaft bedauert, daß sich die Leute jener Tage durch ihren unseligen Hader in so hohem Grade um den Segen brüderlicher Gemeinschaft gebracht haben. 

 

 

Wirtschaftliche Entwicklung der Kolonie

  

        Das Privilegium Kaisers Pauls I. Wiederholt kamen die Mennoniten in St. Petersburg um das versprochene Privilegium ein und schließlich begab sich der Älteste, David Epp, mit einem Prediger Wilems dorthin, um in dieser Sache persönlich zu wirken. Sie hatten an zwei Jahre zu warten. Am 28. Oktober des Jahres 1800 langten sie mit dem kostbaren Dokument in Chortitz an. Am 6. September war es datiert und unterzeichnet worden. In diesem kaiserlichen Gnadenbrief wurden den Mennoniten alle gegebenen Vorrechte noch einmal bestätigt und zwar für ewige Zeiten. Das räumte ihnen in Rußland eine Sonderstellung ein, wie sie noch keiner religiösen Genossenschaft ähnlichen Charakters sonstwo zu teil geworden ist. Es wird darin gesagt, daß die Mennoniten durch ihren Fleiß und frommen Lebenswandel den andern Kolonisten zum Muster dienen sollen und daß ihnen im Blick hierauf für alle Zeiten volle Religionsfreiheit zugesichert werde und immerwährende Befreiung vom Kriegsdienst. Angesichts der sonstigen Verhältnisse in Rußland erscheint so ein Stück der russischen Politik als ein förmlicher Anachronismus. Den Eingewanderten aber enthüllte es weitgehende Gnadenabsichten Gottes mit ihnen, sie hier im weiten Steppengebiet - im neutestamentlichen Gemeindeleben die Grundzüge des apostolischen Christentums ausprägen zu lassen, und auch noch in einem andern Sinne als die russische Regierung es wohl meinte, ihrer Umgebung ein Licht zu sein und zum Segen zu werden. 

        Wachstum der Kolonie. Der Gnadenbrief verhalf zunächst den Ansiedlern zur völligen Beruhigung betreffs ihrer Stellung und ihrer Zukunft im neuen Lande und war den meisten ein mächtiger Sporn, sich aus aller Trägheit aufzuraffen und vorwärts zu streben. Ebenso veranlaßte er weiteren Zuzug aus Preußen; somit konnten die angelegten Dörfer die wachsende Bevölkerung bald nicht mehr fassen und man mußte neue gründen. Die Regierung kaufte in der Nähe einem Edelmanne ein großes Stück Land ab und gab es für diesen Zweck her. Am Anfang des neuen Jahrhunderts umfaßte der mennonitische Landkomplex an 8000 Desjatinen. 

        Die Verwaltung der Kolonie übertrug die Regierung zunächst einem Beamten mit dem Titel "Direktor". Trappe fungierte nicht lange in dieser Stellung; denn man wußte den fähigen Mann sonstwo besser noch zu verwenden. Seine Nachfolger aber erwiesen sich nicht als besonders tauglich und brachten der Kolonie eher Schaden ein als Nutzen. Sie waren unredlich in der Verwaltung der Gelder, schürten die Zwiste und wußten mit den bösen Elementen nicht fertig zu werden. In der ersten Zeit standen ihnen die Deputierten in einer gewissen offiziellen Weise zur Seite. Bald jedoch traten diese ganz zurück. Sodann nahm der Direktor zur Schlichtung von Streitigkeiten gern die Ältesten der Gemeinden zur Hilfe. Das brachte diese oft in peinliche Verlegenheiten, da sie ihr kirchliches Ansehen in bürgerlichen Angelegenheiten geltend machen sollten. Die Ansiedler sollten aber mit einer gewissen Selbstverwaltung fertig werden können. In ihrem Gebiet bildeten sie eine Art von Republik. In dieser Beziehung aber standen sie förmlich ratlos da. Die strengere Fassung mennonitischer Grundsätze überweist die obrigkeitliche Pflichten an andere. Diese "andere" aber waren hier nicht vorhanden. Wo war hier im Schooß von festen Gemeinden die "Welt", der das Amt der Obrigkeit zufallen sollte? Man sah sich einfach genötigt, manche der ererbten Auffassungen abzuschleifen und neben dem kirchlichen Amt gewissen Gemeindebrüdern auch ein bürgerliches zu übertragen. Somit wählte man in jedem Dorfe einen Vorstehen, "Schulzen", der auf Ordnung sehen sollte, - von oben her aber auch die Weisung erhielt, die Ungehorsamen nach Landes Brauch zu prügeln. Wo blieb aber dann der mennonitische Grundsatz der Gelassenheit und Liebe! Das Vorrecht einer weitgehenden Selbstverwaltung schuf den russischen Mennoniten von vornherein schwere Aufgaben, an deren Lösung sie noch heute arbeiten. Vom Jahre 1800 an hatte die Aufsicht über die Kolonie ein sogenanntes Vormundschaftskomitee in Händen, dessen Spitze längere Zeit ein Herr von Contenius war, welcher sich um die erfolgreiche Entwicklung der Ansiedlung große Verdienste erworben hat.

         Kümmerliche Zeiten waren die ersten Jahre trotz aller Vorteile, welche die Ansiedler genossen. Der Grund hiervon lag größtenteils in den für sie so ganz neuen Verhältnissen. So sagte Contenius, die Mennoniten seien fleißig und häuslich und plagten sich aufrichtig, - und doch schienen sie verarmen zu müssen. Der Boden war hart, der Regen blieb oft aus, - zur Viehzucht war ihr Landgebiet nicht groß genug; mit der Landwirtschaft aber hatten sie lange kein Glück. Es nahm Zeit, ehe sie die in Preußen passende Bearbeitung des Bodens verlernt und eine andere, dem russischen Klima entsprechende, erlernt hatten. Zudem waren manche Dörfer überfüllt. Viele hatten kein eigenes Heim. Daß man nicht allgemein verzagte, sondern immer wieder Mut schöpfte und in zäher Ausdauer dem Boden einen Vorteil um den andern abzuringen wußte, muß als ein Beweis von dem sittlichen Gehalt des Charakters der Ansiedler gerühmt werden. Erst mit dem 19. Jahrhundert kamen bessere Zeiten, besonders auch dadurch, daß neue reichere Einwanderer in Chortiz überwinterten und dafür baar bezahlten oder es durch Darlehen vergüteten.

Kommentar zur ersten Folge:

     Mit großen Hoffnungen zogen die preußischen Mennoniten nach Südrussland. Dort würden sie endlich vollkommene Glaubensfreiheit erleben. Mit genug Land. Wer mit zu großer Hoffnung in ein neues Leben einsteigt, wird oft enttäuscht.

    Die Gegend war vorher von Nomadenvölkern bewohnt gewesen, die von den Russen vertrieben worden waren. Einige waren geblieben und freuten sich überhaupt nicht über die Ankunft der Ausländer.

"Kein Baum noch Strauch" fanden sie vor. Wie baut man dann Häuser und Ställe? Die russische Regierung schickte Baumstämme den Djnepr hinunter, die wurden aber von anderen aufgefangen.

    Diesen Pionieren kamen "Thränen der Enttäuschungen und der Sorgen". Man überschüttete die Leiter, Höppner und Bartsch mit Beschuldigungen. Der fleißige Höppner baute sich bald eine Hütte und einige weniger Unternehmungsfähige verdächtigten ihn des Diebstahls.

    Nicht nur Katholiken brauchen ein Oberhaupt, das die geistlichen Dinge führen kann. Auch Mennoniten brauchten Älteste, die erst später aus dem weit entfernten Preußen eintrafen, und mit ihrer Autorität die Kolonie in geordnete Bahnen führten. Irgendwie erinnert mich dieses an die Streitigkeiten der Mennoniten 1930 bei der Ankunft am Kraul. Auch sie waren ein zusammengewürfeltes Volk aus den unterschiedlichsten Dörfern Russlands, unter schweren wirtschaftlichen Verhältnissen. Auch sie brauchten wie jene in Chortitza eine gewisse Zeit bis sich Leiter herausschälten, die von allen anerkannt wurden und zur Beruhigung der Beziehungen führten.

    Manche von uns haben sich schon mal daran gestört, dass wir in Mennoniten- und Brüdergemeinde aufgeteilt sind. Auch jene in Russland waren anfänglich in zwei Lager gespalten: die Friesen (die kleinere, liberalere Gruppe) und die Flammen (aus Nordbelgien, die größere und strengere Gruppe).

   "Das Vorrecht einer weitgehenden Selbstverwaltung schuf den russischen Mennoniten von vornherein schwere Aufgaben", denn nun musste einer von ihnen z.B. die polizeiliche Kontrolle über die Kolonie ausüben und solche, die nicht die Regeln einhielten, bestrafen. Die Russen taten es so, dass Schuldige ausgepeitscht wurden. Am Sonntag saßen jetzt in mennonitischen Kirchen der Ausgepeitschte und der Auspeitscher nebeneinander und mussten zusammen das Abendmahl nehmen. Damit sind die russischen Mennoniten bis zuletzt nicht fertig geworden, denn in unserer Vorstellung würde niemals einer von uns Macht ausüben, sei es als Schulze (prefeito) oder als Polizeimann.

Teil II

Die Ansiedlung an der Molotschna

 

        Die ersten Dörfer. Das den Mennoniten verliehene Privilegium Pauls I., sowie die Unterordnung ihrer Kolonie unter ein besonderes Fürsorgekomitee verhieß der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Ansiedlungen eine gute Zukunft und weckte bei vielen in Preußen die Auswanderungslust. So kamen um 1803 an 300 Familien, von denen viele bemittelt waren. Auch sie erhielten von der russischen Regierung noch Unterstützung an Geld und Lebensmitteln. Zur Besiedlung wurde ihnen ein neues Gebiet angewiesen, - nämlich im Gouvernement Taurien, am linken Ufer der Molotschna, einem kleinen Flüßchen. Das Gebiet lag etwa 100 Meilen nördlich vom Asowschen Meer. Hier wurden im Jahre 1804 längs des genannten Flüßchens 18 Dörfer angelegt, mit dem Dorfe Halbstadt als Hauptort. Das Land ist hier ebene Steppe, baumlos, aber recht fruchtbar. Da die Ansiedler bei ihren Gesinnungsgenossen in Chortitza manchen Wink über die Bearbeitung des Bodens u.s.w. einziehen konnten, so gestalteten sich ihre Verhältnisse von Anfang an recht günstig. Manche von ihnen hatten sogar zierlich gearbeitete Möbel aus der alten Heimat mitgebracht.

 

        Die Ansiedlung an der Molotschna umfaßte ein Areal von 120,000 Desjatinen. Nördlich davon lagen eine Reihe Dörfer deutscher Kolonisten lutherischer Konfession, südlich dagegen fanden sich Nogaier, ein tartarischer Volksstamm, der meistens von Viehzucht lebte, - namentlich nichts anpflanzte. Sie haßten die Mennoniten als Eindringlinge und fügten ihnen durch Räubereien viel Schaden zu, ermordeten sogar einige. Dafür ließ sie die Regierung entwaffnen. Später mußten sie das Land räumen. Auch sonst hatte die neue Ansiedlung mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Das Bauholz mußte man weit vom Dnjepr herholen. Als Brennzeug mußte das Gras und getrockneter Dünger dienen. Lange fehlte es an einem Markt. Man brachte die Produkte zuerst nach Taganrogg, bis 1833 die Hafenstadt Berdjanks angelegt wurde.

 

        Die Anlage der Dörfer vollzog man nach den Gesichtspunkten deutscher Ordnungsliebe und Nettigkeit. Jedes Dorf bestand aus 20 bis 30 Wirtschaften, deren Höfe zu beiden Seiten der Straße lagen. Die Gebäude standen weit genug von der Straße ab und von einander entfernt, um von einem geschmackvollen Obst- und Gemüsegarten umrahmt werden zu können. Längs der Straße liefen Zäune. In der Mitte des Dorfes baute man die Schule. Um das Dorf herum wurden Hecken und Waldungen angelegt. Und in großer Üppigkeit entfaltete sich der Baumwuchs und gab den auf den öden Steppen gleichsam hingezauberten Dörfern einen idyllischen Reiz.

      Bald rühmten die Reisenden die landwirtschaftliche Schönheit dieser Gegend. In der sogenannten "Alten Kolonie" bei Chortitz sah es romantischer und teilweise wilder aus, weil es hier eine schärfere Abwechslung von Berg und Thal gab und die rauschenden Flüsse bald die Mühlen der Ansiedler trieben. Die Ansiedlung an der Molotschna trug einen stillern Charakter, gewährte mehr das Bild eines ruhigen gemüthlichen, der Welt und ihrem Treiben abgewandten Stilllebens. Sehr anerkennend sprach sich daher der Kaiser Alexander I. über die wirtschaftliche Tüchtigkeit der Mennoniten aus, als er ihnen i. J. 1819 einen Besuch machte.

 

 

Wirtschaftliches Gedeihen der Molotschnakolonie

 

        Neue Dörfer. Die Kunde von der vorteilhaften Entwicklung der Kolonie an der Molotschna bewog in Preußen immer neue Gruppe zur Auswanderung. Obschon es nicht leicht war, loszukommen und auch 10 Prozent vom Baarvermögen an die Regierungskasse abgeliefert werden mußte, gab es doch lange Auswandererzüge, welchen den weiten Weg nach Süd-Rußland machten. In großen, mit Leinwand bespannten Wagen zog man dahin. Somit kam es rasch zur Anlage von weiteren Dörfern, i.J. 1824 waren es schon 40. Um diese Zeit untersagte jedoch die russische Regierung die Einwanderung in der bisherigen Weise und so kamen von da an nur einzelne Familien. Rasch wurde aber das noch offene Land der Kolonie von der zunehmenden eigenen Bevölkerung besiedelt, so daß um 1860 die Zahl der Dörfer auf ca. 50 stieg, bei einer Seelenzahl von 18.000.

 

        Der landwirtschaftliche Verein, bestehend aus einer Anzahl weitblickender Männer, wurde der ganzen Kolonie zu großem Segen. Die Mennoniten sollten ja Musterwirtschaften anlegen, um damit der einheimischen Bevölkerung ein Vorbild zu geben. Um diesen Punkt zu fördern, ließ sich der Verein mit einer gewissen obrigkeitlichen Autorität ausstatten und traf nun eine Reihe weiser Anordnungen, von welchen manche drückend waren, deren Befolgung aber im ganzen das Gedeihen der Kolonie hob. Unter seiner Leitung wurde die Vieh- und Schafzucht veredelt, Maulbeer- und andere Anpflanzungen gemacht, der Seidenbau eingeführt und Wirtschaftsgebäude praktischer eingerichtet.

       Ebenso erließ er Verordnungen, welche der etwaigen Trägheit der Wirte Schranken zog. Ein liederlicher Bauer z.B. wurde unter Vormundschaft gestellt. Wer seine Zäune nicht in stand hielt, mußte Strafe zahlen. Ärmere Familien wurden gezwungen, ihre Kinder in Dienst treten zu lassen. Die Durchführung dieser Vorschriften nahm sich freilich oft recht "russisch" aus, im ganzen aber erwuchs der Kolonie dadurch Gewinn. Mitglieder dieses Vereins, wie Philipp Wiebe, Peter Schmit und Joh. Cornies, widmeten dem landwirtschaftlichen und intellektuellen Gedeihen unseres Volkes viel Zeit und Kraft, ohne freilich viel Dankbarkeit einzuernten. Erst später hat man ihre Mühe gewürdigt.

 

        Joh. Cornies war als vieljähriger Vorsitzer des landwirtschaftlichen Vereins ein Mann von hervorragender Bedeutung. Im Jahre 1805 siedelte er, als 16 jähriger Jüngling mit seinen Eltern aus Preußen gekommen, in Orloff an und erlebte so die ärmlichen Verhältnisse der ersten Zeit. Bald aber verstand er es, sich nach jeder Seite hin emporzuarbeiten. Er nahm die weiten Ländereien jener Gegend in Pacht und legte eine eigene Schäferei an, aus der eine reizend gelegene Plantage an einem Flüßchen, die Juschanlee, entstand. Hier machte er allerlei Versuche mit der Bodenkultur und Viehzucht, welche der ganzen Kolonie nützten. Von den Kulturaufgaben der Mennoniten in Rußland hatte er eine hohe Idee. So bildete er selbst von den benachbarten Tartaren junge Leute zu Landwirten aus und sandte sie dann zu ihrem Volk zurück. Ebenso wurden auf seinen Rat Judenkolonien angelegt, in deren  Mitte sich tüchtige mennonitische Bauern niederließen, um den Juden als Musterwirte zu dienen. Leider mißglückte der Versuch, da die Juden zu zäh am Schacher gingen.

