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Erinnerungen aus dem alten und neuen Rußland

 

Von C. MARTENS, 1929 veröffentlicht
 

Teil I

Vorwort des Autors

    Das vorliegende Buch berichtet von Erfahrungen meines Lebens aus dem alten und neuen Rußland (Der Autor bezieht sich hier auf das Russland der Kaiserzeit und dieses "neue" seit dem Kommunistischen Umsturz von 1917, vor damals 12 Jahren). Um des Evangeliums willen habe ich sowohl unter der alten wie unter der neuen Regierung Verfolgungen erleiden dürfen, indem ich zu allen Zeiten versuchte, nach dem Maße der mir anvertrauten Kraft dem russischen Volk die Botschaft des lebendigen Evangeliums zu bringen. Ich habe erfahren dürfen, wie die Kraft des Wortes Gottes den Grund legt für den Dienst an hungernden Menschenseelen, und wie dasselbe Wort Kraft und Gnade spendet, wenn man trostbedürftig ist und Tage des Kampfes und der Not erleben muß. Die Kraft lebendigen Glaubens- und Siegeslebens liegt in der evangelischen Bewegung in Rußland, wie einst, so auch in der Gegenwart.

     Es ist mir nicht leicht geworden, das geliebte Rußland im Alter von 52 Jahren zu verlassen und im Auslande mir eine neue Heimat suchen zu müssen. Es mußte sein. Mein Wunsch und mein Gebet ist, daß diese Berichte den Lesern ein Ansporn sein möchten, in allen, auch den schwierigsten Lebenslagen sich als treue Nachfolger des Herrn Jesu zu erweisen. Auch wenn selbst der eigenen Person Schwierigkeiten drohen, Verfolgung und Kampf auf der Seele lasten, so wollen wir dennoch den Schwachen, Müden, Gestrauchelten in dienender Liebe und Fürbitte zurechthelfen und den Menschen sagen, daß alle wahre Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit nur in Christus begründet ist. Es gilt das Leben wagen, nicht für eine Idee, so groß und schön sie auch sei, sondern für die Wirklichkeit des kommenden Gottesreiches. Darum gilt auch nur Ihm mein Ruhm.

     Mit der ringenden und kämpfenden Gemeinde Gottes warte ich auf die Zukunft des Tages des Herrn nach der Verheißung des Propheten Jesaja 35,10: „Die vom Herrn in Freiheit Gesetzten werden heimkehren und mit Jubel nach Zion gelangen, und ewige Freude wird ihr Haupt umschweben; Wonne und Freude wird ihnen zuteil werden und Kummer und Seufzen entfliehen".[Menge]

     C, J, Martens

 

 

KINDHEIT

 

     Südrußland war in früheren Zeiten eine gewaltige Ursteppe. Hohes, fast undurchdringliches Gras wucherte in üppiger Fülle auf der fruchtbaren Schwarzerde und bot reiche Weide für die Herden der Nomadenvölker. Wilde Tatarenstämme jagten auf feurigen Rossen über die Weiten, als deren unumschränkte Herren sie sich fühlten. Nach jahrhundertelangen Kämpfen fand diese Freiheit ein Ende, als die Schwarzmeergebiete unter die Herrschaft Rußlands kamen. Grollend zogen sich die Tataren als Besiegte in ihre Aulen (Tatarendörfer) zurück, um später zum größten Teil ihre Heimat zu verlassen und zu ihren Stammverwandten, den Türken, überzugehen.

    Katharina II, unter deren Regierung diese Säuberung beendet wurde, rief deutsche Ansiedler ins Land, um die Steppen urbar zu machen. Harte Arbeit wartete derer, die ihrem Ruf folgten. Die Kolonisten, die mit großen Hoffnungen, genährt durch Versprechungen, die nicht gehalten wurden, ihr Werk begonnen hatten, erlebten schwere Enttäuschungen.

     Aber durch Zähigkeit und Fleiß gelang es ihnen doch, große Gebiete innerhalb kurzer Zeit zu verwandeln, und heute ist in jener Gegend nichts mehr von der Ursteppe zu finden. Wer vor dem Kriege durch den Süden Rußlands fuhr, war erstaunt über den Reichtum, den er dort vorfand. Dörfer in lauschigem Grün, große, schöne Wohnhäuser, von blühenden Gärten umgeben, fast fürstliche Güter mit prächtigen Parkanlagen — das alles stach überraschend ab von den Gegenden die ausschließlich von Russen bewohnt waren. Pflüge wühlten die Schollen auf, und Mähmaschinen schnitten das reiche Korn. Unzählige Leiterwagen, von Ochsen und Pferden gezogen, fuhren die Garben ein. Auf jedem Hof brummte die Dreschmaschine wochenlang ihr eintöniges Lied. Scheune und Ställe bargen einen ansehnlichen Reichtum. So grüßten den Reisenden überall Oasen deutscher Kulturarbeit.

    Auch im Gebiete des Dnjepr waren Ansiedlungen entstanden. Die Landschaft ist hier nicht eben, sondern Hügel und Täler wechseln miteinander ab. Der gewaltige Strom windet sich durch die Felsen, bildet schäumende Wasserfälle und ist oft sehr reißend. Auch hier gelangten die Kolonien zu großer Blüte, aber die Arbeit war weit schwerer, als in den anderen Schwarzmeergebieten, und die Ansiedler hatten hier lange mit bitterer Armut zu ringen.

    Im Dorf Baratow, einer Ansiedlung im Gouvernement Jekaterinoslaw, wurde ich im April 1876 geboren. Meine Eltern waren sehr arm, aber fleißig und redlich. Sie halfen auf den umliegenden Gütern bei den Feldarbeiten und erhielten dafür einen Teil der Ernte als Lohn. Die Einnahmen reichten kaum zum Leben, und so lernte ich früh Entbehrungen kennen.

     Als ich acht Jahre alt war, zogen meine Eltern auf das Gut meines Onkels. Mit neun Jahren wurde ich zur Schule gebracht. Diese war in einem fünf bis sieben Kilometer entfernten Dorf, und in regnerischen Zeiten und im Winter war der lange Weg sehr beschwerlich. Aber der Vater lernte ein Pferd an und setzte mich darauf, und nun jagte ich jeden Tag durch die Steppe. Wenn ich bei der Schule angelangt war, ließ ich das Pferd allein wieder nach Hause traben.

     Ich wurde ein sehr wilder und ungezogener Knabe. Das Leben in der Freiheit wilde Ritte und Abenteuer, die Ungebundenheit des Landlebens zog ich dem Zwang der Schule weit vor. Das Treiben der Jugend in der Ansiedlung war auch nicht dazu angetan, mich zum Guten anzuleiten. Vielleicht waren es die Härten der ersten Ansiedlerjahre, die das pulsierende göttliche Leben, das die Vorväter gekennzeichnet hatte, in vielen Herzen erkalten ließ — ich weiß es nicht — jedenfalls waren im religiösen Leben unserer Gemeinde nur starre Formen der Überrest, und so fehlte in der Erziehung der Kinder der veredelnde Einfluß des Gotteswortes. Große Verirrungen konnten bei den sonst so frommen Deutschen geschehen. Ein Fall machte einen besonders tiefen Eindruck auf mich. Unser Großvater rief eines Tages alle seine Kinder zusammen, um ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen, und meine Eltern nahmen mich mit.