        Besonders hohe Verdienste erwarb sich Kornies um die Hebung des Schulwesens. Er selbst hatte sich durch Lesen und Reisen ins Ausland gute Kenntnisse angeeignet und wußte mit den hohen russischen Beamten entsprechend zu verkehren, so daß die Glieder des Fürsorgekomitees gern seinen Rat einholten. Kaiser Alexander I. und Alexander II. als Thronfolger waren seine Gäste. Leider versuchte er die Linien seiner Autorität zu weit zu ziehen und auch in die kirchlichen Verhältnisse leitend einzugreifen. Im ganzen jedoch hat ihm die Kolonie viel zu verdanken. Der gelehrte Reisende v. Harhaufen bemerkte über ihn, Cornies hätte das Zeug zum Gouverneur gehabt, "aber er will weiter nichts sein als ein mennonitischer Bauer, der sein Taufgelübde, keine Waffen zu tragen, nicht brechen will." Er starb 1848.

 

        Die Verwaltung der Kolonie lag zunächst in den Händen der Mennoniten selbst, stand aber weiter unter dem Fürsorge-Komitee in Odessa, welches direkt mit dem Ministerium in St. Petersburg verkehrte. In diesem Komitee standen Männer, wie der Staatsrat Kontenius und Hahn, den Mennoniten sehr günstig gegenüber. An der Spitze der Kolonie stand ein sogenanntes Gebietsamt, bestehend aus angestellten Schreibern und einem Oberschulzen, der von den Vertretern der einzelnen Dörfer gewählt wurde. An der Spitze der Dörfer standen Schulzen, welche die Dorfsversammlungen zu leiten und auf Ordnung zu sehen hatten. Manche Angelegenheiten hatte jedes Dorf für sich zu ordnen, - so den Hirten, den Lehrer u.s.w. anzustellen, das Ackerland zu verteilen, für Verarmte zu sorgen u.s.w.

       Daß es bei Verhandlungen über diese Punkte oft zu lebhaften Debatten und auch Reibungen kam, läßt sich leicht denken. Sehr mißlich war es auch hier, daß Mennoniten in ihrer Stellung als Beamte gegen andern Mennoniten obrigkeitlich vorzugehen hatten, Widerspenstige mit Gefängnishaft belegen mußten, ja sogar zur Prügelstrafe griffen. Zwischen dem mennonitischen Bekenntnis und den gegebenen Verhältnissen gab es da die peinlichsten Konflikte, welche sich oft gar nicht befriedigend lösen ließen. Besonders übel vermerkten es auch die Prediger und Ältesten, wenn ein Gemeindebruder wegen eines Vergehens auf Betrieb der mennonitischen Vorgesetzten geprügelt wurde. Sie machten letzteren darüber sehr nachdrückliche Vorstellungen. Einer der Ältesten, Namens Wiens, hatte sich darüber vor dem Staatsrat Hahn zu verantworten. Dieser sagte ihm schließlich, daß sogar er als Geistlicher auf seinen Befehl an einen Schuldigen die Stockschläge zu verabfolgen hätte. Sehr energisch aber erklärte Wiens, daß er sich so etwas nicht befehlen ließe. Infolge dieser scharfen Antwort mußte er schleunigst das Land räumen.

 

        Einen Staat im Staate bildeten somit die mennonitischen Kolonien in Südrußland. Sie wurden das Schooßkind und der Stolz der russischen Regierung. Die Selbstverwaltung der Dörfer spornte die wirtschaftliche Energie zur höchsten Leistungsfähigkeit an. Die reinen Straßen der Dörfer, die Sauberkeit in Hof und Garten, die soliden Bauten, die deutsche Akkuratesse im wirtschaftlichen Betrieb erwarben den Mennoniten hohes Lob. Gern machten Beamte hierher Besuche und erklärten, daß die Mennoniten die Frage nach Art und Weise, wie in Südrußland die Landwirtschaft lohnend betrieben werden sollte, glänzend gelöst hätten. Die wirtschaftliche Umsicht der Beamten der Kolonie zeigte sich auch darin, daß man das noch offene Land verpachtete und den Gewinn davon zum allgemeinen Besten verwendete. In jedem Dorfe baute man zudem ein Getreidemagazin, das immer gefüllt war, um in Jahren geringer Ernten aushelfen zu können. Damit war eine Bettelei der Einwohner oder eine Verarmung derselben im normalen Verlauf der Dinge so ziemlich unmöglich gemacht.

  

 

Die Schul- und kirchlichen Verhältnisse

      Sehr bescheidene Anfänge gab es natürlich auf dem Gebiet der Schule in der ersten Zeit. Irgend ein von Preußen her etwas gut geschulter Bauer mußte als Schulmeister dienen und in seiner größten Stube den Kindern etwas Lesen und Schreiben beibringen und als täglichen Schlußgesang des Einmaleins ableiern lassen. Der Stock bildete ein sehr wesentliches Unterrichtsmittel. Nachgerade baute man eigentliche Schulhäuser, aber meistens recht unpraktisch, mit niedrigen, düstern und kahlen Unterrichtsräumen.

       An passenden Lehrmitteln fehlte es fast gänzlich. Und hier zeigte sich eine der schwächsten Seiten der Selbstverwaltung der Kolonie. Der Bauer hatte größtenteils nur Interesse an seiner Wirtschaft und für gründliche Schulbildung wenig Sinn. Und doch hatte er lange Zeit in dieser Hinsicht die Hauptentscheidung abzugeben. Somit wuchs in den ersten 50 Jahren der Kolonie eine Jugend heran, der es bezüglich einer entsprechenden intellektuellen und religiösen Bildung sehr fehlte. Dieser Generation aber fiel ja mit der Zeit die Verwaltung der bürgerlichen und kirchlichen Verhältnisse in die Hände und da ist es nicht zu verwundern, daß es in den 50. und 60. Jahren auf diesen Gebieten schlimme Erscheinungen gab.

 

Schulfreunde. Es fanden sich bald Männer, welche die Vernachlässigung des Unterrichtswesens als eine große Gefahr für die gesunde Entwicklung ihres Volkes erkannten und einer neuen Zeit auf diesem Gebiet Bahn brachen. Sie sahen ein, daß es zunächst an vorgebildeten Lehrern fehle und so machten sie sich daran, höhere Schulen einzurichten, wo neben deutschen Fächern auch die Landessprache getrieben werden sollte. So entstand 1820 die Vereinsschule in Ohrloff, und demselben Zweck diente auch die Privatschule eines reichen Gutsbesitzers, Peter Schmidt, auf Steinbach, welcher in sehr liberaler Weise junge, lernlustige Leute teils auf seiner eigenen, teils auf andern Schulen ausbilden ließ und ihnen oft die betreffenden Kosten erließ, wenn sie sich dem Schulfach widmeten. Er hat sich so in geräuschloser Weise um das Schulwesen der Kolonie große Verdienste erworben.

Heese und Franz. Die Lehrer machen die Schule, - das zeigt auch die Berufswirksamkeit der genannten Männer. In Heese gewann die Vereinsschule in Ohrloff einen in Deutschland vorgebildeten tüchtigen Pädagogen. In Rußland eignete er sich auch die russische Sprache an und lehrte sie meisterhaft. Im Jahre 1840 wurde er nach Chortitz berufen, um dort die Gründung einer höhern Schule unter dem Namen "Centralschule" zu leiten und derselben dann vorzustehen. Leider war sein Weg reichlich mit Dornen bestreut. Die mennonitischen Beamten, Oberschulze und Ältester, zeigten sich als kleinliche Leute von beschränktem Horizont, denen oft ihr Ehrgeiz wertvoller war als die Schulsache.

      Heese hatte manchen persönlichen Hader durchzuarbeiten, bis das Schulhaus fertig und die Arbeit im Gange war. Trotzdem verlor er nicht den Glauben an die Zukunft unseres Volkes. Sein Einkommen war gering. Nebenbei scheint er sich zu viel mit Vorschlägen über wirtschaftliche Verbesserungen abgegeben zu haben. Das schwächte seinen Einfluß auf seinem eigentlichen Gebiete, da sich ein Landmann in seinem Fach nicht gern von einem Schulmeister unterrichten läßt.

      Franz kam 1835 als seminaristisch gebildeter Fachmann nach Rußland und entwickelte in Privat- und Centralschulen eine rege Thätigkeit. Er war Heese's Nachfolger in Chortitz, bis er 1858 tief gekränkt von dort fortging. Er eröffnete nun in der Molotschnakolonie zu Gnadenfeld eine eigene Schule, die bald von sich reden machte. Er gab klaren, faßlichen Unterricht und viele seiner Schüler haben sich als sehr tüchtige Dorfschulmeister bewährt. Leider litt er bei einem starken Selbstgefühl an einem großen Mangel an Selbstbeherrschung und so kam es in seinem Schulzimmer zu schlimmen Szenen. Abgesehen davon hat er aber auf seine Schüler intellektuell und religiös tief eingewirkt, so daß ihm viele für die erhaltenen Anregungen zu einer soliden Charakterbildung dauernde Dankbarkeit bewahrten. Durch die Herausgabe von Rechentafeln und besonders eines guten Choralbuches hat er das Schulwesen der Kolonie wesentlich gefördert. In großer Rüstigkeit feierte er sein 50 jähriges Amtsjubiläum. Wenige Jahre darauf ging er heim.

Kommentar zur zweiten Folge:

     Wann zogen die Mennoniten von Polen/Preussen nach Russland? Im Jahr der Französischen Revolution, 1789, gab es die erste Welle. Als dann die Zurückgebliebenen anfingen gute Nachrichten aus Russland zu hören, zogen weitere Gruppen dorthin. 1803 kamen also weitere 300 weitere Familien. Diese gründeten die zweite Mutterkolonie, Molotschna, 100 Meilen nördlich, d.h. 160km von der ersten Kolonie, Chortitza, die 24 Jahre vorher durch die Pioniere gegründet worden war.

     Die zweite Gruppe hatte es schon viel leichter, denn sie gehörten zu den reicheren und verbrachten die erste Zeit bei den Gründern in Chortitza und lernten von ihnen, wie sie es besser machen könnten.

     "Die Ansiedlung an der Molotschna umfaßte ein Areal von 120,000 Desjatinen." Eine Desjatine ist ein klein wenig grösser als ein Hektar Landfläche. Der Text gibt eine sehr schöne Beschreibung von der Anlage eines typischen mennonitischen Dorfes in Russland. Es lohnt sich, dieses noch mal zu lesen und sich da hineinzudenken.

     Die Eltern von Johann Cornies kamen zwei Jahre nach der zweiten Gruppe, im Jahre 1805. Er war damals 15jährig, aber erwies sich als einer der grössten unter den Mennoniten Russland. Man erzählte, dass er das Zeug hatte, ein Gouverneur des Landes zu werden, er wollte nichts anderes, als nur seinem Volk helfen, was aber den meisten missfiel und sein Name erst im Nachhinein die gebührende Anerkennung fand. Sein Wirken war vielseitig, auf wirtschaftlichen Gebiet, im schulischen Bereich wie auch durch den Landwirtschaftlichen Verein, der, mit Unterstützung der russischen Regierung, die Mennoniten dazu zwang, auf den immensen Steppen Südrusslands, Wälder anzulegen. 

    "Besonders übel vermerkten es auch die Prediger und Ältesten, wenn ein Gemeindebruder wegen eines Vergehens auf Betrieb der mennonitischen Vorgesetzten geprügelt wurde." Das hatte es bis dahin noch nicht gegeben, dass Mennoniten ein säkuläres Amt innehatten und nun polizeilich gegen andere Mitbrüder vorgehen mussten, weil diese das Gesetz gebrochen hatten.

     Wo in den Anfangsjahren ein Bauer die Kinder seines Dorfes in der grössten Stube seines Hauses empfangen musste, um ihnen das ABC beizubringen, und in dieser Zeit seine eigene Wirtschaft vernachlässigen musste, kam es bald dazu, dass tüchtige Jünglinge zur Ausbildung nach Deutschland geschickt wurden und dann als fähige Lehrer die Bildung der kommenden Generationen auf ein höheres Niveau führten.

Teil III

     Centralschulen. Wie in Chortitz, so richtete man auch an der Molotschna unter diesem Namen zuerst eine, dann zwei höhere Schulen ein, welche teils eine allgemeine Bildung, teils eine fachmäßige Vorbereitung für den Lehrerberuf in den Dorfschulen liefern sollten. Der Unterricht wurde in deutscher und russischer Sprache erteilt. In letzterer gaben ihn oft russische Lehrer. Der Kursus umfaßte drei Jahre. Den deutschen Unterricht erteilten Lehrer, welche in Deutschland Lehrerseminare absolviert hatten und sich so als tüchtige Fachleute ausweisen konnten. Oft hatten sie ihre Studien mit Hilfe von Gönnern oder auch auf Kosten der Kolonie betrieben. In den Centralschulen waren eine Anzahl Freistellen für unbemittelte Schüler, welche sich nur verpflichten mußten, der Kolonie 6 Jahre als Lehrer oder Schreiber im Gebietsamt zu dienen. In diese höhern Schulen kamen auch manche russischen Edelleute, welche auf diese Weise manchen Segen aus den deutschen Schulen zogen. Das höhere Unterrichtswesen der Mennoniten erntete denn auch bald Anerkennung und Lob von den russischen Behörden.

     Die Dorfschulen arbeiteten sich daher um die 50. Jahre des vorigen Jahrhunderts sehr entschieden aus dem alten Schlendrian heraus. Dazu trugen die Verfügungen des landwirtschaftlichen Vereins wesentlich bei. Nach denselben baute man zweckmäßige Schulgebäude mit Lehrsaal und Lehrerwohnung unter einem Dach, versorgte die Schule mit Landkarten u.a. Lehrmitteln, und überwachte den Schulbesuch der Kinder. Gelegentlich wurden auch die Schulen von den Mitgliedern des Vereins inspiziert. Die Lehrer empfingen ihre Vorbildung bei einem älteren Schulmann, meistens jedoch in den Centralschulen. Bald mußte jeder Kandidat für das Schulfach seine entsprechende Prüfung bestehen und das räumte vollends mit den frühern Lehrkräften auf, die neben dem Unterricht noch die Schusterei u.s.w. betrieben hatten. Nun erhielt der Lehrer einen bestimmten Gehalt in Geld und Naturalien. Darüber jammerte nun freilich mancher Bauer und fürchtete sich vor der maßlosen Gelehrsamkeit, die im Anzug war, genoß aber bald den Segen der neuen Einrichtung, ohne es zu merken.

     Viele Lehrer erwiesen sich als fromme Männer, welche nicht viele Künste trieben, aber sehr treu in ihrem Beruf arbeiteten und daher auf den religiösen und sittlichen Zustand des Volkes den bestimmendsten Einfluß ausübten. Sie waren oft tonangebend für den gesamten Bildungsgrad ihres Dorfes. Sehr segensreich für sie waren die vom Verein angeordneten Lehrerkonferenzen. Ebenso trugen jährliche Schulprüfungen viel dazu bei, die Einsicht in den Wert einer guten Schulbildung bei der ganzen Dorfbevölkerung zu vertiefen und das Interesse daran zu heben. In manchen Dörfern richteten die Lehrer abendliche Singstunden, - ja förmliche Fortbildungsschulen ein, zum großen Gewinn der erwachsenen Jugend.

 

Die kirchlichen Verhältnisse

     Die kirchlichen Verhältnisse ließen in den ersten 50 Jahren der Kolonie auch viel zu wünschen übrig. Im allgemeinen pflegte man die aus Preußen mitgebrachten Einrichtungen, ohne sich viel auf zeitentsprechende Neuerungen zu besinnen. Längere Zeit bewahrten die Gemeinde ihre flämische oder friesische Eigentümlichkeiten und wollten auch von Heiratsverbindungen zwischen beiden Teilen nichts wissen. Allmählig jedoch wurden die Unterschiede matter. In einigen Gemeinden musste sich jeder männliche Täufling bei seiner Taufe zur Übernahme des Predigtamtes verpflichten, falls man ihn später dazu wählen sollte. Es entstanden in der Molotschnakolonie nach und nach 7 Gemeinden. Die Kirchen bildeten große Säle. Sie entbehrten des Turms, waren aber sonst nette Gebäude, in der Mitte des Dorfes oder am Ende desselben gelegen, von Bäumen geschmackvoll umbüscht. Dicht daneben befand sich meistens der Friedhof.