     „Kinder”, sagte er, „meine Tochter Katharina und ihr Mann sind verrückt geworden. Sie lesen morgens und abends in der Bibel, und wie es mir scheint, wollen sie zu den Frommen gehen." Dieser Ausspruch prägte sich mir tief ins Herz ein. Wie hing das zusammen? Verrückt und fromm sein und die Bibel lesen?

     Im zweiten Schuljahr begann der Religionsunterricht. Wie horchte ich auf! Jesus liebt die Sünder und ließ sich ans Kreuz nageln, um uns zu erretten, und man sollte nicht von ihm in der Bibel lesen? Eifrig saß ich über dem Buch, in dem die biblischen Geschichten standen, und las und las. Die Wangen glühten, und wenn niemand es sah, drückte ich die Bilder in aufwallender Begeisterung ans Herz.

    Aber trotz der tiefen Eindrücke, die das Wort Gottes auf mich machte, blieb ich ein wilder und gewalttätiger Knabe, der seinen Eltern viel Herzeleid bereitete. Der rauschende Dnjepr, Täler, Wälder und Gebüsche lockten zu tollkühnen Abenteuern mit den Kameraden, und ich war allen voran. Nichts fürchtend, unternahm ich einsame, weite Streif Züge in die Umgegend und kannte jeden Weg und Steg. Dann wurde ich noch während meiner Schulzeit Hirte und verbrachte Tage und Nächte in der Freiheit.

     Sehr gefährlich waren in der Steppe in den heißen Sommertagen die vielen giftigen Schlangen, große Tiere, die oft eine Länge bis zu drei Metern erreichten, und es war mir eine Lust, sie aufzusuchen. Einmal traf ich einen ganzen Haufen aufeinander geringelt, und ich wurde, als ich sie störte, so scharf von ihnen verfolgt, daß ich ihrem Giftbiß kaum entfliehen konnte.

     Nur mit Mühe gelang es mir, eine von ihnen zu erschlagen und die anderen zu vertreiben. Eines Tages geriet ich bei meinen Streifzügen während des Schafehütens in große Gefahr. Wie es geschah, weiß ich nicht, jedoch plötzlich umgab mich eine Schar blutgieriger Iltisse (auf Portugiesisch "furão", siehe Bild und Erklärung hier). Ich schrie laut um Hilfe und schlug mit dem Schäferstab um mich. Einige Hirten, die in der Nähe waren, hörten meinen Angstruf und eilten herbei, um die Tiere zu verscheuchen».

    Oft mußte ich auch während der Nächte im Freien bei den Schafen bleiben. Ich liebte diese Nächte. Der Mond leuchtete klar, unzählige Sterne flimmerten und blinkten am Nachthimmel, die Luft war rein und die Kühle nach der Tageshitze so erfrischend. Ich wanderte dann weit, die Schafe meinen Hunden überlassend, und meine Brust dehnte sich in zügellosem Freiheitstaumel.

     An eine solche Sommernacht in der Steppe denke ich noch heute. In Rußland hat jeder Bauer seine „Barschtan", ein großes Feldstück, auf dem er seine Melonen, Wassermelonen, Gurken und Kürbisse und auch Mais zieht. Diese Früchte gedeihen prachtvoll und die durststillenden Melonen sind in den heißen Sommermonaten sehr beliebt. Um die außerhalb der Dörfer liegenden Barschtanen vor Dieben zu schützen, werden immer mehrere zusammen durch einen Wächter bewacht. In einer Hütte wird Stroh auf die Erde gestreut, das ihm zur Lagerstätte dient, und das Essen bringen ihm die Kinder. Auch ich wurde eines Tages als Wächter über die Barschtanen meines Onkels angestellt und freute mich sehr darüber, denn es war für einen heranwachsenden Knaben natürlich sehr interessant und lockend, ganz allein auf der Steppe zu bleiben. Mutig bezog ich meine Hütte. Als es dunkel wurde, verließen die Arbeiter singend die Felder und zogen ins Dorf. Ich setzte mich in den Eingang der Hütte und sah, wie der letzte Lichtschimmer am Himmel verschwand, hier und dort ein Sternlein aufblitzte und die Mondsichel sieh in der Ferne langsam hinter den Häusern vorschob. Die Maiskolben wiegten im leisen Winde schattenhaft hin und her und verdeckten den Weg. Da — plötzlich hörte ich Räderknarren, es kam näher und näher. — Mein Herz klopfte laut. wer konnte so spät in der Nacht kommen? Kein Mensch war weit und breit in meiner Nähe. Ein, zwei, drei Wagen tauchten im Dunkel auf, sie kamen heran und hielten. Einige bärtige Russen kletterten hinunter und wollten anfangen, die reifen Früchte abzupflücken und auf den Wagen zu laden. Heiß und kalt überlief es mich, aber ich nahm allen Mut zusammen und schrie aus Leibeskräften;„Nehmt sie gefangen, nehmt sie gefangen". Erst wollten die Männer sich auf mich stürzen, aber verwirrt durch das fürchterliche Gebrüll, glaubten sie, es seien mehrere Wächter da, ließen alles liegen und jagten davon.

    Ja, ich liebte sie, unser Steppe mit ihrer Freiheit, und ich liebte den Dnjepr, denn auch er bot eine Fülle von Abwechslung. Oft stand ich an den Wasserfällen und schaute lange ins schäumende, sprudelnde Wasser. Wie es lockte! Und einmal konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Ich band einen Kahn los und wollte zu den Wasserfällen fahren. Furchtlos steuerte ich der Strömung zu. Plötzlich riß ein Strudel mein Boot herum. Ich ruderte mit aller Kraft, der Schweiß brach aus allen Poren, aber ich kam nicht wieder aus der Strömung heraus. Und dann verlor ich die Ruder, sie wurden mir mit aller Gewalt aus der Hand gerissen.

    In Todesangst sprang ich ins Wasser, und der brausende Strom trug mich davon. Aber er mochte wohl Mitleid mit dem trotzigen, waghalsigen Knaben haben, denn er brachte mich zu einem großen Felsen, an den ich mich festklammerte. Naß und zitternd kletterte ich über die Steinblöcke ans Ufer, immer in Gefahr, von den glatten Steinen abzugleiten, aber ich erreichte es glücklich und ließ meine Kleider in der Sonne trocknen.

 

LEBENSWENDE

    Als ich dreizehn Jahre alt war, wurden von deutschen Ansiedlern große Ländereien angekauft und sechs neue Ansiedlungen gegründet. Auch mein Vater erwarb dreißig Desjatinen und zog in eins der neuen Dörfer, das in einer sehr schönen, bergigen Gegend lag.

    Das Haus meiner Eltern war sehr klein und lag halb in, halb über der Erde, aber in ihm herrschten Eintracht und Frieden. Nie hörte ich die Eltern streiten, Vater und Mutter umgaben einander mit Zuvorkommenheit. Oft sah ich auch, daß sie beteten, und meinen Vater traf ich einmal, als er in der Bibel las.