       Die Pflege des kirchlichen Lebens beschränkte sich größtenteils auf einen Gottesdienst am Sonntagvormittag. In der Regel aber wurde da nur eine irgendwo abgeschriebene Predigt vorgelesen. Der Gesang folgte alten, abgeleierten Weisen. Nur mit Mühe gelang es, feste Melodien einzuführen. Es gab viel tote Orthodoxie, da ja die kirchliche Gemeinde mit der bürgerlichen zusammenfiel. Lose nur hingen manche Kreise durch die kirchlichen Akte mit der Gemeinde zusammen. Der Wirtschaftsbetrieb war die Hauptsache. In manchen Dörfern erging man sich bei Hochzeiten in Spiel und Tanz und fröhnte dem Branntwein. Ebenso trieben es manche recht wild auf den Jahrmärkten. Still suchende Seelen wußten freilich auch aus der nur magern Heilsverkündigung und aus guten Schriften ihr inneres Leben zu nähren. Einen Lichtpunkt bildete die Gnadenfelder Gemeinde, deren Glieder meistens erst um 1836 aus Preußen kamen. Sie pflegten Umgang mit den gläubigen lutherischen Pastoren der Umgegend und feierten sehr segensreiche Missionsfeste. Der sittliche Fehltritt eines ihrer Ältesten, eines sehr begabten Mannes, lähmte jedoch ihren guten Einfluß auf die andern Gemeinden.

 

 

 

        Wirtschaftliche Fragen und Wirren

      Landmangel. Um die 50. Jahre machte sich in den Kolonien ein drückender Landmangel geltend. Da die Wirtschaften Musterhöfe bleiben sollten, so durften sie nicht geteilt werden, sondern gingen auf einen der Söhne über. Die andern wandten sich Handwerken zu, wobei sie sich lange recht gut standen; denn die deutschen Wagen und Gerätschaften wurden von den umwohnenden Russen gern gekauft. Manche pachteten auch Land von den Nogaiern. Ebenso hatte die Molotschnakolonie einen großen Streifen Land nicht besiedeln lassen, sondern ihn zu Gunsten der Koloniekasse verpachtet. Hier aber trieben die reichen Wirte den Pachtpreis allmählig so in die Höhe, daß die armen Leute nicht mitmachen konnten.

      Somit gab es im Laufe der Zeit in jedem Dorfe eine Anzahl Familien, welche keinen Grundbesitz eigneten, mit dem Pachten von Ländereien oder einem Handwerk aber auch nicht voran kamen, dazu in der Dorfsversammlung keine Stimme hatte und doch an allen Steuerlasten mitzutragen hatten. Bei der Anlage der letzten Dörfer waren auch nur etwas vermögende Familien angekommen, indem nur diese die vorgeschriebenen Gebäude u.s.w. aufführen konnten. Es gab nun um 1860 in der Molotschnakolonie an 3000 Familien ohne Land, - also etwa zwei Drittel der Bevölkerung. Diese erwartete Hilfe von den andern und - erhielten sie nicht. Hier nun zeigten die schlimmen Folgen der mangelhaften Schulbildung und Belehrung in Kirche und Gemeinde.

 

    Böse Zwiste. Es lag in der Natur der Sache, daß in privaten und öffentlichen Zusammenkünften die Lage der "Landlosen," wie man sie hieß, besprochen wurde. Dabei erhitzte man sich oft derart, daß jeder Schatten von Brüderlichkeit verschwand. Selbst die Prediger standen oft nicht über dem Parteihader, sondern mitten drin, da sie ja auch zu den Wirten gehörten und oft nicht zu den ärmsten. Cornies hatte den Versuch gemacht, eine Art Stadt zu gründen, wo sich die Handwerker anbauen könnten. Aber die Ausführung dieses Planes erwies sich als recht schwierig, weil die Vermögenden nichts für die Mittellosen opfern wollten. Schließlich entwickelte sich Halbstadt zu einer Art von so einem Städtchen, aber in einer Weise, welche der ursprünglichen Idee der Sache nicht erheblich diente. Die Landlosen aber hielten im Laufe der Zeit eigene Konferenzen ab, ergingen sich dabei in scharfen Ausfällen gegen die Wirte und wandten sich mit Bittschriften an die Regierung, ihre Not schildernd, sowie auch den Egoismus ihrer vermögenden Brüder. Sie beschrieben viel Papier, bis man auf sie hörte. Endlich kamen Beamte und untersuchten die Sachlage.

      Die Landlosen verlangten, es solle die Kolonie 1. ihnen das noch offene Land austeilen; und 2. durch Massenankäufe von Ländereien für diejenigen sorgen, welche im Gebiet der Kolonie keinen Grundbesitz für sich mehr finden könnten. Im Blick auf die Geschichte und die Eigenart der Mennoniten waren was nicht unbillige Forderungen. Aber davon wollten die Wirte nichts wissen. Sie wiesen darauf hin, daß manche der Landlosen von zurückgelegten Kapitalien lebten und daß andere ihr Vermögen durch Trägheit verloren hätten. Diesen sollten sie helfen? So richtig diese Aussagen auf einzelne Fälle zutrafen, so unzulänglich erwiesen sie sich im Blick auf die ganze Bewegung, um die Stellung der Wirte rechtfertigen zu können. Ja, die Beamten entdeckten manche Unehrlichkeit, welche in der Verwaltung der öffentlichen Ländereien begangen worden war.

 

Lösung sozialer Fragen. Nach längeren Verhandlungen verfügte die Regierung, daß die Höfe oder Wirtschaften auch geteilt werden dürften. Damit ließ man die Idee der Musterwirtschaften bei den Mennoniten fallen. Dies Stück ihrer landwirtschaftlichen Mission war zu Ende. Weiter sollte von dem noch offenen Lande jedem Dorfe ein bestimmtes Areal zugeschnitten werden, so daß sich eine Anzahl von Familien eine Wohnstätte mit 12 Desjatinen Land erwerben könnten. Auch sollten dieselben bei der Dorfversammlung Stimmrecht haben. Ferner sollte ein mitten durch die Kolonie hindurchgehender Weg schmaler gemacht werden. Er war breit genug, um den Zugochsen der Frachtfuhrleute überall genügend Weide zu gewähren. Das so gewonnene Land sollte verpachtet werden, um mit dem Erlös davon und jährlichen Beiträgen von den Dörfern weitere Ländereien zu kaufen, welche von den jungen, landlosen Familien unter brüderlichen Bedingungen besiedelt werden dürften.

       Mit diesen Verfügungen sagte die russische Regierung den Mennoniten, daß die Zeit vorbei sei, wo sie mit Hilfe der Staatskasse zu Ansiedlungen kommen könnten. Für die ersten Einwanderer habe der Staat gesorgt, für deren Nachkommen aber wolle er nichts Besonderes mehr thun. Für die Mennoniten war es sehr beschämend, so von russischen Staatsbeamten auf ihr eigenes Gemeinschaftsprinzip, die gegenseitige Unterstützung, hingewiesen zu werden. Aber die meisten hatten sich am wenigsten um mennonitische Grundsätze gekümmert. Viele waren wohlhabend, ja reich geworden und spielten nun den Vornehmen, prunkten auf Jahrmärkten u.s.w. mit ihren vollen Taschen und kümmerten sich nicht um die dürftige Lage des armen Mannes.

       Als sehr traurige Züge der Geschichte der russischen Mennoniten müssen daher diese Landstreitigkeiten bezeichnet werden. Aber die Verhältnisse waren derart, dass sie eher das Selbstsüchtige und Rohe des menschlichen Herzens beförderten als das Edle und Gute. Zudem führten in diesen Verhandlungen oft Leute das große Wort, deren intellektuelle und religiöse Bildung über die dürftigsten Elementarpunkte nicht hinausging. Leute, welche kaum lesen und schreiben konnten, von Geschichte nichts wußten, wurden zu Beamten gewählt, als welche sie sich mit schwierigen sozialen, ökonomischen und kirchlichen Fragen beschäftigen mußten, zu deren Lösung Fachkenntnisse auf allen diesen Gebieten nötig waren. Natürlich konnten sie über ihren engen Horizont nicht hinaussehen und so maßen sie alle wirtschaftlichen und kirchlichen Projekte nach ihren beschränkten Auffassungen. Die wenigen Einsichtsvollen verschwanden in der Masse. Schwer haben die russischen Mennoniten für die Vernachlässigung des Schulwesens gebüßt.

       Die in den Landzwisten begangenen Sünden wurden eine Gesamtschuld. Sie entzweiten Gemeinden und einzelne und verringerten die Achtung der Regierungsbeamten gegen sie. Aber auch der Optimismus der russischen Regierung ist nicht zu rechtfertigen, daß sie einen Volkskörper sich selbst überließ, sich in ganz neuen schwierigen Verhältnissen zurecht zu finden ohne die Bedingung zu stellen, daß derselbe für einen gewissen Bildungsgrad derjenigen zu sorgen hätte, welche ihm als Führer dienen sollten. In den ersten 50 Jahren hat es kaum einen unter den Mennoniten gegeben, welcher über eine Gymnasial- oder Universitätsbildung verfügte. Man blieb also am Alten vielfach nur deshalb zäh hängen, weil man das gute Neue nicht begreifen konnte. Es ist ein interessantes Stück ihrer Geschichte, daß sie die Selbstversorgung der ärmeren Familien auf eine geradezu mustergültige Weise ins Werk setzten, nachdem sie die Möglichkeit der Ausführung eines solchen Projektes erkannt hatten.

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Teil IV

Tochterkolonien

 

     Bei Chortitz. Wie schon früher bemerkt, hatte die Chortitzer Kolonie nur ein beschränktes Gebiet erhalten. Bald waren hier daher die Dörfer überfüllt und die Regierung verhalf nun dem ersten Überschuß der Bevölkerung zu neuen Ansiedlungsgebieten. Im Jahre 1836 wies sie 150 Familien im Mariupoler Kreis einen Landstrich an, wo fünf Dörfer gegründet wurden. Man nannte die hier Wohnenden "die Bergthaler Gemeinde." Die isolierte sich etwas von den andern und blieb deshalb an manchen alten Eigenheiten hängen. 

 

     Später wanderten sie sämtlich nach Amerika aus, nachdem sie ihre Wohnstätten an deutsche Katholiken verkauft hatten. Eine andere Gelegenheit, zu selbständigen Wirtschaften zu kommen, gab es für arme Familien im Jahre 1847, als die erwähnten Judenkolonien angelegt wurden. Mancher siedelte sich da als "Musterwirt" an. In den 60. Jahren machte sodann ein russischer Großfürst den Chortitzer Mennoniten sehr günstige Offerten behufs Anlegung von Dörfern auf seinem Landgut, indem er nur einen Rubel per Desjatine als jährlichen Pachtzins verlangte. Unter dieser Bedingung wurden fünf Dörfer auf seinem Lande gegründet. Später freilich wußte er den Pachtzins bedeutend zu steigern. Schließlich kam man aber auch hier, - und zwar mit weit weniger Schwierigkeit als in der Molotschnakolonie, - zu der Einsicht, daß die Gesamtheit für die landlosen Familien zu sorgen hätte. So kaufte man im Jahre 1868 ein Areal von 7000 Desjatinen zur 240,000 Rubel; 1871 - 3600 Desjatinen zu 120,000 Rubel; 1884 - 1400 Desjatinen zu einer Million Rubel. Diese Ländereien wurden den armen Familien zu sehr günstigen Bedingungen überlassen, so daß dieselben in kurzer Zeit zu eigenem Grundbesitz kommen konnten. 

 

     In der Krim. Am Schluß der 50. Jahre offerierte die russische Regierung den Mennoniten das Amurgebiet im fernen Ostasien zur Besiedlung. Trotz der weiten Entfernung schickte man noch Deputierte hin, um sich das Land anzusehen. Diese machten die Reise in drei Monaten, fanden die Gegend schön und fruchtbar und wählten sogar einen Ansiedlungsplatz. Und es fanden sich an 200 Familien, welche sich bereit erklärten, in jene Gegend auswandern zu wollen. Das Projekt kam jedoch nicht zur Ausführung, indem um 1860 in der Krim Land zur Besiedlung ausgeboten wurde. Bald waren Dutzende von Familien dorthin auf dem Wege, wo in alter Zeit die Goten gewohnt und in den jüngsten Jahren die räuberischen Tartaren ihr Nomadenleben geführt hatten. Weil sie im Krimkriege mit den Feinden der Russen sympathisiert hatten, so waren sie kurzer Hand ausgewiesen worden. Bald war ihr gewesenes Gebiet mit Mennoniten und andern Deutschen, sowie Esthen und Letten angefüllt und der Boden lohnte reichlich die Mühe des Landmannes. Meistens siedelte man sich auch hier in Dörfern an; manche zogen es aber auch vor, allein sich anzubauen. Das Land stieg rasch im Preise und so sind hier viele arme Leute zu Vermögen gekommen.

      In Polen und dem angrenzenden westlichen Russland entstanden ebenfalls mennonitische Ansiedlungen. Charakteristisch für den Zustand der Gemeinden jener Zeit ist die Veranlassung der Auswanderung von 60 Familien aus der Molotschnakolonie nach Polen. Der Älteste der Waldheimer Gemeinde, Namens Schmidt, hatte 1846 einen jungen Knaben getauft, der eigentlich der lutherischen Konfession angehörte. Deshalb verklagte ihn die mennonitische Behörde bei der russischen Obrigkeit und diese verwies ihn aus der Kolonie. Und der größte Teil seiner Gemeinde zog mit ihm. 

        Sagradowka. So hieß ein Gebiet im Gouvernement Cherson, welches in den 70. Jahren von der Molotschnakolonie angekauft wurde. Hier wurden 18 Dörfer angelegt. Bei allen Einrichtungen wurde die Mutterkolonie zum Muster genommen. Diese aber erwies sich den neuen Ansiedlern gegenüber als äußerst brüderlich und liberal, indem sie ihnen das Land unter dem Einkaufspreis überließ, lange Zahlungstermine und nur niedrige Zinsen festsetzte. Auf ähnliche Weise ging es von da an weiter. Im J. 1895 kaufte man sogar ein großes Stück Land östlich von der Wolga bei Orenburg, und sehr liberal wurde daheim noch für die Errichtung von Kirchen u.s.w. zusammengesteuert. Kleine Gruppen verzogen sogar nach der Gegend am Kuban, im Kaukasus, und kamen meistens wirtschaftlich gut voran. Einzelne mennonitische Familien finden sich zudem über das ganze südliche Rußland zerstreut. Auch in der Stadt Bersjansk bildete sich in den 60. Jahren eine eigene mennonitische Gemeinde, deren erster, sehr fähiger Ältester, Leonard Sudermann wurde.

Kirchliche Bewegungen

 

        Der Gegensatz zwischen Lehre und Leben, zwischen Bekenntnis und Sitte, veranlaßte in den 50. und 60. Jahren tiefgehende Bewegungen. Im ganzen wollte man ja doch an den strengen und oft auch strengsten Forderungen mennonitischer Grundsätze festhalten. Nach denselben aber war es vielen fraglich, ob ein Christ irgend ein obrigkeitliches Amt bekleiden dürfe; entschieden aber fordern dieselben einen völligen Bruch mit einem sündhaften Leben vor der Taufe und verlangen ein Gott geweihtes Privat- und Gemeindeleben nach derselben. Diese Bekenntnispunkte wurden jährlich bei der Behandlung des Katechismus und der Glaubensartikel vorgetragen. Einige Gemeinden übten zudem nach dem Abendmahl noch die Fußwaschung als Symbol der bestehenden dienenden Bruderliebe. Allen Nachdenkenden mußten nun aber die sittlichen Zustände des Volkslebens im Blick auf den Bekenntnisstandpunkt als höchst bedenklich erscheinen. Wo wollte es mit dem vielen Hader hinaus?

      In wie vielen Fällen erschien die Taufe mehr als eine bürgerliche Handlung denn eine kirchliche, indem sie den Betreffenden die Verheiratung ermöglichte! Wie oft entsprach die Abendmahlsfeier bei weitem nicht den Grundideen derselben! Die Gemeindezucht fand sich oft nur auf dem Papier und manch ein Gemeindebruder stand im Ruf böser Dinge, ohne daß man ihn zur Verantwortung zog. In den 60. Jahren kam auch manch ein Anstoß zu einem lebendigen Christentum von außen. Gute Bücher und Zeitungen wurden verbreitet und gelesen. Ebenso fand der eine und andere der lutherischen Prediger Eingang bei den Mennoniten und regte zu fruchtbarem Nachdenken an. Somit kam es zu tiefgehenden religiösen Bewegungen unter den Gemeinden, von welchen manche zu neuen kirchlichen Bildungen führten.

     Die "kleine" Gemeinde. Schon um 1830 bildeten sich kleine Kreise, welche sich von den andern absonderten, in Privathäusern zusammen kamen, sich eigene Prediger wählten und sich schließlich unter der Benennung "kleine Gemeinde" zu einem eigenen kirchlichen Verband zusammenschlossen. Sie wollten mit demjenigen Ernst machen, was die andern auch bekannten, - aber nicht übten. Sie lasen eifrig in Menno Simons Schriften, übertrugen dann aber meistens seine Beurteilung seiner Gegner auf die andern Gemeinden. In einer Denkschrift vom Jahre 1838 stellten sie ihre besondern Punkte auf, worin sie sich von den andern unterschieden.

1. Sie wollten strenge Gemeindezucht üben und hießen es nicht gut, unordentliche Brüder der mennonitischen oder russischen Obrigkeit zur Bestrafung zu übergeben.

2. Sie wollten überhaupt kein Amt bekleiden, daß sie nötigte, gewaltmäßige Polizeidienste zu thun.

3. Von Hochzeiten, Begräbnissen u.s.w. wollten sie fern bleiben, um da nicht Schaden an ihrer Seele zu nehmen. Denn auf den Hochzeiten, sagten sie, werde geraucht, getrunken, getanzt und Unsinn getrieben und manche Prediger machen eher mit, als daß sie dagegen auftreten. Auf den Begräbnissen aber werde dem Verstorbenen eine Lobrede gehalten und er werde selig gesprochen, wenn auch sein Leben ganz irdisch gewesen ist.

       Darum wollen sie von dem großen Haufen ausgehen, wie Paulus 2.Kor.5 lehrt und sich allein bauen. Sie wünschten ihren Ältesten von dem Ältesten der Gemeinde zu Halbstadt bestätigt zu bekommen. Dieser aber wollte ihnen darin nicht dienen. Jener übernahm somit sein Amt nur im Auftrag der andern Brüder. Sonst ging die Entwicklung dieser Gemeinde ohne besonderes Geräusch vor sich, indem sie nur negativ reformierte. Man beobachtete einen einfachen Kleiderschnitt und verurteilte jeden Luxus, verdammte das Rauchen, wollte von keiner Bildung etwas wissen und mied die kirchlichen Gottesdienste. In ihren eigenen Versammlungen wurden abgeschriebene Predigten vorgelesen. In vielen Fällen artete ihr Christentum in eine kraftlose Orthodoxie und einen fruchtlosen Pharisäismus aus, so daß ihnen eine lebenskräftige Einwirkung auf die Gesamtheit der andern nicht nachgerühmt werden kann.

        Der Kirchenkonvent. Wie in Chortitz, so wurden auch an der Molotschna die Ältesten der Gemeinden von dem Fürsorgekomitee und dem Gebietsamt zur Lösung schwieriger Fragen herangezogen. Die Schulen standen längere Zeit unter der Aufsicht der Ältesten und Prediger, welche dann hierüber mit den Behörden verkehrten. Das veranlaßte die Prediger der verschiedenen Gemeinden, auch zu einander gemeinschaftliche Beziehungen zu pflegen. Infolge ihrer teils friesischen, teils flämischen Richtung hatte das anfänglich Schwierigkeiten. Im Laufe der Jahre kam es jedoch zu gemeinsamen Konferenzen, auf welchen diese Eigentümlichkeiten übersehen wurden.

      Leider waren die kirchlichen Neubildungen mehr durch Zufall als in Übereinstimmung mit einer geschichtlich erwachsenen Gemeinschafts-organisation entstanden. Und auf diese Art gelangten auch die meisten Ältesten in den Gemeinden zu einer Art von monarchischer Stellung. Gegen den Ältesten etwas zu sagen, galt für eine mißliche Sache. In vielen Fällen nahm man auf den Gemeindeberatungen seine Vorschläge stillschweigend an. Von parlamentarisch geordneten Verhandlungen wußte man wenig. Somit waren wesentliche Züge des Gemeinde-Christentums nur sehr schwach vertreten.

       Daher wuchsen die Ältesten selbst in die Auffassung ihres Amtes hinein, als seien die wichtigsten kirchlichen Fragen vorzugsweise ihrer Entscheidung anheim gegeben. Das Gebietsamt begünstigte diese Ordnung der Dinge und so erklärten sich die Ältesten i.J. 1850 unter der Bezeichnung "Kirchenkonvent" für die oberste kirchliche Behörde der Gemeinden. Daß dieser Schritt einen gewissen staatskirchlichen Zug an sich trug, der sich mit dem demokratischen Prinzip unserer Gemeinschaft kaum verträgt, haben sie selber schwerlich gemerkt. So ein Stück Entwicklung ist eine Gesamtschuld, nicht ein Vergehen des einzelnen. In den kirchlichen Kämpfen der 60. Jahre war aber eine solche Verkümmerung der kirchlichen Verfassung wesentlich der Grund davon, daß dieselben nicht einen mildern Charakter trugen. Manche Verhandlungen wären anders verlaufen, wären einsichtsvolle Gemeindebrüder an ein Aussprechen ihrer Ansichten gewöhnt gewesen und hätte man parlamentarisch geartete Konferenzen einzurichten verstanden, um wichtige Fragen auf denselben zu erledigen.

Teil V

     Die Jerusalemsfreunde. Die Schriften dieser in Württemberg 1845 entstandenen, auf Vertiefung und allseitigen Ausgestaltung der christlichen lebensdringenden, Richtung fanden ihren Weg auch zu den mennonitischen Dörfern Südrußlands und hier bald eifrige Leser, besonders unter den Gebildeten und manchem unter diesen sind sie zum Segen geworden. Bald aber erkannte man auch die gefährliche Strömung, in welche diese Bewegung langsam einlenkte, indem sie das Christentum in bloßen Intellektualismus und äußere umsetzte. Schon ihre Forderungen, daß sich bei jedem Christen die Wundergaben der apostolischen Zeit zeigen müßten, daß ferner eine äußere Sammlung des Volkes Gottes im heiligen Lande ein wesentliches Stück Vorbereitung für das Kommen des Herrn sei, erschienen den tiefer Denkenden als Überspanntheiten, namentlich aber war es die summarische Art und Weise, in der die "Süddeutsche Warte" und andere Schriften der Jerusalemsfreunde die christliche Kirche verurteilten und Insonderheit die Heidenmission für einen bloß äußerlichen Aufzug derselben erklärten, was bei vielen große Bedenken gegen ihre Sache erregte. Somit gab es sehr lebhafte Erörterungen über alle diese Punkte in denjenigen Kreisen, wo man sich mit dieser Lektüre befaßte.

     Zu einer Krisis in der Bewegung kam es nun dadurch, daß zwei Gebrüder Lange sich in der Anstalt der Jerusalemsfreunde ausbilden ließen und darauf in einer in Gnadenfeld eingerichteten höhern Schule angestellt wurden. Die Ideen des "Tempels," wie sich die Richtung auch nannte, waren die ihr eigen geworden, namentlich aber dessen summarische Kritik über andere. Da sie für die geschichtlich gewordenen Schäden der Gemeinden keine entsprechende Urteilsfähigkeit befaßen, das vorhandene Gute aber nicht anerkennen und würdigen wollten, so versuchten sie, die Mennoniten im Sinne des Tempels zu reformieren, indem sie im Tempel das ideale Mennonitentum gefunden gaben wollten. Infolge ihres jugendlich hitzigen Treibens kam es zwischen ihnen und den kirchlichen Behörden zu sehr scharfen Auseinandersetzungen, welche sich leider sogar auf das bürgerliche Gebiet hinüberzogen.

  

        Kämpfe. In sehr pietätsloser Weise kritisierten die Gebrüder Lange das russische Mennonitentum ihrer Tage in den Zeitungen des In- und Auslandes. Sie behaupteten, daß sich die Mennoniten nur deshalb nach Menno Simon hießen, weil ihnen diese Bezeichnung äußere Vorteile bringe. Von den mennonitischen Grundsätzen wüßten die wenigsten etwas. Menno Simons Schriften seien schon den meisten Predigern unbekannt. Auf den Kanzeln würden meistens die abgeschriebenen Predigten lutherischer und anderer Theologe vorgelesen. Nur die Macht der Gewohnheit halte die Leute bei der väterlichen Gemeinschaft und nicht die persönliche Überzeugung. Die Bildung des Kirchenkonvents erklärten sie für einen Gewaltstreich der Ältesten, welche sich auf diese Weise eine Oberleitung über die Gemeinde verschaffen und sichern wollten, wie das Gebietsamt eine solche auf bürgerlichem Gebiet besitze. Zu einem Gesamtverband der Gemeinden sei es aber noch nicht gekommen, darum bestehe auch das Recht neuer Gemeindebildungen weiter. Von diesem Recht wollten sie Gebrauch machen und eine Art von Tempelgemeinde stiften. Das erregte natürlich scharfen Widerspruch. Einer der Gebrüder Lange hatte ein Mädchen lutherischer Konfession geheiratet, wollte sich aber bei den Mennoniten ankaufen.

     Da ihm die Dorfgemeinde das nicht erlaubte, so schloß er sich den Landlosen an und beteiligte sich an deren Bestrebungen und - Wühlereien, zog aber auch seinen religiösen Hader auf das bürgerliche Gebiet hinüber. Schließlich wurde er und seine Genossen bei der Regierung als unruhige und gefährliche Leute verklagt. Ein lutherischer Pastor beteiligte sich namentlich an dieser Geschichte. Lange mußte fünf Monate lang Zwangsarbeit verrichten und beschuldigte nun die mennonitischen Ältesten, daß sie ihn so ganz im Stich ließen. Er wurde freigesprochen. Er und seine Anhänger hielten es aber nun doch für geratener, auszusiedeln. Einige gingen nach Jerusalem; die meisten jedoch nach dem Kaukasus, wo sie bei Pjätigorsk eine blühende Kolonie schufen und sich namentlich durch ihr vorzügliches Schulwesen einen Namen machten. Leider sind auch sie meistens dem flachen Rationalismus anheim gefallen, in den der "Tempel" ausgelaufen ist. Daß sich die mennonitischen Gemeinden scharf von ihnen schieden, war daher natürlich. Es ist aber in den Auseinandersetzungen mit ihnen auch von kirchlicher Seite gesündigt worden.

 

        Pfarrer Wüst und seine Anregungen. Zu einer noch tiefer gehenden Bewegung als die eben geschilderte kam es in den Gemeinden durch die Wirksamkeit eines evangelischen Pfarrers, Wüst, in dem unweit Berdjansk gelegenen Dorf Neu-Hoffnung. Dieses war im Jahre 1822 von Württemberger Pietisten gegründet worden, welche im Anschluß an Auffassungen Bengels über die Offenbarung nach Rußland ausgewandert waren, um hier den Bergungsort der Gläubigen der letzten Zeit zu finden. Da sie den Mangel eines geschulten Geistlichen tief empfanden, so beriefen sie sich im Jahre 1845 den Kandidaten Wüst zu ihrem Pfarrer. Dieser war eine machtvolle Persönlichkeit, voll glühender Liebe zu Christo und schneidigem Eifer gegen alles halbierte Wesen im Christentum. Besonders war er aber auch mit einer reichen Gabe ausgestattet, geselliges Christentum zu pflegen. Unter seiner Leitung blühten in seiner Gemeinde Erbauungsstunden aller Art empor. Zu den von ihm eingerichteten Missionsfesten strömte man von nah und fern zusammen.

     Neue geistliche Lebensimpulse gingen von ihm auf alle benachbarten Gemeinden aus und auch mennonitische Kreise, besonders die Gemeinden in Gnadenfeld, ließen sich segensreich von ihm anregen. Er besuchte die Missionsfeste in Gnadenfeld und riß durch sein mit mächtiger Stimme vorgetragenes Zeugnis von Christo alles mit sich fort. Wüst lebte und webte besonders in der Lehre von der freien Gnade und der Erfahrung derselben am eigenen Herzen. Auch in den brüderlichen Zusammenkünften war sie das Thema, das immer wieder besprochen und besungen wurde. Auch in den mennonitischen Dörfern bildeten sich kleine Konventikel, wo bei Gesang und gegenseitigem Austausch von Ansichten und Erfahrungen viel Segen gewonnen wurde.

        Zu Trennungen, und zwar recht trauriger Art, kam es nun aber in den von Wüst geleiteten und beeinflußten Kreisen dadurch, daß die Lehre von der freien Gnade falsch aufgefaßt und ausgebeutet wurde. Sie wurde nämlich von einigen unedlen Wortführern dahin ausgelegt, daß sie jede ernste Heiligung überflüssig mache. Ja, es erhoben sich solche, welche dem geistlichen Leben eines Christen jeden Zusammenhang mit seinem natürlichen absprachen. Irgend welchen fleischlichen Begierden dürfte er sich ergeben, ohne daß sein Gnadenstand dadurch in Gefahr käme.

      Mehrere Vertreter solcher sittlich grundstürzenden Ansichten gerieten auf so schlimme Wege, daß sie dem Kriminalgericht in die Hände fielen. Anderen gingen wenigstens von Wüst ab und suchten sich auf eigene Hand kirchlich einzurichten. Das alles und sonstige trübe Erfahrungen erschütterten Wüst dermaßen, daß er eine schwere Krankheit fiel und im Jahre 1859 selig heimging. Wenn er die Heiligung auch nicht in seinen Predigten so allseitig betont hatte, wie es wohl hätte geschehen sollen, so hatte er sie doch in seinem Leben geübt und daher blieb er vielen seiner Freunde in dankbarem Andenken.

        Auch in den mennonitischen Gemeinden kam es in den in seinem Sinn geistlich bauenden Kreisen zu Trennungen von den andern. Es war natürlich, daß man in denselben die großen Schäden des mennonitischen Volkslebens erkannte und es gern anders haben wollte. Anstatt aber still und unverdrossen an einer geistlichen Belebung des ganzen mitzuwirken, meinten einige, sich von den andern sondern zu müssen und verlangten von dem Ältesten der Gnadenfelder Gemeinde, er solle ihnen allein das Abendmahl reichen. Als er ihnen das verweigerte, feierten sie es unter sich selbst und überreichten dann am 6. Januar 1860 den Ältesten der bestehenden Gemeinden eine Erklärung, in der sie ihren Austritt aus der gesamten Mennonitenschaft ankündigten, weil deren sündhaftes Leben zu Gott im Himmel schreie und sie selber befürchten müßten, die überkommenen Privilegien zu verlieren, wenn sie länger mitmachen würden. Deshalb sagen sie sich von den "verfallenen Kirchen" los, bekennen sich aber sonst zu den Lehren Menno Simons. Was sie dann als ihre besonderen Ansichten angaben, war eigentlich nichts Neues, sondern lag auch in dem Erkenntnisgehalt der andern Gemeinden ausgesprochen. Das Schriftstück war von 18 Brüdern unterschrieben. Ein Prediger gehörte nicht zu ihnen.