   Ich aber wurde in diesem Dorfe der Schrecken meiner Umgebung. Meine Wildheit artete immer mehr in Roheit aus. Ich wollte der Held des Dorfes sein, und mit gleichaltrigen Gefährten zusammen sann ich auf lose Streiche. Meine Eltern versuchten mit Strenge, mich von meinen bösen Wegen zurückzuhalten. Sie verboten mir, ohne Erlaubnis auszugehen, aber ich lief heimlich davon. und abends, wenn alles schlief, schlich ich mich spät in meine Schlafkammer zurück.

    Im Dorfe wurde ich bald allgemein gefürchtet. Ich liebte das Raufen und versuchte, wo ich Gelegenheit fand, Händel anzufangen. Die Hirtenjungen weigerten sich, auf die Weide zu gehen und das Vieh zu hüten, weil ich sie oft grundlos schlug. Wenn ich mit russischen Knechten auf dem Felde zusammentraf, reizte ich sie so lange, bis wir im Zweikampf lagen. Den Bauern fügte ich viel Schaden zu, schnitt die Leinen von den Brunnen ab, verstopfte die Schornsteine, verschleppte Wagen und Schlitten und beschädigte sie. Selten wurde ich als Täter ertappt. Die Folge war, daß alle jungen Männer des Dorfes aufs Amt gerufen und bestraft wurden, weil sie meine Schuld nicht beweisen konnten. Das brachte sie gegen mich in Empörung, und bald hatte ich das ganze Dorf zum Feind. Erfuhr mein Vater aber von meinen losen Taten, dann erhielt ich empfindliche Strafe, und ich sann auf Rache.

   Bei allen diesen Untaten — damals meinte ich, es seien Heldentaten — war ich tief unglücklich. Drohend und anklagend erhob sich in stillen Abendstunden das Gewissen, und ruhelos wälzte ich mich auf meinem Strohlager hin und her.

   „Wo wirst du die Ewigkeit zubringen, wenn du plötzlich stirbst?”  hieß es in mir. Wie ein Gespenst verfolgte mich diese Frage bis in meine Träume.Alle bösen Taten hetzten mich in endloser Folge in große Gewissensangst und Seelenqual, denn ich wußte wohl, daß ich den Geboten Gottes ungehorsam war. Ich versuchte dann manchmal, in der Bibel zu lesen, fand aber keinen Trost. Verzweifelt stürzte ich mich nach solchen ruhelosen Nächten in neue Abenteuer.

     In dieser Zeit zog eine Familie S. aus dem Kaukasus in unser Dorf. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich bald die Nachricht von Haus zu Haus: "Das sind Fromme!"

      Ich wurde neugierig, denn ich erinnerte mich an den Ausspruch meines Großvaters: „Verrückt und fromm“. Die deutschen Bauern kamen zu einer Gemeindesitzung zusammen und beschlossen, diese Frommen wieder auszusiedeln und ihnen das Land abzunehmen. Der Beschluß wurde aber nicht ausgeführt, da nicht alle damit einverstanden waren, denn die neuen Dorfbewohner hatten ja nichts Böses getan.

    Nicht lange danach wanderte ich an einem Sonntag allein über den Berg. Wir hatten kurz vorher eine wüste Schlägerei gehabt, und ich war verzweifelt über meinen Zustand. Ich hatte mir vorgenommen, zu beten, aber da traf ich zwei meiner Gegner, und sofort fingen wir wieder an, uns mit Messern zu bedrohen. Plötzlich sahen wir den Sohn unserer neuen Dorfgenossen auf uns zukommen.

    „Wir wollen ihn töten, dann wird die Dorfgemeinde uns loben", schlug einer der Gegner vor. Ich war sofort dabei, aber der andere von den beiden weigerte sich, dieses Verbrechen mitzumachen und verließ uns. Wir verabredeten nun einen Ort im Walde, wo wir unser Vorhaben ausführen wollten.

   Als S. näher kam, begrüßte er uns freundlich, indem er uns die Hand gab. Das entwaffnete mich. Dann führte er uns gerade an den Ort, den wir für unsere böse Tat ausersehen hatten, setzte sich, zog ein Neues Testament aus der Tasche und las uns Evangelium Joh. 3 vor.

    „Bist du bekehrt", fragte er mich, „weißt du, ob du in den Himmel kommst?"

    Noch nie hatte mich jemand danach gefragt, das war es ja, was mich beunruhigte. In mir erwachte eine tiefe Zuneigung zu dem jungen Mann, und ich beschloß, ihn zu schützen, wenn der andere ihn angreifen würde, „Nein, antwortete ich, „ich bin nicht bekehrt, und ich weiß auch nicht, was das ist. Und in den Himmel komme ich auch nicht".

    Mein Kamerad gab mir einen Wink, ich sollte anfangen zu schlagen.

    „Hör doch, was er sagt“, flüsterte ich ihm zu.

    S. wandte sich mit derselben Frage auch an ihn, dann sagte er „Wollen wir beten?

Und zum erstenmal in meinem Leben lag ich mit anderen zusammen vor Gott auf den Knien. Ich war tief erschüttert und faßte den festen Entschluß, mich an S. anzuschließen, weil ich fühlte, er konnte meiner verlangenden Seele etwas bieten. Als er sein Gebet beendigt hatte, stand er auf und verließ uns, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

    Lange lagen wir still im Grase und hatten beides vergessen, die alte Feindschaft und den gemeinsamen bösen Plan. Endlich brach mein Kamerad das Schweigen und fragte:

    „Wollen wir nicht auch ein anderes Leben anfangen, uns nicht mehr schlagen und andern Menschen kein Leid antun?”

    Dieser Wunsch war mir wie aus dem Herzen gesprochen. Wir hielten zwei Monate treu zusammen in guten Vorsätzen, da wurde er von den anderen Kameraden wieder auf ihre Seite gezogen, und ich blieb allein.

    Verzweiflung und Einsamkeit machten mir das Leben zur Qual, und ich fühlte mich von allen Menschen verlassen. Von neuem stürzte ich mich in das alte Leben und trieb es schlimmer als je zuvor. Da ich mich selbst unglücklich fühlte, hatte ich auch kein Erbarmen mit anderen. Auch die Familie S. konnte mir nicht helfen. Zwar besuchte ich die Versammlungen der Gläubigen und machte dort einige Erfahrungen, aber Frieden mit Gott fand ich nicht. So beschloß ich denn in einer Nacht, diesem qualvollen Dasein ein Ende zu machen. Ich sollte am nächsten Morgen Getreide zu einer Mühle fahren. Das sollte meine letzte Fahrt sein, so war mein Entschluß.

     Auf dem Wege zur Mühle und auch auf dem Rückwege kniete ich die ganze Zeit im Wagen und sagte alle Gebete her, die ich auswendig konnte, und immer fügte ich am Schluß hinzu: „Vergib mir meine Sünden!”  Mein Herz war zu Tode betrübt.