Teil VI

Bildung der Brüdergemeinde

     Von den meisten Ältesten und dem Gebietsamt scharf verurteilt und zum teil ungerecht bedrängt, schritten die Separatisten auf dem betretenen Wege eifrig weiter, bis sie mit der Bildung einer eigenen Gemeinde fertig waren. Genau gefragt, was sie eigentlich wollten, erklärten sie sich dahin, neben den andern Gemeinden eine eigene gründen zu wollen, - was zu der so scharf ausgesprochenen Sonderung von der "gesamten Mennoniten-Brüderschaft"; denn auch als eigene Gemeinde blieben sie ja so mit den andern in demselben kirchlichen und bürgerlichen Verbande, blieben eingegliedert in den allgemeinen Angelegenheiten und konnten so weder allgemeinen Verschuldung noch der allgemeinen Strafe entgehen. Eine Auswanderung nach einem ganz neuen Gebiet wäre die einzig richtige Konsequenz ihrer Erklärung gewesen. Sie kamen später teilweise dazu und gründeten eigene Dörfer am Kuban. Zunächst aber blieben sie alle in der Kolonie. Wegen ihrer selbständigen kirchlichen Funktionen in die Enge getrieben, gaben sie das Unrichtige der Sache zu und versprachen, mit der Ausübung der heiligen Handlungen zu warten, bis sie als eigene Gemeinde dazu eine obrigkeitliche Erlaubnis würden erhalten haben. Da aber eine solche so leicht nicht zu bekommen war, so konstituierten sie sich noch im Jahre 1860 als eine eigene Gemeinde unter der Benennung: "Mennoniten Brüdergemeinde", wählten eigene Prediger, welche ihr Amt im Auftrag der Brüder übernahmen und hielten in Privathäusern gottesdienstliche Versammlungen ab.

      So wichtig der Punkt war, den sie vertraten, nämlich - persönliche Heilserfahrung, so brachte sie denselben doch vielfach in sehr unnüchterner Weise zum Ausdruck. So berichtete der Älteste der Gnadenfelder Gemeinde über sie, daß sie in ihren Versammlungen ihre innere Freude durch Singen, Musicieren, Tanzen und Jauchzen in solch lärmender Weise bezeugten, daß es sich zuweilen gefährlich anhörte. Auch andere  Überspanntheiten verdeckten das Richtige, das sie vertraten, wie wenn bei der Fußwaschung die Brüder den Schwestern und die Schwestern den Brüdern die Füße wuschen oder junge, ungebildete und moralisch nicht lautere Leute als Apostel ihrer Sache ausgesandt wurden. Andere brachte die Bewegung dadurch in übeln Ruf, daß sie alle ihre Erbauungsbücher verbrannten und nur einige baptistische Sachen gelten ließen. Einige gingen sogar in die kirchlichen Versammlungen, um zu stören. Das alles trug ihnen den Vorwurf eines bloßen sektiererischen Treibens ein, ja mit der Bezeichnung "Hüpfer" auch Spott und Verachtung. Wenige nur gaben sich Mühe, zwischen dem guten Kern in der Sache und den Auswüchsen derselben zu unterscheiden. Das überspannte Treiben wurde beseitigt, sobald die Gemeinde besonnene Führer hatte.

 

        Die Stellung der meisten Ältesten und dann die des Gebietsamtes gegen die Separatisten war aber nicht richtig und gestaltete sich zu einem Kampf mit bürgerlichen Waffen gegen eine kirchliche Bewegung, was ja gegen die wesentlichsten mennonitischen Grundsätze geht. Daß man die weitgehende Verurteilung der bestehenden Gemeinde zurückwies, war ja natürlich; von wie vielen Bezeugungen der Gnade Gottes im Schul- und Jugendunterricht, an Kranken- und Sterbebetten konnten sie nicht Zeugnis ablegen! Aber die ersten Schriftstücke der von den andern sich trennenden Brüder bezeugen ja deren Mangel an Fähigkeit, geschichtlich gewordene Schäden richtig zu beurteilen. Sie zeigen halt den Radikalismus junger Christen, die schnell mit andern fertig sind und leicht undankbar gegen das Bestehende werden, das ihnen viel Segen gebracht hat. Trotzdem hat ihnen schwerlich ein aufrichtiger  Ernst in ihrem Christentum abgesprochen werden können. Viel Liebe und Nachsicht wäre hier sicherlich am Platz gewesen und sodann die volle Einräumung der bürgerlichen Freiheit, welche wir Mennoniten für die Übung unserer Gewissensüberzeugungen verlangen. Beides scheinen die meisten der Ältesten sehr übersehen zu haben. Ihr Vorgehen in der Sache trägt einen stürmischen und hochkirchlichen Charakter.

      Auf die erste Erklärung der Separatisten antworteten sie mit einer Verweisung der Angelegenheit an das Gebietsamt. Dieses nun, anstatt dieselbe als eine kirchliche abzulehnen, ging recht scharf darauf ein, versuchte gegen die Ausgetretenen das Gesetz über geheime Gesellschaften zur Anwendung zu bringen und drohte mit Verhaftungen. Die Sache ging zunächst an das Fürsorgekomitee in Odessa. Diesem reichten fünf der Ältesten ein Schriftstück ein, in welchem sie erklärten, daß sie die neue Gemeinde nicht für eine mennonitische anerkennen könnten und sie daher im Interesse des Friedens den Maßnahmen der Obrigkeit überlasse. Das Gebietsamt drang auf Ausschluß aus dem Kolonistenverband. Die Brüdergemeinde aber wußte auch bei den höhern Behörden in ihrem Interesse zu wirken, so daß ihr eine gewisse Duldung zu teil wurde.

 

        Johann Harder, Ältester der Gemeinde zu Orloff, unterschied sich in dieser Kontroverse durch seine besonnene und versöhnliche Stellung von den andern und widerlegte damit das Urteil der Separatisten über die bestehenden Kirchen, als ob sie ganz und gar verfallen seien. Er ließ sich nicht veranlassen, auf Berichte anderer hin, die ausgetretenen Brüder zu verurteilen, sondern besprach sich mit ihnen persönlich, wies ihnen in ihrem Vorgehen die Verletzung kirchlicher Ordnung nach und erklärte sich schließlich bereit, mit der einmal eingetretenen Separation vorlieb zu nehmen und die neue Gemeinde neben den andern gelten zu lassen. Er ließ ihre Versammlungen wiederholt besuchen und da fand man wohl manches Lebhafte und Eigentümliche, aber nichts, was gegen die eigentlichen mennonitischen Grundsätze stritt. Auch der Älteste der "kleinen Gemeinde" nahm gegen die Bewegung eine passive Stellung ein und billigte namentlich kein obrigkeitliches Vorgehen gegen dieselbe. Seine und Harders Erklärungen wurden jedoch zunächst vom Gebietsamt unterschlagen.

       Es gab viele Verhandlungen in dieser Sache bis hinauf zu den obersten Behörden in St. Petersburg. In allen ihren Schriftstücken stellte sich die neue Gemeinde als eine solche hin, welche das echte Mennonitentum zum Ausdruck bringen wollte im Gegensatz zu den andern, welche es nicht mehr hätten. Und die betreffenden Beamten müssen sich davon überzeugt haben, daß bei dem so ziemlich gänzlichen Mangel einer gemeinsamen kirchlichen Verfassung bei den Mennoniten derartige separatistische Erscheinungen unvermeidlich seien. Gutachten über die Sache, wie das des Pastors Dobbert von Prischip, fanden dann auch an der Bekämpfung der Bewegung vieles auszusetzen. Somit brannte die bürgerliche Opposition gegen dieselbe in sich selbst nieder. Sie zeigt aber, daß eine Gemeinschaft ihre eigenen Grundsätze mit Füßen treten kann, wenn sie nicht für eine genaue Kenntnis ihrer Bekenntnisse und ihrer Geschichte bei ihren Führern Sorge trägt.

 

        Als besondere Unterscheidungspunkte von den andern bezeichnete die Brüdergemeinde

1. ihre Taufpraxis. Anstatt die Taufe im 18. oder 20. Lebensjahr auf ein auswendig gelerntes Bekenntnis zu erteilen wie das, wie sie erklären, bei den andern Gemeinden geschieht, taufen sie nur auf ein vor der Gemeinde abgelegtes Bekenntnis einer persönlichen Heilserfahrung. Sie taufen sodann nur durch Untertauchung und erkennen keine andere Form an.

2. Ihre Kirchenzucht erstrebt die Ausübung der strengsten mennonitischen Auffassung derselben, indem alle, welche einen unordentlichen Wandel führen, von der Gemeinde ausgeschlossen werden.

3. Eine Rangordnung unter den Predigern erkennen sie nicht an, so daß nicht nur sogenannte Älteste die heiligen Handlungen vollziehen dürfen.

4. Zum regelmäßigen Besuch der Versammlungen und der Teilnahme am heiligen Abendmahl muß sich jeder verpflichtet betrachten.

       Man sieht bald, daß diese Stücke eigentlich nichts besonders Eigentümliches sind, sondern nur das betonen, was auch die andern Gemeinden in schärferer oder milderer Fassung als ihr Erkenntnisgut betrachten. Auf einen auswendig gelernten glauben soll z.B. auch hier eigentlich keiner getauft werden. Die Haupttrennungslinie zwischen sich und den andern bildete die neue Gemeinde in ihrer Taufform heraus. Als sich ihr im Jahr 1860 einige Glieder anschließen wollten, welche noch nicht getauft waren, gelangten sie durch das Lesen der heiligen Schrift und einiger von Klassen aus St. Petersburg mitgebrachten Bücher sowie durch das, was Menno Simon über diesen Punkt sagt, zu der Ansicht, daß die Untertauchung die einzig richtige Form der Taufe sei. Da sie aber selber so nicht getauft waren, so vollzogen ein Prediger und ein Gemeindebruder die Handlung in dieser Form an einander und dann an den andern. Über diesen Punkt gab es viele und oft peinliche Verhandlungen. Hätte man mehr über mennonitische Geschichte gewußt, so wäre der Taufmodus unwichtiger geblieben, da die Mennoniten verschiedene Taufformen zulässig gefunden haben. Die neue Gemeinde irrte, wenn sie ihre exklusive Stellung als mennonitisch ansah. Die Form die heiligen Handlung überläßt unsere Gemeinschaft der Erkenntnis der einzelnen Gemeinde.

 

        Die Beziehung zwischen der neuen Gemeinde und den alten waren daher recht gespannt. Die Schuld davon lag auf beiden Seiten. Die Brüdergemeinde blieb ihrem der Obrigkeit eingereichten Begehren, neben den andern eine Gemeinde zu bilden, im Grunde nicht treu, indem sie durch ihren exklusiven Taufbegriff ihre heiligen Handlungen für die allein richtigen erklärte. Sodann verstieg sie sich in ihrer Kritik über die andern Gemeinden zu den denkbar schärfsten Ausdrücken, wie denn ihr 1876 von ihr herausgegebenes Glaubensbekenntnis mit der polemischen Bemerkung eingeleitet wird, daß das gesamte mennonitische Volk ein "geistig" erstorbenes sei, was schon sprachlich ein Unsinn ist. Zudem war ihr Wirken nach außen oft derart, daß die Beschuldigung oft Grund hatte, es sei dasselbe mehr Parteitreiben als ein Werben für Christum und sein Reich. Ein Übertritt zu ihnen wurde oft zu einem peinlichen Bruch mit segensreichen Familienbeziehungen emporgeschraubt, der sich mit der wahren Demut und der tragenden Liebe eines Christen nicht deckte. An letzterem Punkt fehlte es aber auch bei den andern Gemeinden.

      Zu langsam fand man sich mit der Separation ab. Wie weit freilich so ein Verzweiflungsakt, in der Art eines Bruches mit dem Bestehenden und der Gründung eines neuen kirchlichen Gemeindewesens, so daß alle amtlichen Fäden durchgerissen werden, entschuldigt werden kann oder gar nötig wird, muß wohl dem Herrn der Kirche anheim gestellt bleiben. Normal kann er nicht heißen. Aber, nachdem er geschehen ist, sollten doch die gemeinsamen Verbindungsfäden zwischen beiden Teilen wieder aufgesucht werden, um die Einheit im Geist zu pflegen. Zunächst hätte man die neue Gemeinde in ihrer Besondernheit anerkennen sollen. Die andern Gemeinden bildeten ja große Parochien mit oft wenig gesellschaftlichem Halt des einen am andern und entschiedener Vorliebe für steife Kirchlichkeit. Warum hätte sich nicht eine Gemeinde anderer Art auch mit einer andern Taufform bilden dürfen für solche, welche dafür Bedürfnis hatten und sich bei einer andern nicht beruhigen konnten! Aber der unserer Gemeinschaft eigentümliche Toleranzbegriff war den russischen Mennoniten überhaupt sehr verloren gegangen und alle haben unter diesem Mangel gelitten. Auf beiden Seiten wurde die brüderliche Liebe derart verletzt, daß es zu einer neuen Gesamtschuld unseres Volkes kam.

 

        Die weitere Entwicklung der Brüdergemeinde gestaltete sich recht günstig für sie, nachdem die Extravaganzen der ersten Zeit abgestreift worden waren und die Obrigkeit die Bewegung zunächst auf sich beruhen ließ. Die große Freiheit der kirchlichen Erbauung zog viele an; denn hier war es mit irgend welcher steifen Kirchlichkeit zu Ende. Gebildete und reiche Leute schlossen sich ihr an. In der Molotschnakolonie wurde das Dorf Rückkenau ihr Mittelpunkt, wo sie sich eine große Kirche erbauten. Kleinere Versammlungshäuser richtete man in andern Dörfern ein. Auch in der alten Kolonie, in Chortitz, kam es zur Bildung so einer Gemeinde, welche sich zu den andern in scharfen Gegensatz stellte, ja, sie als ein Babel u.s.w. bezeichnete. Sie ließ sich von dem bekannten Baptistenprediger Onken, der damals in Süd-Rußland umherreiste, bedienen und ihren Ältesten, Unger, ordinieren.

       Zu den Baptisten trat die neue Richtung überhaupt in intimste Beziehung. Deren Bücher, wie die "Glaubensstimme" wurden allgemein gebraucht und mit ihnen ohne weiteres Abendmahlsgemeinschaft unterhalten. Die Übereinstimmung mit ihnen in dem Punkt der Taufform ließ den weit wichtigern Bekenntnispunkt von der Wehrlosigkeit gänzlich auf sich beruhen. Es trug freilich die Beziehung zu den Baptisten der Brüdergemeinde manchen Gewinn ein. Deren Bädecker u.a. kamen zu ihnen und hielten segensreiche Versammlungen ab. Zudem konnten ihre jungen Brüder sich auf dem Predigerseminar zu Hamburg für den Dienst an den Gemeinden vorbereiten. Ja, einzelne begabte Prediger der Brüdergemeinde traten sogar zu den von Paschkoff in St. Petersburg angeregten Bewegungen in persönliche Beziehung und brachten dadurch den heimatlichen Kreisen manche Anregung. Solche Freizügigkeit nach außen hin mit Abweisung irgend welcher brüderlichen Beziehung zu andern mennonitischen Gemeinden, namentlich in der ersten Zeit, machte es der Brüdergemeinde aber nicht leicht, russischen Beamten gegenüber, welche sie auf den Verdacht hin untersuchten, daß sie eigentlich Baptisten seien, ihr Mennonitentum zu erweisen. Ja, einigermale hieß es schon, sie würden den Baptisten gleich gestellt werden.

        Mit der Hauptschwierigkeit der russischen Mennoniten hat die Brüdergemeinde noch nicht gerungen - also mit dem Umstand daß die russische Regierung das Mennonitentum als Volkskirche behandelt und dieses sich so behandeln läßt. Und wie es anders könnte, weiß sicherlich nicht leicht jemand zu sagen. Je persönlicher aber die Brüdergemeinde sich mit diesem Punkt auseinander zu setzen haben wird, um so versöhnlicher werden auch sie und die alten Gemeinden einander wieder nähe rücken. Die Brüdergemeinde zählt gegenwärtig (im Jahre 1901) an 2000 Glieder.

 

        In der Krim, in dem Dörfchen Annenfeld, kam es ausgangs der sechziger Jahre ebenfalls zu einer Separation von den alten Gemeinden. Es entstand hier eine Erweckung und die Betreffenden konnten sich ohne eine nochmalige Taufe in der Form der Untertauchung nicht beruhigen. Einer von ihnen, Jakob Wiebe, war ein Prediger der "kleinen Gemeinde." Er ließ sich von einem Gemeindebruder nochmals taufen und taufte dann die andern. Die neue Gemeinde konstituierte sich in scharfem Gegensatz zu den alten, obschon deren Prediger sie auf den Heilsweg geführt hatten, verweigerte aber auch den Gliedern der andern Brüdergemeinde wegen geringer Unterschiede die Abendmahlsgemeinschaft. Infolge ihrer lokalen Isoliertheit blieb sie unangefochten. Im Jahre 1874 wanderte sie nach Amerika aus.