   Als ich auf dem Heimwege war, wurde mir die Gewißheit; „Dir sind deine Sünden vergeben" Als ich dies mit glaubender Seele erfaßte, da erfüllte eine Freude und ein Licht mein Herz, welche mit Worten nicht zu beschreiben sind. Ich ließ Wagen und Pferde stehen und lief in die Steppe, Gott lobend und dankend für die Offenbarung seiner Barmherzigkeit, die er mir hatte zuteil werden lassen. Dann fuhr ich eilends nach Hause, um allen von meiner Lebenswende zu erzählen.

 

VERFOLGUNGEN

    Ein neuer Tag meines Lebens brach an. Verfolgungen, Hohn und Spott waren von nun an mein Teil.Meine Eltern waren traurig und baten, ich sollte von meinem neuen Leben ablassen. Im Dorfe erzählte man, ich sei irrsinnig geworden, die Dorfbehörde verbot mir, von meinen inneren Erfahrungen mit anderen zu sprechen. Aber ich konnte es nicht lassen, von Jesus, meinem Erlöser, zu zeugen. Das ärgerte die Leute, und man haßte mich mehr als früher.

   Es war an einem Sonntag im Mai. Die strahlende Frühlingssonne lockte mich ins Freie, und ich ging in ein Tal Suchaja Balka, das von der Jugend des Dorfes viel besucht wurde. Ich traf hier viele meiner früheren Kameraden und fing an, mit dem einen und anderen von meinem Heiland zu sprechen. Aber ich wurde verlacht und mit Stöcken geschlagen. Das ermutigte mich nur noch mehr, Zeugnis von Jesus abzulegen. Da ergriffen sie mich hohnlachend, banden mir die Füße zusammen und zogen mich am Strick den Berg hinunter. Mein Rücken wurde blutig und die Kleider zerrissen. An einem Abhang stießen sie mich hinunter, und halb bewußtlos rollte ich weiter. Ich konnte mich vor Schmerzen kaum aufrichten, und nur mühsam schleppte ich mich nach Hause.

   Am nächsten Tage wurde ich zum Amtsvorsteher gerufen und sollte versprechen, nicht mehr von Jesus zu reden. Aber mutig und freudig antwortete ich; „Von diesem Namen Jesus kann ich nicht schweigend“.

   Das empörte die anwesenden Bauern, und sie stießen mich zur Tür hinaus, so daß ich mehrere Male hinfiel. Dann ließen sie meinen Vater kommen und befahlen ihm, Mittel und Wege zu finden, um mich zum Schweigen zu bringen, sie erlaubten nicht, daß ein Junge solch ein Aufsehen mache.

    Der Vater war tief überzeugt von meiner Umkehr, wagte aber nichts zu sagen. Als ich nach Hause kam, fand ich meine Mutter weinend in der Küche. „Mutter, weine nicht", bat ich, „ich bin doch nicht so schlecht wie früher, ich fluche nicht, ich habe alles in Ordnung, ich tue, was ich euch an den Augen absehen kann.”

    „Ja", sagte die Mutter, „ich sehe es, und ich bin davon überzeugt, daß du ein anderer Mensch geworden bist. Aber ich bin viel schlechter als du und gehe verloren.

    „Nein, Mutter", sagte ich ihr, „das ist nicht nötig, laß uns den Herrn Jesus um Hilfe anrufen.“ Wir knieten nieder und hörten nicht auf zu ringen und zu beten, bis die Mutter mir um den Hals fiel und sagte:

   „Mein lieber Sohn, nun glaube auch ich, daß der Herr Jesus mir meine Sünden vergeben hat." Als der Vater hinzukam, und die Freude sah, konnte er nichts mehr sagen. Wir beteten auch mit ihm, aber er kam nicht zur Klarheit. Erst viele Jahre später übergab er sich dem Herrn.

     Im Dorf kam trotz meines Zeugnisses niemand zu einer Lebenswende. Das konnte ich nicht verstehen, und weil ich keinen Erfolg sah, wurde ich traurig. Da nahm ich mein Testament, versteckte mich auf den Boden unter einem Haufen Stroh und las. öffentlich durfte ich es nicht tun, denn der Vater hatte es mir verboten. Wiederholt kam ich mit jenem S. zusammen, durch den ich die erste Anregung empfangen hatte, und betete mit ihm. Eines Tages fragte er mich: „Was tust du für Jesus?"

    Ich hatte noch nicht darüber nachgedacht und antwortete: „Ich tue nichts für den Herrn, aber was tust du?"

    „Ich bin ganz ungeschickt, etwas zu tun", sagte er. „Und weil ich keine Gaben habe, bat ich den Herrn, mir zu zeigen, welches meine Aufgabe sei. Er hat es getan. Nun bete ich alle Tage für einen Menschen, den Er mir zeigt. Dann schlage ich meine Bibel auf, und den Spruch, der mir wichtig wird, schreibe ich auf einen Zettel, schicke ihm denselben zu und freue mich, daß ich doch etwas tun darf."

    In dieser Zeit des Bibellesens und des Gebets wurde mir meine Vergangenheit eine schwere Last. Eines Tages türmten sich vor meinem Auge all die Niederträchtigkeiten, die ich früher begangen hatte, wie ein Berg auf. Ich begann sie aufzuzählen und war erschrocken, daß es so viele waren. Fast allen Menschen im Dorfe hatte ich Unrecht getan. Was sollte ich tun, Geld besaß ich nicht, um den Schaden zu bezahlen, meine Eltern waren arm, und ihnen hätte ich das auch nicht zumuten können. Verdienen konnte ich auch nicht soviel. In einer Nacht lag ich lange wach und betete. Da kam mir ein Gedanke: „Es gibt einen Ausweg, daß dich deine Vergangenheit nie mehr verfolgen wird. Stehe frühe auf, besorge deine Arbeit so gut wie möglich, damit der Vater sich freut, wenn er in den Stall kommt, aber das alles mußt du noch im Dunkeln tun. Dann gehe in die Scheune und bete. Danach besuche jedes Haus im Dorf, erzähle, was du getan hast und bitte um Vergebung."

   Ich kam ins erste Haus, dessen Bewohner viel Ärger durch mich erlebt hatten. Als ich eintrat und erzählte, was der Herr an mir getan hatte und um Vergebung bat, verschwand die Frau weinend im anderen Zimmer, der Mann aber schrie mich grob an und warf mich zur Tür hinaus. Das war eine große Enttäuschung, denn ich hatte eine andere Wirkung meines Bekenntnisses erwartet. An solche Folgen hatte ich gar nicht gedacht. So ging ich von Haus zu Haus. Manche weinten, aber die meisten warfen mich fluchend hinaus oder ließen mich gar nicht herein. Ich kam bis zur Mitte des Dorfes und betrat voller Furcht und ganz verzagt das Haus einer Witwe. Als ich gesagt hatte, was mir auf dem Herzen lag, lud die Frau mich freundlich ein, mich zu setzen, und ich vergaß alle Traurigkeit und allen Schmerz.

   „Warte ein wenig", sagte sie. Dann ging sie in den Hof und rief die ganze Familie zusammen. Mit ihren Kindern hatte ich manchen Streich ausgeführt.

    „Nun lieber K." bat sie, „wiederhole noch einmal, was du mir erzählt hast, damit meine Kinder es auch hören”.

   Sie konnte sich dabei der Tränen nicht enthalten. Als ich alles gesagt hatte, trat eine lange Stille ein, dann sagte die Mutter:„Kinder, hört, was ich euch zu sagen habe. Glaubt mir als eurer Mutter, ich habe dies noch nicht erfahren und bin kein Gotteskind, ich habe nie mit euch gebetet, aber von nun an will ich es tun. Wenn wir nicht alle umkehren, wie dieser Jüngling, dann gehen wir verloren."

    In diesem Hause durfte ich zum erstenmal Zeugnis ablegen und mit allen beten. Meine Freude war groß. Es war, als sei der Himmel offen und als gäbe es nichts mehr auf der Welt, was mich schrecken und betrüben könnte. Diese ganze Familie wurde später zu Jesus bekehrt, zog aber in ein anderes Dorf. Die Frau lebt noch heute in manchen Herzen, obwohl sie gestorben ist. Ihr Heimgang wird vielen unvergeßlich sein.

   Mit leichterem Herzen ging ich nun in die anderen Häuser. Aber wieder wurde ich mit Hohn und Spott empfangen. Als ich den letzten Hof erreichte, wollte man mir sogar den Eintritt verwehren, aber der Hausherr sagte: „Laßt ihn nur herein, laßt ihn nur kommen, wir werden mit ihm schon abrechnen.” Wohl ahnend, daß die Sache nicht so leicht ablaufen würde, trat ich ein. Als ich alles bekannt hatte, sagten der Mann und die Frau spottend „Nun, wenn du jetzt tot hinfällst, bist du dann auch ein Heiliger?”

    Das verblüffte mich, aber ich antwortete: „Nicht ich, sondern der Herr hat mich geheiligt, und wenn es sein Wille ist, dann werde ich auch bestimmt selig werden.

    Dies empörte den Mann sehr und sein Gesicht verzerrte sich. Er brachte mich in ein Zimmer, ließ seine beiden Söhne hereinkommen und schloß hinter uns ab. Er selbst und seine Frau blieben draußen vor der Tür stehen und schauten durch die Scheiben ins Zimmer herein. Dann fingen die Söhne an, mich so zu schlagen, daß ich bewußtlos zur Erde fiel.

    Als ich wieder zu mir kam, war es finster und kalt um mich. Meine Kleider waren feucht, und alle Glieder schienen gebrochen zu sein. Man hatte mich in einen Graben hinter dem Hof geworfen in der Annahme, ich sei tot. Mühsam richtete ich mich auf, und in meinem Schmerz überfiel mich große Traurigkeit, denn ich fühlte mich grenzenlos einsam. Auch zu Hause konnte ich keine Hilfe erwarten. Als ich heimschlich, kam unser kleiner Haushund mir freudig mit dem Schwänze wedelnd und bellend entgegen gelaufen, und dieses kleine, treue Tier hat mich in den dunklen Stunden getröstet, wie selten ein Mensch in meinem Leben es getan hat. Ich ging zum Strohhaufen und wühlte mich hinein. Dort lag ich bis zum Morgen.

   Inzwischen hatte mein Vater alles erfahren und war sehr böse, denn er schämte sich meiner Vergangenheit, und sagte zu mir: Wenn du nicht anders wirst, mußt du das Haus verlassen.”

     Da ich aber weder Geld noch Kleider hatte, um fortzugehen, blieb ich. Ich tat, was ich konnte, meinen Eltern zuliebe, damit meines Vaters Stellung zu mir eine andere würde. Auch manche Glaubensstärkung erlebte ich in dieser Zeit, und ich fand einen Freund, der ähnliche Erfahrungen gemacht hatte und auch allein zu Hause stand. In gemeinsamem Gebet holten wir uns immer wieder neuen Mut zur Nachfolge Jesu.

    Der Einfluß, den mein Leben auf meine Mutter hatte, machte meinen Aufenthalt im Elternhause bald unmöglich, denn der Vater war darüber unwillig. So mußte ich denn eines Tages meine Sachen packen und fortgehen.

Teil II

 

WANDERSCHAFT

      Es begann eine schwere Zeit. Einsam, ohne Geld, ohne genügend Kleider und Schuhe verließ ich mein Elternhaus, um in der Fremde Arbeit zu suchen. Meinen ersten Versuch machte ich im Dorfe N., etwa fünfzehn Kilometer von uns entfernt. Der Weg war nicht weit, aber es dauerte doch lange, bis ich das Dorf erreichte. Oft setzte ich mich an den Wegrand und stärkte mich im Gebet und durch Gottes Wort. Bekannte hatte ich in N. nicht, aber hier war eine Fabrik von R. und N., in der ich um Aufnahme als Lehrling bat. Der Besitzer, Herr R., schaute mich lange mitleidig an, denn ich war klein von Gestalt, und sagte dann:

„Ich werde sehen, vielleicht läßt es sich machen". Im Dorf fand ich einen gläubigen Möbeltischler, der mich zur Nacht aufnahm. Am nächsten Morgen holte ich mir im Büro der Fabrik die Antwort. Herr R. empfing mich sehr freundlich und sagte: „Wir wollen dich zur Probe einstellen."

     Es waren noch drei junge Männer, die sich angemeldet hatten und angenommen wurden. Der deutsche Werkführer, dem ich unterstellt war, gewann mich im Laufe des Probemonats lieb, denn ich scheute mich nicht, ihm die Teemaschine aufzustellen, das Haus auszukehren und Geschirr zu waschen, und so wurde ich durch seine Vermittlung für zwei Jahre als Lehrling eingestellt. Das erste Jahr sollte ich vierzig, das zweite Jahr fünfzig Rubel und freie Station erhalten. Auch Kleider und Schuhe gab man mir, und trotzdem sie viel zu groß waren, freute ich mich sehr.

     Ich wohnte mit sechzehn Arbeitern in einem alten Gutsstall. An den Wänden unseres Raumes waren rohe Holzbetten angebracht, die die Arbeiter selber zusammentischlerten. Die Türen und Fenster waren undicht, und der Wind blies durch das Zimmer. Der Fußboden aus Ziegelsteinen zeigte ausgetretene Löcher, der Ofen rauchte so, daß man ihn kaum heizen konnte, und die Türen und Fenster öffnen mußten, um den Rauch hinausziehen zu lassen. Dadurch bekamen wir nicht Wärme, sondern Kälte ins Zimmer hinein. Decken und Kissen hatte ich wohl, aber sie waren sehr dünn. Einen Mantel besaß ich nicht. Weil ich nicht teilnahm an dem Treiben meiner Kollegen, hatte ich auch das schlechteste Bett erhalten, gerade der Tür gegenüber, und oftmals stand ich am Morgen fast steifgefroren auf. Decke und Bett lagen voller Schnee. Es wurde mir sehr schwer, auszuhalten, aber nach Hause wollte ich doch nicht gehen, obwohl der Vater mir schon etwas freundlicher gesinnt war.