 

        In den alten Gemeinden ging es aber auch mit religiösen Erneuerungen stetig voran. Manche ihrer Ältesten und Prediger waren recht tüchtige Männer, so Lenzmann von Gnadenfeld, Sudermann von Berdjansk, Harder von Orloff. Mit Vorliebe wählte man die Lehrer an den Dorfschulen zu Predigern, welche oft sehr passende Kenntnisse für das geistige Amt mitbrachten. Ein solcher war Bernhard Harder, der als Erweckungsprediger und Liederdichter Bedeutendes leistete. Er war ein feuriger Zeuge, ähnlich wie Pfarrer Wüst. Und seine Lieder füllen einen stattlichen Band. Manche der von ihm Angeregten traten der Brüdergemeinde bei. Im Laufe der Zeit eigneten sich aber auch die alten Gemeinden manches von dem an, was diese Richtiges vor ihnen voraus hatten. Die Missionsfeste der Gnadenfelder Gemeinde gestalteten sich sodann zu immer reicheren Segensquellen und andere Gemeinden richteten sie auch ein, - so bald die zu Alexanderwohl. In Gnadenfeld fand sich auch der erste Jüngling, der sich persönlich der Mission weihte - Heinrich Dirks. Er studierte in Barmen und ging 1869 nach Sumatra. Seine Abschiedsreden in den Gemeinden daheim weckten viel Interesse für die heilige Sache in weiten Kreisen.

Teil VII

Bemühungen um die Erhaltung der Wehrfreiheit

 

        Befürchtungen. Daß das Staatswesen Rußlands dem hochgehenden militärischen Fortschritt seiner westlichen Nachbarländer folgen werde, mußte jeder erwarten, der sich mit Geschichte beschäftigte, - und ebenso, daß damit manche, den eingewanderten Kolonisten verliehenen Privilegien, ganz aufgehoben oder wenigstens sehr beschnitten werden würden. Daß die vielen Ausnahmegesetze für die Eingewanderten den russischen Staatsmännern mit der Zeit lästig wurden, ersah man an vielen Vorfällen. Natürlich blieben sich viele derselben auch nicht lebhaft dessen bewußt, wie viel Süd-Rußland durch die deutsche Einwanderung gewonnen hatte. Vielmehr zeigte sich in weiten Kreisen der russischen Bevölkerung ein entschiedener Neid gegen den Deutschen, den "Njemetz", der so viele Vorteile genoß und so manche Staatslast nicht zu tragen hatte. Angesichts solcher Gesinnungen bemühten sich auch die Mennoniten durch besondere Leistungen der russischen Krone und dem russischen Volke zu zeigen, sie seien willig, das für den Staat zu thun, was nicht gegen ihr Gewissen ging. So eine Gelegenheit gab es während des Krimkrieges 1854. Sie entsandten reich beladene Proviantwagen nach der Krim und leisteten dort durch den Transport von Soldaten der Regierung bedeutende Dienste. Und in einer besondern Adresse sprach der Kaiser Alexander II. den Mennoniten seinen Dank dafür aus.

       Daß aber trotzdem auch sie zu gewissen militärischen Leistungen würden herangezogen werden, mußte sich jedem als wahrscheinlich aufdrängen, der mit offenem Auge die europäischen Kriegsrüstungen beobachtete. Als nun im Jahre 1870 die Nachricht auch die mennonitischen Kreise durcheilte, daß in der Hauptstadt ein allgemeines Wehrgesetz ausgearbeitet werde, da kamen allen Nachdenkenden die ernstesten Besorgnisse um die Erhaltung des väterlichen Bekenntnispunktes. Nun erwies sich der Kirchenkonvent als eine praktische Einrichtung, besonders auch dadurch, daß sich nicht nur Älteste, sondern auch Prediger und auch Gemeindebrüder daran beteiligten. Das ermöglichte eine Art gemeinsamer Vertretung der Gemeinden. Der Kirchenkonvent beschloß, Delegaten nach der Hauptstadt zu senden und bei der Regierung um die Erhaltung der Befreiung vom Militärdienste einzukommen.

 

        Die Deputation nach St. Petersburg macht ihre Reise im Februar des Jahres 1871. Dieselbe wurde von den meisten der hohen Beamten freundlich empfangen und auch ihrem Anliegen brachte man lebhaftes Interesse entgegen. Der Kriegsminister sprach sehr anerkennend über die Dienste, welche die Mennoniten dem Reiche während des Krimkrieges geleistet hätten. Sie aber von eigentlichen militärischen Verpflichtungen ganz frei zu lassen, würde doch in Zukunft nicht gehen, meinte er, wenn die Regierung nicht den andern Bürgern gegenüber ungerecht erscheinen wolle. Einer der Minister äußerte sich mißbilligend darüber, daß die Mennoniten nicht in der russischen Sprache mehr daheim seien, obwohl sie schon so lange im Lande wohnten. Ein Anderer fragte einen der Deputierten, den Ältesten L. Sudermann, was er im Falle eines Krieges thun würde. Dieser erwiderte ihm: "Ich würde meinem Feinde entgegen gehen, ihn umarmen und mich mit ihm versöhnen, aber ihn nicht töten." Der hohe Herr lächelte. Eine besondere Auszeichnung war es für sie, beim Großfürsten Nikolai eine Audienz zu erhalten. Dieser sagte ihnen, daß man ihr Gewissen schonen und sie daher Sanitätsdienste thun lassen werde, das aber erst nach 25 Jahre. Auf die Bemerkung der Deputierten, daß so ein Dienst als eine formelle Einreihung in das Kriegswesen wider ihr Bekenntnis gehe, meinte er, ihr Gewissen werde ihnen doch wohl erlauben, einen verwundeten Soldaten zu pflegen. Darauf erlaubten sich die Deputierten zu erwidern, daß so ein Dienst als gezwungener doch etwas anderes sein als ein eigentlicher Liebesdienst, daß die Leute in diesem Teil der Kriegseinrichtung ja auch ein Seitengewehr tragen müßten und daß bei einer Beteiligung daran ihre Gemeindezucht hinfallen würde. Der Großfürst sagte ihnen darauf, sie sollten dem Lande nun auch nützen, nachdem sie in demselben so viele Wohlthaten genossen hätten. Die Deputierten erklärten sich im Namen ihrer Gemeinden zu jedem Opfer bereit, das nicht gegen ihr Gewissen ging. Darum möchte ihnen die russische Regierung doch ihre bisherigen Privilegien erhalten. Die Audienz beim Großfürsten endete kühl. Einer der Minister sagte ihnen ganz offen, daß sie sich ein anderes Land suchen müßten, wenn sie für den Staat nichts leisten wollten.

 

        In einer Denkschrift legten die Deputierten, dem Wunsch des Ministeriums gemäß, den Bekenntnispunkt der Gemeinden bezüglich der Wehrlosigkeit nieder, ehe sie zurück reisten. In derselben sagten sie, daß unser Herr Jesus Christus, als der im Alten Testament verheißene Friedenskönig in diese Welt gekommen sei, um hier ein Reich des Friedens aufzurichten und seine Jünger als Friedenskinder sich erweisen zu lassen. Daher müßten diese alle die Dinge meiden, welche mit dem Wandel ihres erhabenen Vorbildes nicht stimmten. Obschon nun auch das Kriegführen im Altes Testament einige Male geboten worden sei, so habe doch der Herr Jesus seinen Nachfolgern jede Rache an ihren Feinden so entschieden untersagt, daß sie sich eine Teilnahme am Kriegsdienst nicht erlauben könnten. Die betreffenden Worte des Herrn seien aber noch das Glaubensbekenntnis der Mennoniten. Daher dürften sie nicht das Schwert ziehen, sondern müßten eher leiden und dulden. In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen hätten sich die Vorfahren der jetzigen Mennoniten von jeglicher Beteiligung am Kriegsdienst fern gehalten und lieber Haus und Hof verlassen, als ihr Bekenntnis verletzt. Ohne ihr Zuthun sei ihnen in Rußland ein Asyl eröffnet worden, wo sie sicher ihres Glaubens hätten leben können und noch dazu im Irdischen reich gesegnet worden wären. Wollte der Herr sie nun auch einer Läuterung und Sichtung ihres Glaubens unterwerfen, so hofften sie, daß er auch das Herz Sr. Majestät des Kaisers so lenken werde, daß ihre bisherige Gewissensfreiheit würde erhalten bleiben.

 

        Auswanderung nach Amerika

Die Berichte der Deputierten und weitere Nachrichten aus St. Petersburg ließen alle Nachdenkende erkennen, daß für die Mennoniten in Rußland eine neue Zeit im Anzuge sei und daß es mit ihrer Sonderstellung zu Ende gehe. Mehrere obrigkeitliche Verfügungen zeigten dieses klar. Das Fürsorge-Komitee in Odessa wurde gestrichen und Gebietsämter wurden unter direkte russische Verwaltung gestellt. Im amtlichen Verkehr wurde die deutsche Sprache nicht mehr geduldet. In allen Schulen wurde die Erlernung des Russischen obligatorisch. Wo der so begonnene Russifizierungsprozeß seine Grenzlinie bekommen werde, war natürlich nicht vorauszusehen. Ob es nicht schließlich die Erhaltung des Mennonitentums, ja des Protestantismus kaum möglich lassen werde, wurde vielen eine ernste Frage.

      Ganz natürlich kam man da zu dem Gedanken an eine Auswanderung. Und als der einzige Ort, wo man in der bisherigen Weise fortzuleben hoffen konnte, mußte die neue Welt erscheinen. Von den Verhältnissen der Mennoniten in Amerika wußte man wohl nur wenig, suchte aber jetzt eifrig weiteres darüber zu erfahren. Besonders ein Herr Janzen in Berdjansk leisteten den in dieser Sache Interessierten in dieser Hinsicht wertvolle Dienste. Eien im Sommer 1873 nach Nordamerika entsandte Deputation brachte aus persönlicher Anschauung vielseitige Berichte über die amerikanischen Verhältnisse zurück und so rüsteten sich im nächsten Winter Hunderte von Familien zur Auswanderung. Zu halbem Preis und niedriger wurden die Wirtschaften losgeschlagen. Aus der Molotschnakolonie zog beinahe die ganze Gemeinde zu Alexanderwohl fort, denen sich viele aus den andern Gemeinden anschlossen. Aus dem Mariupoler Kreis wanderte die Bergthaler Gemeinde aus; ebenso viele Familie aus der Krim. Die ersten größeren Gruppen nahmen im Juli 1874 Abschied von der geliebten Heimat. Die Abschiedsszenen gestalteten sich zu tiefgreifenden Ereignissen. Manches Familienband wurde da zerrissen. Auch die Mennoniten in Wolhynien und Polen zogen größtenteils fort. Es sind in den Jahren von 1874-1880 an 15,000 Mennoniten aus Rußland ausgewandert. 

 

Der Staatsdienst der russischen Mennoniten

 

     Die Mission des Generals v. Totleben. Die Energie, mit welcher die Auswanderer ihre Sache betrieben und namentlich um ihre Pässe wirkten, machte die Presse auf diese Bewegung aufmerksam. In den in- und ausländischen Zeitungen wurde darüber berichtet. Und auch in den höhern russischen Beamtenkreisen nahm man Notiz davon. Zudem hatte eine Bittschrift des Kirchenkonvents den Kaiser erreicht. Dieser sprach mit einem seiner bedeutendsten Strategen, General von Totleben, über die beabsichtigte Auswanderung im Süden seines Reiches. Totleben soll ihm gesagt haben, wenn die Mennoniten auswandern, so werden ihre schönen Dörfer in kurzer Zeit wieder zu Steppen.

      Um nun die Auswanderung aufzuhalten, wurde er selbst vom Kaiser zu den mennonitischen Kolonien entsandt. In Chortitz und in Halbstadt setzte er den zusammengerufenen kirchlichen und bürgerlichen Behörden derselben die Gesinnungen des Kaisers über sie auseinander, wie derselbe sie dem Reiche zu erhalten wünsche, ihnen ihre kirchlichen Freiheiten erhalten wolle, aber dem neuen Stande der Dinge entsprechend nicht anders könne, als von ihnen einen persönlichen Staatsdienst zu verlangen. Um nun aber ihr Gewissen zu schonen, solle ihnen derselbe in einer Weise eingerichtet werden, welche sie gar nicht mit dem eigentlichen Kriegswesen verbinde, sondern es ihnen ermögliche, ihre Jünglinge zusammen zu halten und nach ihrer Eigenart kirchlich zu pflegen. Die Erscheinung des hohen Gesandten und seine Eröffnungen waren für die Mennoniten Überraschungen und in warmen Worten sprach man ihm den Dank aus für sein Interesse an der Sache. Sodann eilten die Behörden heim, um sich mit den einzelnen Gemeinden zu beraten und bestimmte Beschlüsse zu fassen.

 

        Übernahme des Forstdienstes. Totleben offerierte den Gemeinden im Namen des Kaisers drei Arten der Ableistung des obligatorischen Staatsdienstes - 1. in den Werkstätten der Marine; 2. bei der Feuerwehr in den Städten und 3. im Forstbau. Die letzte Art erschien den Mennoniten natürlich als die vorteilhafteste, indem sie am leichtesten die Vereinigung der jungen Leute in Gruppen und ihre kirchliche Pflege möglich machte. Somit überreichten die Behörden dem hohen Gesandten im Namen ihrer Gemeinden eine Erklärungen, in der sie sich zur Übernahme des genannten Staatsdienstes verpflichteten - dieses aber mit dem Vorbehalt, daß ihre Schulen unter ihrer eigenen Beaufsichtigung blieben und daß ihnen die Freiheit zur Auswanderung gewahrt würde, sollten später die Militärgesetze geändert werden. Bezüglich der Schulen wurde noch bemerkt, daß man in denselben für die Erlernung des Russischen nach Kräften sorgen werde.

     Dem Kaiser aber wurde eine Dankschrift übersandt, in welcher die Gemeinden die gewährten Begüngstigungen aufs wärmste anerkannten und ihre Anhänglichkeit an das verehrte russische Kaiserhaus und die liebgewonnene Heimat aussprachen. Diejenigen, welche sich für die Auswanderung rüsteten, waren in ihrem Projekt schon so weit verfestigt, daß sie sich auf eine genaue Erwägung einer Änderung ihres Planes nicht mehr gut einlassen konnten. Auch Totlebens Schilderungen der Strapatzen des amerikanischen Pionierlebens schreckten sie nicht ab. In einer Denkschrift aber sprachen sie ihre Dankbarkeit aus über die in Rußland genossenen Wohlthaten.

 

        Einrichtung des Forstdienstes. Mit dem Jahre 1880 war der Zeitpunkt für die Errichtung des übernommenen Staatsdienstes gekommen. Die russischen Beamten verhandelten mit den Vorständen der Gemeinden in freundlicher Weise über die Sache. Die einzelnen Punkte der getroffenen Vereinbarungen mit der Regierung zeigen aber, wie gewissenhaft die mennonitischen Vertrauensmänner dafür gesorgt haben, daß den jungen Leuten alle möglichen Vorteile für die Wahrung ihres konfessionellen Standpunktes gesichert wurden.

      So wurde festgesetzt, daß die Mennoniten eigene Wahlbezirke bildeten, daß die Dienstzeit vier Jahre währen solle, daß nur vier Forsteien eingerichtet würden, daß auf jeder derselben ein mennonitischer Prediger die Beaufsichtigung der jungen Leute übe, und daß diesen kirchliche Pflege und Gelegenheit zur Fortbildung geboten werde. Die Erbauung der nötigen Kasernen bestritten die Kolonien aus eigenen Mitteln und gaben dafür an 150,000 Rubel aus. Im ganzen dienen jährlich an 500 Jünglinge auf diesen Forsteien und der Kostenaufwand kommt den Kolonien jährlich auf etwa 70,000 Rubel zu stehen. Es ist der Forstdienst natürlich eine saure Arbeit, - nach streng militärischer Disciplin. Im ganzen sind die Einrichtungen aber derart, daß nicht schon verdorbene junge Leute kaum einen religiösen und sittlichen Verlust dabei erleiden müßten.