     Weil ich auch hier nicht schweigen konnte und von Jesus sprach, wo ich Gelegenheit fand, hatte ich bald viele Feinde und mußte viel leiden. Beim Werkführer und seiner Frau, die keine Kinder hatten, fand ich zwar einen Schutz und Halt, aber zweimal bekam ich doch solche Schläge, daß ich nicht zur Arbeit erscheinen konnte. Die Gesellen und Lehrlinge versuchten, auch den Besitzer gegen mich aufzubringen, und er fing an, unzufrieden mit mir zu werden. Zu meinem Unglück zog nach einigen Monaten der deutsche Werkführer fort, und ein Russe wurde sein Nachfolger.

     Dieser, ein roher Mann, haßte mich und unterstützte die andern in ihren Verleumdungen. Ich war in dieser Zeit bereits an der Drehbank angestellt. Eines Tages verdarben einige Kollegen ein wertvolles Stück, welches ich gerade in Arbeit hatte, meinem Chef aber wurde mitgeteilt, daß ich es verdorben habe. Er erschien in der Werkstatt, und als er das Unheil sah, schlug er mich, ohne nach dem wahren Sachverhalt zu fragen. Die andern Handwerker standen lachend dabei und freuten sich. Am liebsten wäre ich davongelaufen, da ich aber weder genügend Kleider noch Geld hatte, konnte ich die Stellung nicht verlassen. Ich ging zum russischen Werkführer, aber auch er fing an, mich zu schlagen und jagte mich hinaus. Zitternd stand ich draußen vor der Werkstatt und bettelte um Einlaß, aber vergeblich. Es blieb mir nichts übrig, als zu warten und bei der nächsten Gelegenheit aufs neue um Aufnahme zu bitten. Mir wurde wenig Hoffnung gemacht.

     Ich hatte sechzig Kopeken in der Tasche und entschloß mich, eine Stelle in einer andern Fabrik in W. zu suchen. Gegen Abend fuhr ich mit dem Güterzug bis zur Station N. und ging fünfzehn Kilometer zu Fuß bis zu meinem Bestimmungsort, fand aber keine Arbeit. Mein Geld war ausgegangen, den ganzen Tag hatte ich nichts gegessen, und der Hunger war so groß, daß ich zum erstenmal in meinem Leben bettelte.

     Zu Fuß wanderte ich den langen Weg zurück. Es wurde finster. Auf halbem Wege setzte ich mich an einen Bahndamm, um etwas auszuruhen, denn ich war todmüde und traurig. Da hörte ich eine deutsche Stimme laut um Hilfe rufen und um das Leben betteln. Räuber hatten einen Bauern auf seinem Wagen angehalten und waren gerade dabei, ihn zu erschlagen.

     Die Männer hörten, daß ich mich näherte und riefen:

     „Wer ist da?"

     Ohne nachzudenken rief ich:

     „Unsereiner!”

     „Unsereiner? O, dann ist es gut" sagten sie. In der Ferne tauchten zwei große Lichter auf, ein Güterzug nahte langsam, und ich fing an, mit lauter Stimme zu rufen:„Hilfe, Hilfe! Hier sind Räuber, die wollen einen Menschen erschlagen!" Das brachte die Diebe in Verwirrung, sie ließen von dem Überfallenen ab, und ich schrie in deutscher Sprache: „Rette dich auf den Wagen!"

    Die Räuber verschwanden im Dunkel und liefen davon. Der Mann nahm den Augenblick wahr und fuhr eilends fort, ohne mich mitzunehmen. Mir wurde sehr bange, denn ich konnte nicht wissen, ob die Russen nicht wiederkehren und sich rächen würden. Ich lief deshalb am Bahndamm entlang und schrie hinter dem Bauern her:„Nehmen Sie mich mit! Nehmen Sie mich mit!"

     Der Bauer wollte anfangs nicht, denn er fürchtete, ich sei ein Räuber, aber endlich hielt er doch an und ließ mich aufsteigen. Als er dann merkte, wer ich war, dankte er mir sehr für die Hilfe, die ich ihm erwiesen hatte, und gab mir zum Abschied siebzig Kopeken.

     Am Morgen kam ich in die Fabrik zurück, müde und zerschlagen von der vierundzwanzig-stündigen Reise und Fußwanderung und den Mißerfolgen. Noch einmal bat ich, man möchte mich doch aufnehmen, und es wurde mir endlich gewährt. Aber die Behandlung war in der Folge derartig, daß ich unmöglich bleiben konnte. Da schrieb ich an die Eltern, ob ich nach Hause kommen dürfte.

    „Ja, zu Besuch!" antwortete der Vater.

    Auch das war eine Freude, ich packte meine Sachen und ging nach Hause. Drei Tage war ich dort, dann sagte der Vater zu mir:

     „Wenn du deine Schuld gutmachen willst, dann fahre nach E. und ziehe die Gelder ein, die einige Bauern mir schulden, und ich will vergessen, welchen Kummer du mir bereitet hast."

Der Auftrag erfreute mich, und es gelang mir, mehr Geld herauszubekommen, als mein Vater erwartet hatte. Das geschah im Dezember, kurz vor Weihnachten. Auf der Rückreise hatte ich vom Bahnhof O. noch achtzehn Kilometer zu Fuß zu gehen.

     Der Zug kam drei Uhr morgens auf der Station an, wo ich aussteigen mußte. Draußen war es eisig kalt, die Sterne funkelten, und der Schnee knirschte, als ich zu Fuß weiterging. Bäume und Sträucher waren mit Rauhreif behangen, und tiefe Todesstille umgab mich. Es wurde mir unheimlich, so allein durch die Steppe zu gehen, denn in den umliegenden Wäldern hausten damals viele Wölfe. Kaum fünf Kilometer vom Bahnhof entfernt lief plötzlich ein Hund auf mich zu. „Wahrscheinlich kommt ein Bauer zur Station", dachte ich. Da kam noch ein Hund und noch einer,— und da wurde mir klar, daß es Wölfe waren. Fünf dieser Raubtiere umringten mich, die Augen funkelten blutgierig, die Zungen hingen heraus. In meiner Angst kniete ich mitten unter ihnen nieder und betete, jeden Augenblick erwartend, daß sie sich auf mich stürzen und mich zerreißen würden. Weit und breit war kein Laut vernehmbar, nur der keuchende gierige Atem der Raubtiere drang in mein Ohr.

Wie lange das dauerte, weiß ich nicht mehr. Es begann bereits zu tagen, als die Wölfe mich verließen und in die Steppe zurückliefen. Ich war frei. Noch einmal kniete ich im Schnee nieder und dankte meinem Gott für die wunderbare Bewahrung.

     Der Vater war sehr froh, als ich das Geld brachte, und schenkte mir fünf Rubel. Dann zog ich wieder in die Fremde und suchte Arbeit. In einer Stadt fand ich zwar eine Anstellung als Dreher, aber auch hier konnte ich nicht lange bleiben. Ich versuchte es noch an verschiedenen Orten. Oft geriet ich in große Versuchungen, und nicht immer gelang es mir, ihnen zu widerstehen. Dadurch kam ich in schwere innere Konflikte, aber Gott in seiner Güte erwies sich stark und treu. Mein tiefstes Sehnen aber war und blieb immer: Ich wollte von Jesus zeugen. Nach vielen Versuchen hier und dort kam ich endlich nach Ch. und von da ab war mein Weg ein gebahnter.

     In CH, . . .

    Der erste Tag in Gh, wird mir unvergeßlich bleiben, denn er war nicht leicht. Ich hatte gehofft, ich würde in der großen Stadt bald Arbeit finden. Nun wanderte ich stundenlang von einer Fabrik zur andern, aber überall wurde ich abgewiesen. Hungrig und müde schlich ich an den glänzenden, lockenden Schaufenstern vorbei, einer anderen Fabrik zu. Den ganzen Tag hatte ich gesucht und nichts gefunden, in der Tasche waren nur noch fünfzehn Kopeken, und Bekannte hatte ich in der Stadt nicht. Jetzt stand ich am Tore der Fabrik H. Man hatte mich auch hier abgewiesen, aber irgend jemand gab mir den Rat, auf den Gehilfen des Direktors zu warten. Die Arbeiter und Angestellten strömten aus den Toren heraus. Ich wartete lange. Endlich kam der Gehilfe, und wie groß war mein Erstaunen und meine Freude, als ich meinen früheren Vorgesetzten, den Mechaniker E, aus der Fabrik R, in N., erblickte. Er nahm mich sehr freundlich in seinem Hause auf, und vierzehn Tage diente ich ihm persönlich, bis ich in seiner Fabrik als Dreher angestellt wurde.

    In Ch, fand ich bald warme Freunde, ein gläubiger Mann mit dem Namen J, gab mir Wohnung in seinem Hause, und hier lernte ich einige andere Gleichgesinnte kennen, etwa vier oder fünf gläubige Russen. Wir schlossen uns zusammen und kamen jede Woche dreimal und am Sonntag zweimal im geheimen zusammen und luden dazu auch andere ein. Manches bedrückte Menschenherz fand in diesen Versammlungen bei einfacher Wortauslegung Frieden mit Gott. Die Polizei beobachtete uns scharf, und mehrere Male wurden wir gefangen genommen und über den Sonntag ins Gefängnis gesteckt. Man entließ uns dann am Montag mit der Aufforderung, die Versammlungen einzustellen.

      Da trafen wir uns an geheimen Stellen im Walde unter den Tannen, und beim Rauschen der Bäume und dem Gesang der Vögel hatten wir sehr gesegnete Stunden, und viele Menschen gesellten sich zu uns. In dem ersten Jahr unserer Zusammenkünfte wurden mehr als dreißig Seelen in die Gemeinde aufgenommen, denn wir organisierten unseren kleinen Kreis bald zu einer solchen, wählten einen Ältesten, einen Lehrer und einen Diakon. Seit dieser Zeit nahm das Werk des Herrn in dieser Stadt zu, und auch ich fing an, mit dem Wort zu dienen, ohne zu wissen, daß ich dazu berufen sei. Immer mehr erwachte der Wunsch, für den Dienst unter den Russen frei zu werden, und ich bat den Herrn, mich brauchbar zu machen und mir den Weg zu einem Arbeitsfeld in seinem Weinberge zu zeigen.

     Äußerlich gestalteten sich meine Verhältnisse immer besser. Mit einer kurzen Unterbrechung arbeitete ich die meiste Zeit meines Aufenthaltes in Ch. in der Fabrik H. und hatte guten Verdienst. In den Abendstunden besuchte ich technische Hochschulkurse und gewann wertvolle theoretische und praktische Kenntnisse in meinem Fach. Gott schenkte mir auch eine liebe Frau, die mir innerlich und äußerlich eine treue Gehilfin wurde. Durch meinen Schwiegervater veranlaßt, zogen wir dann nach M., wo die Eltern meiner Frau bereits wohnten, und ich fing mit meinem Schwager F. zusammen eine eigene Werkstatt an. Ich hatte in Ch. einige Ersparnisse gemacht, mein Schwager war ebenfalls nicht ganz mittellos, und so gelang es uns, selbständig zu werden. Durch diese Veränderung der Verhältnisse wurde ich vor ganz neue Aufgaben gestellt, ja, ich darf sagen, in M, fing meine eigentliche Missionstätigkeit an.

     In M. sowohl mir als auch meinem Schwiegervater lag die Unwissenheit der Russen in bezug auf das Heil in Christo schwer auf dem Herzen, und wir fingen zusammen an, unter ihnen zu arbeiten. Er lud deutsche und russische Prediger ein, und der Herr gab Gnade zu ihrem Dienst. Im ersten Jahre wurde ein Trunkenbold und seine Frau für Christus gewonnen. Das war eine große Freude. Eines Tages stand ich in der Tür meiner Werkstatt und schaute auf die Straße. Zwei russische Frauen kamen auf den Hof, um Späne zu kaufen. Nachdem ich ihren Wunsch befriedigt hatte, fragte ich die eine: „Weißt du, wohin du kommst, wenn du stirbst?" Sie stutzte, gab aber keine Antwort. Am nächsten Sonntag kam die andere Frau, die ich nicht gefragt hatte, in unserer kleinen russischen Versammlung weinend zu mir und sagte: „Bin ich denn ganz verworfen und ist keine Hoffnung für mich, weil Sie mich nicht gefragt haben? Ich fürchte schon lange, daß ich verloren gehe. Was soll ich tun?" Mit Freuden zeigte ich ihr in der Schrift den Weg des Lebens. Ein anderes Mal saß in unserer Versammlung ein Maurermeister in einer Ecke, der sehr aufmerksam meinen Worten folgte, und als er die Botschaft des Heils hörte, stand er auf und sagte: „Jetzt glaube ich, daß Jesus für mich gestorben ist und meine Sünden vergeben hat, die mich so lange quälten".

      Diese wenigen Menschen bildeten den Anfang unserer kleinen Gemeinde. Ich lud zur Aufnahme derselben den Ältesten aus Ch. ein. Was ich in diesen Tagen in meinem Innern als Antwort auf meine Gebete durchlebte, kann ich mit Worten nicht beschreiben. Von dieser Zeit wurden die Segnungen nach allen Seiten immer sichtbarer. Wir mieteten ein Zimmer und hatten regelmäßig Versammlungen. Bald wurde die russische Geistlichkeit aufmerksam, denn die Gemeinde vergrößerte sich ständig. Das ärgerte den Priester, und er fing an, gegen uns zu arbeiten und uns zu verleumden, und verklagte uns beim Gouverneur. Disputationen und Verhöre folgten aufeinander, ein Missionar der orthodoxen Kirche kam nach M, und leitete einen Monat lang die religiösen Auseinandersetzungen, um die Verirrten zu überzeugen.