Teil VIII

Die neueren wirtschaftlichen Verhältnisse

        Der Ackerbau ist in allen Kolonien der Haupterwerbszweig geworden, seitdem durch Schiffe und Eisenbahnen das Getreide nach allen Richtungen hin verschickt werden kann. Während in den 30. Jahren das Tschwetwert Weizen (6 Bushel) kaum einen Rubel preiste, wird es heute für 10 Rubel und mehr verkauft. Daher ist auch die Schafzucht so ziemlich ganz eingegangen und die großen Schäfereien der Kolonie sind in Pflugland verwandelt worden, das zu Gunsten der Kasse für den Ankauf weiterer Ländereien verpachtet wird. Ebenso ist der in den 50. Jahren in Blüte stehende Seidenbau so ziemlich ganz gesunken und die für diesen Zweck angelegten Maulbeerwaldungen veröden langsam. Auch die Viehzucht besitzt nicht mehr das Interesse wie früher. Getreidebau ist die Losung geworden. Auf den großen ebenen Feldern lassen sich auch die einheimischen und ausländischen Erntemaschinen vortrefflich verwenden. An Arbeitskraft herrscht kein Mangel, indem während der Sommerzeit die Russen in Scharen aus den nördlicheren Gegenden den deutschen Ansiedlungen im Süden zuströmen, um hier für oft geringen Lohn die Feldarbeit zu besorgen. Dieser Umstand macht es möglich, daß mancher mennonitische Bauer sich so eine gewisse herrschaftliche Art erlauben darf, in seiner Kutsche fährt und selber nicht zu arbeiten braucht.

 

        Industriewesen. Aus dem kleinen Handwerkerbetrieb hat sich in manchen Industriezweigen ein schwunghaftes Fabrikwesen entwickelt, wo die Dampfkraft einen großen Teil der Arbeit verrichtet. Chortitz z.B. ist ein förmliches Fabrikdorf geworden, wo Hunderte von russischen Arbeitern wohnen, welche hier in den großen Werkstätten, in welchen landwirtschaftliche Maschinen hergestellt werden, lohnenden Verdienst finden. Sämtliche Eigentümer dieser Fabriken sind Mennoniten. Der russische Bauer fährt auf deutschen Wagen, pflügt mit deutschem Pfluge und hat den Ackerbau nach deutschen Grundsätzen zu betreiben gelernt. Dampfmühlen finden sich in vielen Dörfern und die alten Tritt- und Windmühlen gehen ein. In Halbstadt befindet sich eine große Stärkefabrik, eine Druckerei, eine Eisengießerei u.s.w. Das haben sich die Pioniere dieser Ansiedlungen schwerlich träumen lassen, daß jene stillen Thäler sobald der Wiederhall des modernen Industriewesens durchklingen würde.

 

      Gemeinsame Einrichtungen höchst nützlicher Art sind im Lauf der Jahre getroffen worden, welche von dem auf das praktische Christentum gerichteten Geist unseres Volkes sehr vorteilhaft Zeugnis ablegen, ebenso der umsichtigen Verwaltung der Kolonialinteressen seitens der mennonitischen Behörden alle Ehre machen. So wurde bald nach der Gründung der Kolonien eine Teilungsordnung ausgearbeitet, welche den Mennoniten bis jetzt von der russischen Regierung belassen wurde. Ebenso setzten die Kolonien ein eigenes Waisenamt ein, das für die Waisenkinder sorgt und deren Erbteil verwaltet. Das ihnen gehörende Geld wird während ihrer Minderjährigkeit zu 6 Prozent ausgeliehen; dem Kapital wird aber nur 5 Prozent gut geschrieben. Aus dem einen Prozent ist im Laufe der Jahre ein Reservekapital von 120,000 Rubel erwachsen, dessen Zinsen Schul- und andern Zwecken dienen. Ebenso hat man aus festgesetzten Abgaben und freien Beiträgen eine Armenkasse gebildet. Zu Tiege an der Molotschna ist eine Taubstummenschule errichtet worden; ebenso sind Hospitäler gegründet worden. Auch bilden die Kolonien eine gegenseitige Feuerversicherungs-Gesellschaft, so daß bei den betreffenden Unglücksfällen prompte Hilfe vorhanden ist. Diese Einrichtungen zeigen, wie verständnisvoll die russischen Mennoniten den Charakterzug unseres Bekenntnisses erfaßt haben, welcher auf Bewährung des Christentums im sozialen Leben dringt.

 

        Weitere Ansiedlungen sind ebenfalls im Laufe der letzten Jahre in rascher Aufeinanderfolge gemacht worden. So gründete man 1884 eine neue Niederlassung im Gouv. Jekaterinoslaw, zu Memrik. Im J. 1891 wurde sodann eine neue Kolonie zu Orenburg gegründet, östlich von der Wolga. Hier kaufte man 20,000 Desjatinen zu 34 Rubel per Desjatin. In neuester Zeit sind weitere große Landkomplexe weiter im Süden erworben worden, so am kaspischen Meer und am Kuban. Diese immensen Landankäufe werden von den Behörden gemacht. Sodann wird das Gebiet zu Dörfern ausgemessen, wo landlose Familien zu sehr vorteilhaften Bedingungen sich ansiedeln können. Das gibt dann immer geschlossene Kolonien, in denen nur Mennoniten wohnen mit dem ihnen eigentümlichen gesellschaftlichen und kirchlichen Halt aneinander. Sogar an den Pionierleben, welches sich längs der transibirischen Eisenbahn entfaltet, beteiligen sich die Mennoniten recht lebhaft. So ist in letzter Zeit viel Grundbesitz in der Nähe von Omsk in mennonitische Hände übergegangen.

 

 

Die neueren kirchlichen Ereignisse

 

        Die "Auszugsgemeinde". Die thatsächliche Übernahme eines gewissen Staatsdienstes im J. 1880 wurde von einigen Predigern und Gemeindebrüdern als ein Abweichen von dem Bekenntnisstandpunkt der Väter empfunden und rasch bildeten sich an der Molotschna sowie auch an der Wolga Gruppen, welche aus dieser Lage herauszukommen sich bemühten. Unter den Brüdern an der Wolga wußte sich ein gewisser Claas Epp Bedeutung zu verschaffen, indem er eine Schrift über Daniel und die Offenbarung verfaßte, in der er die gesamte Christenheit als dem Verderben anheim gefallen erklärte und ankündigte, daß in den nächsten Jahren der Herr kommen werde, um sein Reich zu vollenden und daher sei es die Pflicht seiner wenigen wahren Kinder, als seine Brautgemeinde nach dem in der Offenbarung erwähnten Bergungsort zu flüchten. Derselbe sei aber nicht im Westen zu suchen, sondern im Innern Asiens. Obschon das Werk den Verfasser als einen höchst mangelhaften Autodidakten verrät, so imponierte es doch durch die Bestimmtheit seiner Behauptungen vielen in den Gemeinden, welche sonst nüchtern und besonnen waren. Es schafften sich um Epp an der Wolga an 100 Familien und ebenso viele sammelten sich an der Molotschna um einen Ältesten Peters. Letztere separierten sich zu einer eigenen "Auszugsgemeinde". In einer Erklärung über diesen Schritt sagten sie, daß, da Christus der Seinen König ist, dieselben keiner Staatsgewalt dienstbar untergeordnet stehen, auch nicht in der gelindesten Form. Im vollkommenen Reiche Christi bedarf es keiner weltlichen Gesetze. Andererseits heißt es auch wieder, daß sie die bestehende Obrigkeit anerkennen, daß sie aber kein obrigkeitliches Amt irgend welcher Art bekleiden wollen. Sie beschuldigten die andern, daß diese durch Übernahme des Staatsdienstes Landeskinder geworden wären; sie dagegen wollten nur geduldete sein; denn Rechte geben auch Pflichten. Da ihr Ziel nach dem Inneren Asiens stand, so sandten sie Deputierte nach Turkestan ab, und obschon diese dort keine festen Verhältnisse vorfanden, so entschloß man sich doch, dorthin auszuwandern, einen Weg von 6000 Werst. Sehr traurig war es, daß die neuen Auswanderer die Dableibenden überaus scharf verurteilten, sie als Babel u.s.w. bezeichneten und zwischen Eltern und Kindern, Verwandten und Freunden höchst peinliche Spannungen herbeiführten. Die russische Regierung aber hatte für ihre Bitten kein Ohr, ihnen dort volle Freiheit von jeglichem Staatsdienste zu garantieren und schließlich reisten sie ab, ohne über diesen Punkt zur Klarheit gekommen zu sein, - trotz allen privaten und öffentlichen Warnungen.

 

        Ansiedlung bei Taschkend und in China. Unter vielen Mühseligkeiten erreichten die einzelnen Gruppen Taschkend. Man machte die Reise per Wagen. Manche wurden vom Winter überrascht und hatten viel zu leiden. Eine Reihe Kinder erlagen den Strapatzen. Die Gegend um Taschkend steht nun wohl erst seit kurzem unter russischer Herrschaft, und Militärzwang ist dort noch nicht eingeführt, aber kein Beamter konnte ihnen versprechen, daß sie bei Einführung allgemeiner Rekrutenpflicht frei ausgehen würden. Sonst begünstigte man eine mennonitische Niederlassung. Etwa die Hälfte der Ausgewanderten entschloß sich, dort zu bleiben und um dieselben Freiheiten zu bitten, welche ihre Brüder daheim besaßen. Sie zogen 200 Werst nordwestlich von Taschkend und gründeten bei Aulienta mehrere Dörfer. Die andern wollten von so einem matten Ausgang der Sache nichts wissen, da ihnen jeder Staatsdienst als eine Verleugnung ihres Bekenntnisses erschien. Auf speziellen Beistand des Herrn wartend, zogen sie in Buchara hinein, wurden aber auf das Geheiß des Emirs zurückgetrieben. Darauf ließen sie sich auf einem Grenzstreifen nieder und begannen sogar den Bau von Erdhütten. Abgesandte Soldaten warfen jedoch eine Reihe derselben zu, beschädigten die andern und hießen sie fortziehen. Trotzdem bestand man darauf, hier bleiben zu wollen, als dem vom Herrn ihnen angewiesenen Bergungsort. Zu lange, meinten einige, hätte man sich schon um weltliche Behörden gekümmert. Die Lage wurde jedoch eine verzweifelte, und so suchten manche noch einen Ausweg. Eine von einem russischen Beamten hingeworfene Bemerkung, sie sollten nach China gehen, erschien einigen wie ein Fingerzeig von oben, und so ging die Gruppe in zwei Teile auseinander. Auf Kamelen reitend, vorbei an tiefen Abgründen, und dann den Amur auf Schiffen hinabfahrend, gelangte der eine Teil nach China. Aber die auf der Grenze zurückgebliebenen kamen auch bald zu der Einsicht, daß sie sich wohl eher etwas vom Herrn ertrotzen wollten, als daß sie unter seiner unmittelbaren Leitung ständen, und so zogen auch sie langsam nach China. Hier nahm sie der Chan bereitwillig auf, natürlich ohne weiteres als seine Unterthanen, was sie verpflichtete, gewisse Tage im Jahre für ihn zu arbeiten. Sie legten leider ihre Ansiedlungen zuerst auf zu niedrigem Lande an, so daß sie bald umbauen mußten. Dann aber fiel das dortige Raubgesindel über sie her, schlug ihre Häuser ein, nahm das Wertvollste mit, trieb die Pferde fort und wollte auch Frauen und Mädchen entführen. Einige Männer wurden sogar erschlagen und andere verwundet. In vielen Fällen hätten die feigen Rotten mit einigen Peitschenhieben verjagt werden können, aber die Ansiedler blieben hier ihrem Grundsatz von der Wehrlosigkeit bis auf den Buchstaben getreu und sahen oft ruhig zu, wenn die Turkomanen Kisten und Körbe ausraubten. Auch hier wurde die Lage eine verzweifelte, und viele kamen zu der Einsicht, daß sie eigene Wege gegangen seien, und so nahmen sie gerne die Hand der Hilfe an, welche ihnen von amerikanischen Brüdern geboten wurde. An 30 Familien blieben jedoch in China und ließen sich ein einem dem Chan gehörenden Garten nieder. Epp blieb bei ihnen und verstieg sich zu den überspanntesten Phantastereien; er wollte lebendig in den Himmel fahren. Die guten Leute wollten hier bei Ack Metsched einige Jahre rasten und dann weiter ziehen. Letzteres hat sich jedoch noch nicht machen lassen. Ihr Lage ist kümmerlich. Die Lehmwände des Gartens sind nachgerade verfallen und die Aprikosenbäume abgestorben. Der Boden ringsherum gesteht aus Sumpf und Sand und muß künstlich bewässert werden. Sie haben zusammen an fünf Desjatinen gutes Land zu Kartoffel- und Gemüsebau, müssen dafür aber hohe Pacht zahlen. Im Jahre 1899 waren es 37 Familien, die dort wohnten. Sie hausen zusammen auf einem Hof in niedrigen, ungesunden Lehmhütte. Ihre Seelzahl betrug 140, auf dem Kirchhof lagen 132. Das enge Zusammenleben ist für die Jugend höchst nachteilig. Das Volk des Landes ist sittlich tief verkommen. Die Ansiedler verkaufen ihnen Handarbeiten - Tischler- und Strickwaren.

 

Abschluss

Nachwort

    Sehr naturgemäß ist diese eigentümliche Auswanderungsgeschichte recht verschieden beurteilt worden. Die Entschlossenheit dieser Leute, für ihr Bekenntnis jedes Opfer bringen zu wollen, stach einerseits merklich ab von der Gleichgültigkeit und Bequemlichkeitssucht, in der so viele mennonitische Kreise ihre angestammten Eigentümlichkeiten fahren lassen. Andererseits mußte sich jedoch jedem Tieferdenkenden die Einsicht aufdrängen, daß die Bewegung an Überspanntheit litt. Das zeigte die scharfe, summarische Beurteilung aller andern, in der sich viele dieser Emigranten gefielen; ebenso der Fanatismus anderer, welche alle Erbauungsbücher verbrannten, besonders aber die drei Haupterkenntnispunkte, in welchen sie zunächst alle überein stimmten:

1. Sie seien die Brautgemeinde der letzten Zeit;

2. Asien sei der Bergungsort derselben;

3. Jetzt, gerade jetzt, sei die Zeit der hereinbrechenden Vollendung des Reiches Gottes.

     Das sind Sätze, welche, sich als höchst angreifbar ausnehmen im Blick auf die vielen, treuen Jünger Christi in nicht mennonitischen Kreisen, dann darauf, daß es noch nicht ausgemacht ist, ob der betreffende Bergungsort lokal zu fassen ist oder nicht, 1.Matth. 24, 31 und schließlich darauf, daß zu genaue Zeitberechnungen im Widerspruch mit den Worten des Herrn stehen. Jedenfalls haben viele dieser Ausgewanderten durch ihre schweren Erfahrungen manche Förderung ihres innern Lebens gewonnen; trotzdem aber kann eine nüchterne Beurteilung meistens nur negative Lehren aus der ganzen Bewegung ziehen. Das wären hier:

1. Ein zu hoch gehendes kirchliches Selbstbewußtsein rächt sich bitter durch die Erfahrung eigener Schwachheiten. So standen sich die Glieder der Auszugsgemeinde in Asien bald so scharf gegenüber, daß sie sich untereinander die Seligkeit absprachen.

2. Wir sollen auch nicht über Gottes Wort hinauswollen. Das lehrt uns ein Tragen anderer, welche den eigenen Erkenntnisgrad noch nicht haben.

3. Ein Christ hat seine Wehrlosigkeit nicht soweit auszudehnen, daß er nicht mithelfen sollte, dem Bösen in der Welt, um ihn herum Schranken zu ziehen.

4. Es ist überaus wichtig, daß wir uns eine richtige Erkenntnis biblischer Wahrheiten aneignen. Es war viel Irrtümliches in den Auffassungen, für welche die Auszugsgemeinde so große Opfer brachte.

    Viele büßten ihr Vermögen ein, - und weiter denke man an die Reisestrapatzen, denen Frauen und Kinder erlagen, und dann an die Entbehrung geordneter kirchlicher Verhältnisse bei so vielen, welche eher andern folgten, als eigene Festigkeit in der Sache besaßen. Schwer haben sie und ihre verwandtschaftlichen Kreise daheim dafür gebüßt, daß die Gemeinden in Rußland eben so wie die Mennoniten sonstwo meistens zu lässig dafür gesorgt haben, daß unserm Volk ein allseitiger Unterricht in der Heilslehre dargebracht würde. Wie leicht können schwach und schief gebildete Autodidakten bei den Mennoniten zu einer Führerrolle kommen und mit Geld und Vermögen operieren, das wahrlich oft besser verwendet werden könnte. Endlich rächte sich in der asiatischen Auszugsgemeinde auch der Irrtum, daß die Mennoniten infolge ihrer staatlichen Sonderstellung ohne weiteres einen alle andern überragenden Teil der Kirche bilden. Zu sehr meinte man, von vorherein das schon zu sein, was man noch erst zu erstreben hatte.

 

      Das Missionsinteresse

ist in den letzten 30 Jahren sehr erfreulich gewachsen. Im Jahre 1881 kehrte Missionar Dirks von Sumatra zurück und übernahm das Ältestenamt an der Gemeinde zu Gnadenfeld und den Posten eines Missionsreisepredigers. Dadurch kam es in der Missionssache zu einer wesentlichen Verjüngung und Belebung. In allen Gemeinden, auch da, wo man früher von so etwas nichts wissen wollte, wurden nun Missionsfeste gefeiert und es entwickelte sich eine rege Opferwilligkeit für die Not der Heidenwelt, besonders bei manchen der zu bedeutendem Vermögen gelangten Gutsbesitzer. Ebenso fanden sich junge Kräfte, welche sich persönlich dem heiligen Werke zur Verfügung stellten und in Barmen, Chrischona und in Holland für den Missionsdienst vorgebildet wurden.

        Im ganzen haben sich die alten Gemeinden an das taufgesinnte Missionskomitee in Amsterdam angeschlossen und dieses operiert schon seit Jahren vorwiegend mit russischen Arbeitern und russischem Gelde. Im Jahre 1888 ging Missionar Nikkel nach Sumatra; im Jahre 1889 Missionar Wiebe auch nach Sumatra. Er legte eine neue Station bei Muari Sipongi an. Im Jahre 1888 ging Missionar Fast nach Java. Er heiratete eine Tochter des alten holländischen Missionars Jantz. Im Jahre 1893 folgte ihm Missionar Hübert und 1899 Missionar Klassen. Somit stehen auf Java drei und auf Sumatra zwei russische Missionare.

      Die Brüdergemeinde schloß sich in ihrem Interesse für Heidenmission mehr den Baptisten an. Von ihnen ging Missionar Friesen nach Britisch-Indien und legte bei Nalgonda eine eigene Station an. Obschon geschäftlich mit der Behörde der amerikanischen Baptisten-Mission verbunden, baut er hier doch mit gutem Erfolg eine Gemeinde nach mennonitischen Grundsätzen auf. Auch aus Amerika geht ihm Unterstützung zu. Den Gemeinden daheim ist aber aber durch ihre rege Beteiligung an der Missionssache viel Segen erwachsen, - viel Anregung, auch für die eigene kirchliche Versorgung mehr Opfer zu bringen.

 

        Die Bundeskonferenz. Es lag in der Natur der Sache, daß sich die verschiedenen mennonitischen Gemeinden in Süd-Rußland, in Polen und an der Wolga zu einer gewissen Gesamtkörperschaft vereinigten, um ihre gemeinschaftlichen Interessen zu besprechen und namentlich der Regierung gegenüber dieselben einheitlich zu vertreten. Im Jahre 1883 traten die Ältesten und Prediger aller Gemeinden zu einer "Bundeskonferenz" zusammen, welche seitdem jährliche Sitzungen abhält und deren Beamte die Mennoniten in Rußland der Regierung gegenüber zu repräsentieren haben. Damit kam der seit 1850 existierende "Kirchenkonvent" zum Abschluß. Aber auch in der neuen Konferenz haben Gemeindebrüder keine Stimme, ein Beweis, wie sehr den russischen Mennoniten der umfassende Begriff des Gemeindechristentums abhanden gekommen ist. Auch sonst nimmt sich der Parlamentarismus der Verhandlungen nur dürftig aus. Um so sympathischer dagegen muten uns die grundlegenden Beschlüsse der ersten Sitzung an. Da heißt es, in den Hauptsachen wolle man Einheit pflegen, in den Nebensachen dagegen Freiheit lassen. Die gegenseitige Gastpredigt wurde sehr empfohlen. Gläubige Christen anderer Konfessionen, heißt es, wolle man gern als Geschwister im Herrn anerkennen, es aber dem Gewissen eines jeden anheim geben, wie weit er mit ihnen Gemeinschaft pflegt und etwas mit ihnen das heilige Abendmahl unterhält. Dem Jugendunterricht soll besondere Sorgfalt zugewendet werden. Eine theologische Lehranstalt wird sehr entschieden angestrebt. Jungen Leuten, welche mit ihrem Staatsdienst noch nicht im reinen sind, wird vom Heiraten abgeraten, und solchen die Trauung verweigert, welche im aktiven Dienst stehen, um so nicht gegen die Gesetze verstoßen. Vergnügungen, welche einem heiligen Leben zuwider sind, sollen nicht erlaubt sein - als Kartenspielen, Polterabendscherze, unanständiger Gesang und unpassende Deklamationen, Tanzen und das Abfeuern von Schießgewehren. Ausgeschlossene Brüder sollen in keiner Gemeinde Aufnahme finden. Besondere Schwierigkeiten machen der Konferenz die Forsteien und die kirchliche Versorgung der Jünglinge auf denselben, indem es namentlich oft recht schwer ist, zwischen der kirchlichen und bürgerlichen Disciplin die richtige Linie festzustellen. Man sieht, wie rege sich die Konferenz mit den Pflichten der Selbsterhaltung der Gemeinden beschäftigt und wie sich in ihr eine hoffnungsreiche Verjüngung kirchlicher Interessen Bahn bricht. Offiziell gehört die Brüdergemeinde der Bundeskonferenz noch nicht an.

 

      Das Schulwesen lag bis um 1870 so ziemlich ganz in den Händen mennonitischer Beamten. Im J. 1881 ging seine Leitung jedoch in direkt russische Aufsicht über. Nur der deutsche und religiöse Unterricht wird von einer Vertrauensperson der Gemeinden überwacht. In jedem Dorf und Thutor befindet sich eine Volksschule, welche von einem fachmäßig vorgebildeten Lehrer geleitet wird, welcher in deutscher und russischer Sprache Unterricht erteilt. Der Schulbesuch ist obligatorisch bei allen Kindern vom 7. bis 14. Lebensjahre. Die einzelnen Schulen zählen bis zu 100 Schülern. An einigen derselben sind auch schon neben den deutschen russische Lehrer angestellt und da die Anstellung der Lehrer wesentlich in den Händen des russischen Inspektors liegt, so steht eine Erweiterung dieser Einrichtung in Aussicht. Die Lehrer an den Dorfschulen haben Wohnung, Gartenland und etwa 500 Rubel Gehalt per Jahr. Die Schulzeit im Jahr beträgt 8 Monate. Für höhere Bildung sorgen Centralschulen mit einem 3jährigen und für die spezielle Heranbildung von Lehrern ein Pädagogium mit einem noch zweijährigen Kursus. Auf beiden Schulen ist etwa ein Drittel der Zeit dem deutschen Unterricht eingeräumt, so daß deutsche Sprache und Litteratur, ebenso biblische Geschichte, Bibelkunde und Kirchengeschichte in einer, deutschen Lehrseminarien ähnlichen Art, getrieben werden kann; ebenso die speziell pädagogischen Zweige. Die Lehrer an diesen Schulen sind auf Seminarien und Universitäten Deutschlands und der Schweiz vorgebildet. Manche unter ihnen, wie Lenzmann, Neufeldt, Unruh, haben sich bereits große Verdienste um das Schulwesen der Kolonie erworben. Auch der russische Unterricht an diesen Schulen wird teilweise von mennonitischen, auf russischen Universitäten vorgebildeten Kräften, erteilt, - so von Neufeldt in Chortitz. An Gehalt beziehen diese Lehrer jährlich von 1000-1200 Rubel. An allen Schulen sind Stipendium für arme Schüler eingerichtet, welche sich durch die Benutzung derselben nur verpflichten, der Kolonie etwa 6 Jahre als Lehrer zu dienen. Wer den Kursus der Hochschule absolviert, gewinnt dadurch Vorteile bei der Ableistung des Staatsdienstes. Viel Sorge um ihr Schulwesen machen den Gemeinden die recht schnell auf einander folgenden obrigkeitlichen Verfügungen, welche oft die Deutschen und religiösen Interessen der Schule übersehen. Auch die Erlaubnis zur Errichtung einer theologischen Schule ist noch nicht erhalten worden. Zudem wird in manchen Familien das Russische stärker gepflegt, als es im Interesse der Gemeinden vorläufig ersprießlich ist; denn zunächst ist die kirchliche Zukunft der Mennoniten in Rußland noch mit der Pflege der deutschen Sprache eng verwachsen.

 

        Ueberblicken wir die Geschichte der russischen Mennoniten, so notieren wir folgende besondern Züge derselben:

        1. Zunächst bildet das Mennonitentum in Rußland eine Fortsetzung des preußischen und trägt daher, wie dieses, auch heute noch manchen Zug holländischer Art an sich. In kirchlicher Beziehung war es längere Zeit von den preußischen Gemeinden abhängig. Von dort erhielt es Rat und Weisung; ebenso manche gebildete Lehrer und Prediger. Zur evangelischen Kirche Rußlands unterhielten die Gemeinden so gut wie gar keine Beziehungen. Sie standen also nach außen hin recht abgeschlossen da, und das bewirkte bald kirchliche Monotonie.

        2. Von Anfang an trug das mennonitische Gemeinwesen in Rußland fast mehr einen kolonial-wirtschaftlichen Charakter an sich als einen kirchlichen. Ihr Wirtschaftsbetrieb machte von sich reden; ihre Kultur mehr als ihr Kultus. Die eingegangene Verpflichtung, nicht nach außen hin zu wirken, gab ihm etwas Konventikelhaftes und trug dazu bei, das religiöse Interesse in den Hintergrund zu schieben.

        3. Die Sonderstellung der Mennoniten in Rußland mit den auf die natürliche Nachkommenschaft sich vererbenden Privilegien schuf aus ihnen von vornherein eine Art Volkskirche. Somit mußten die kirchlichen Riten auch einen bürgerlichen oder staatlichen Wert erhalten, eine Einrichtung, welche den fundamentalsten Grundsätzen unserer Gemeinschaft widerspricht. Daher wurden die Glaubensbekenntnisse im praktischen Leben sehr abgeschwächt. Da sie aber theoretisch zu Recht bestanden, so kam es zu Reaktionen recht heftiger Art in den separatistischen Bewegungen, ohne daß man mit diesem Punkt ins reine gekommen ist.

        4. Als Volkskirche lagen die russischen Mennoniten aber für die in den mennonitischen Bekenntnissen und Traditionen ruhenden sittlichen Lebenskräfte ein schwerwiegendes Zeugnis ab. Wie selten eigentlich - wo - stand ein Mennonit vor dem Kriminalgericht! Was christliche Familiensitten und ein moralische gesunder Ton im Dorfleben für eine Macht sind, das beweisen die sittlichen Zustände in den mennonitischen Kolonien. Auch da ist leider vieles nicht richtig, auch da ist Unzucht und Unehrlichkeit und viel Jagen nach irdischem Gut zu finden, - aber für solche Dorfgeschichten, wie sie Horn und Glaubrecht geschrieben haben, ist hier wenig Material aufzutreiben.

        5. Für den ganzen Süden Rußlands sind die mennonitischen Kolonien ein Segen geworden. Schon äußerlich. Tausende von Russen haben hier Brot und Verdienst gefunden, haben hier arbeiten und wirtschaften gelernt. Tausend von Bettlern sind hier gespeist und gekleidet worden - und werden das heute noch. In dieser stillen Weise, die Gott sehen und lohnen wird, haben viele den Trieb, nach außen hin dem Herrn zu dienen, in geräuschlosester Weise zum Ausdruck gebracht und Missionsarbeit edler Art gethan.

        6. Für den Bekenntnispunkt der Wehrlosigkeit haben die russischen Mennoniten große Opfer gebracht. Ihn nicht anzutasten, blieben sie von Staatsämtern fern, wo andere Deutsche zu so hoher Auszeichung gekommen sind. Das tiefe Bewußtsein von diesem Erkenntnisgut wirkte sich sodann aus in der Massenauswanderung nach Amerika, ein Ereignis, das der ganzen gebildeten Welt diese Eigenart der Mennoniten vorführte, indem alle Zeitungen davon Notiz nahmen. Und die Dortgebliebenen legen heute noch durch ihren mit vielen Opfern verbundenen Forstdienst davon Zeugnis ab, wie zäh sie an diesem Grundsatz festhalten. Da nun die amerikanischen Mennoniten wegen dieses Punktes keine Belästigung erfahren, die holländischen und süddeutschen ihn aber fallen gelassen haben und die preußischen nur noch wenig daraus machen, so stehen die russischen Mennoniten in dieser Hinsicht recht eherwürdig da und verdienen sicherlich die Sympathie aller ihrer Gesinnungsgenossen.

        7. Die Art und Weise, wie die russischen Mennoniten nach manchen Zwisten in dieser Hinsicht, die Versorgung ihrer armen Familien, und dann der jüngern Generation überhaupt, betreiben gelernt haben, zeigt einen unserer Gemeinschaft wesentlich inhärierenden Zug des praktischen Christentums, der ihnen zur besonderen Zierde gereicht. Was man sonst als eine neu entdeckte Forderung des kirchlichen Lebens hinstellt und als eine besondere Auswirkung der christlichen Religion bespricht, das üben unsere russischen Brüder geräuschlos als eine selbstverständliche Sache. Mit Recht dürfen sie in dieser Beziehung als ein Vorbild erscheinen.

        8. Infolge der mangelhaften Freiheit in Rußland, auf dem Gebiet der Schule und Litteratur zu wirken, sind die russischen Mennoniten bezüglich ihrer kirchlichen Versorgung wesentlich vom Auslande abhängig. Ihre kirchlichen Kräfte müssen vielfach im Auslande gebildet, manche ihrer kirchlichen Interessen in ausländischen Zeitungen besprochen werden. Das wird sein Gutes haben, muß aber mit der Zeit die eigene Eigentümlichkeit bedrohen. Der Eintritt kirchlicher Zerfahrenheit und Verschwommenheit muß da befürchtet werden. Es wird auch für die dortigen Gemeinden keine leichte Sache werden, die ererbten confessionellen Eigentümlichkeiten zu bewahren.

        9. Die Möglichkeit besonders, daß die russischen Mennoniten im Laufe der Zeit das Deutsche verlieren und die russische Sprache als Verkehrs- und schließlich auch als Kirchensprache werden gebrauchen müssen, schließt Fragen und Aufgaben in sich, die sich jetzt noch nicht übersehen lassen. Wie dem gesamten Protestantismus in Rußland, so gilt namentlich auch den dortigen Mennoniten die Mahnung: "Halte, was du hast, damit niemand deine Krone nehme."

 

Statistik (1901)

 

Behufs allgemeiner Orientierung sei hier die in letzter Zeit erreichte Statistik unserer Gemeinden beigefügt:

                                                                              Glieder

In den Niederlanden zählen die Gemeinden               ca ....40,000

In West- und Ostpreußen zählt man 19 Gemeinden mit

                                                                                        ca .....6,800

In den norddeutschen Städten 11 Gemeinden mit     ca .....1,400

In Süddeutschland an 40 Gemeinden mit                   ca .....3,800

In der Schweiz an 9 Gemeinden mit                             ca ...... 800

In Frankreich an 6 Gemeinden mit                                ca ...... 900

 

In Rußland zählt man an 42,000 getaufte Glieder der mennonitischen Gemeinschaft. Davon wohnen die meisten im südlichen Rußland, etwa 1800 an der Wolga, an 400 in Russisch-Polen, an 1000 bei Orenburg, 500 bei Aulieta und 100 in China.

 

Die Mennoniten in Amerika werden auf 140,000 geschätzt. Hier fehlt es (im Jahre 1901) aber an einer zuverlässigen Statistik.

Ende

 

P.S.

-  Ich fand dieses Buch im Internet unter dem Namen: 

"Die Geschichte der niederländischen, preußischen und russischen Mennoniten", 1901, von Cornelius H. Wedel.

Das gesamte Werk kann hier runtergeladen werden.

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