      Beim Austritt eines Orthodoxen hat der Geistliche laut Gesetz das Recht, den Betreffenden vierzig Tage lang zu ermahnen und zu versuchen, ihn zur Kirche zurückzubringen. Das nutzte unser Priester gut aus. Ich will ein solches Verhör hier beschreiben. An einem Tage wurden dreizehn Übergetretene wie Schafe von der Polizei zusammengetrieben. Die höhere und niedere Geistlichkeit versuchte nun, die Abtrünningen auszufragen. Dabei wurden sie aufs häßlichste beschimpft. Ich als Leiter der russischen Gemeinde war verpflichtet, beim Verhör meiner Gemeindeglieder zugegen zu sein, um sie zu schützen.

     Das Gesetz lautete; „Wenn ein Andersgläubiger in der rechtgläubigen Kirche Propaganda treibt und auf diese Weise ihre Mitglieder abtrünnig macht, soll er mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft werden. Also war ein Verhör für mich immer sehr gefährlich. Der Kreisvorsteher erschien ebenfalls, und die Auseinandersetzung begann. Eine Frau wurde gefragt: „Wie kam es, daß Sie zu den Stundisten übergingen? Was war die Ursache dazu?” Sie sagte: „Durch Martens bin ich zum Herrn gewiesen worden und brauche nun nicht mehr in Sünden zu leben. Durch sein Zeugnis von der Erlösung ist mein Mann vom Trünke losgekommen, und ich habe nun einen ehrlichen, sittlichen Mann. Wir freuen uns nun in dem Herrn.” Der Geistliche fragte weiter: „Wo und wann geschah das?” Die Schwester, nichts ahnend von dem Gesetz, erzählte, wie ich ins Haus gekommen sei. Alles wurde protokolliert. Ein anderer Mann sagte: „Durch Martens bin auch ich in die Nachfolge Jesu gekommen und dadurch von einem lasterhaften, unsittlichen Leben, von Trunksucht und Diebstahl frei geworden.” „Wo geschah das?” fragte der Geistliche. „Das war an einem Sonntag vormittag, als ich betrunken aus der Kirche kam. Herr Martens hielt mich an, sprach mit mir und riet mir, das Evangelium zu lesen und zu beten. Das Wort fiel in mein Herz, ich lud ihn ein. Da erzählte er mir vom Weg des Lebens. Ich bekannte meine Sünden, wir beteten miteinander, und Gott gab Gnade und vergab sie mir. Und nun bin ich ein froher Mensch und rate auch Ihnen, Batjuschka, und Ihnen, Herr Pristaw, daß Sie sich zum Herrn wenden.

                                         " Stundisten: der Name bezieht sich auf evangelikale Gruppen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter ukrainischen Bauern entstanden war. Die Stundisten wurden stark von deutschen Baptisten, Pietisten und Mennoniten beeinflusst, die sich in den südlichen Teilen des Russischen Reiches niederließen. Das Wort Stundist leitet sich vom deutschen Wort "Stunde" ab und bezieht sich auf die Praxis, eine Stunde für das tägliche Bibelstudium beiseite zu legen. Der Begriff wurde ursprünglich in einem abfälligen Sinne verwendet, wurde aber auch von vielen Anhängern dieser Tradition übernommen."

     Das ärgerte sie sehr, und ihre Gesichter wechselten die Farbe. Alles dieses aber genügte nicht, um mich dem Gericht zu übergeben. Der Bruder wurde dann gefragt:„Wo hast du aber alle deine Heiligenbilder gelassen?"„Als ich erst Frieden fand, den ich nicht durch Sie und unter Ihnen gefunden habe, las ich Apostelgesch. 17 und Jes. 44 und Ps, 46. Dort steht, daß die Götter, mit Menschenhänden gemacht, mit Mäulern, die nicht reden, die Ohren haben und nicht hören, mir nie helfen können, sondern mich immer tiefer fallen lassen. Sie waren mir nutzlos, ich nahm sie alle von der Wand und sagte: ,Ihr könnt keine Fürsprecher für mich sein, denn ich habe nun einen Fürsprecher, der mich gefunden hat, Christus. Ich stellte sie weg."„So, das hat dich wohl Martens gelehrt?" sagte der Geistliche. „Was machtest du denn weiter mit diesen Heiligenbildern? „Hm", sagte er, und noch einmal: „Hm! — Da sie doch nur aus Holz sind und weiter nichts, nahm ich sie, wie Jesaja sagt, machte die Ofentür weit auf und verbrannte sie. Und sie konnten nicht einmal ihre eigene Seele retten. Weg mit dem Kram."„Protokollieren Sie ganz genau. Das ist ein Verstoß gegen das Gebot des Allerhöchsten."

    So prüften sie alle dreizehn, um Ursache zu finden, mich aus dem Wege zu räumen. Aber ihre Pläne wurden immer vereitelt, so oft sie versuchten, mich ins Gefängnis zu bringen. Die Disputationen und Verhöre blieben auch nicht ohne Erfolg. Nach einer ähnlichen Auseinandersetzung in der Kirche stand ein Mann auf und erklärte: „Von nun an gehöre ich nicht mehr zur rechtgläubigen Kirche, denn sie hat mich betrogen. ”Der Missionar verließ M., da er nichts erreichen konnte, und stellte eine Broschüre mit Verleumdungen gegen meine Person zusammen. Folgendes wurde darin gesagt: „Ein falscher Prophet ist nach M. gekommen und führt die Leute irre. Er versucht auf seine Weise rechtgläubige Christen aus der Kirche herauszulocken. Dazu gebraucht er seinen Einfluß. Weil er reich ist, scheut er keine Mittel. Von Deutschland wird er unterstützt und angeleitet, mit Geld den Menschen den Kopf zu verdrehen und sie zu bewegen, sich ihnen anzuschließen. Ich kann es mit Beweisen belegen. Vier Gliedern unserer Kirche hat er eine große silberne Uhr geschenkt, das hat die Leute bewogen, die Kirche zu verleumden und auszutreten. Einem anderen hat er versprochen, ihm eine große deutsche Mühle zu bauen, wenn er sich ihrem Glauben anschließe.”

     Diese Broschüre brachte die Polizei und den Gemeindevorsteher noch mehr in Bewegung. Die Sache kam vor den Gouverneur, und immer wieder wurde ich zum Verhör geladen. Da nun die erwähnten Verleumdungen sich nicht bestätigten, ließ man mich schließlich in Ruhe und verbot mir nur, den Russen einen anderen Glauben zu predigen.

     Alle diese Erlebnisse ermutigten mich nur noch mehr. Die Russen wurden durch sie aufmerksam, und unser kleines Zimmer reichte bald nicht aus. Wir mieteten einen größeren Raum, und in einigen Jahren waren sechsundsechzig Seelen zum Frieden gekommen. Wir durften auch äußerlich wunderbar den Segen Gottes erleben, trotzdem meine Zeit durch die Tätigkeit in der russischen Gemeinde sehr in Anspruch genommen war. Gott selbst half uns oft wunderbar. Unser Geschäft hatte sich in den ersten Jahren sehr vergrößert, und eines Tages kamen wir in große Geldverlegenheit. Uns blieb nur ein Weg. Wir knieten in unserem Geschäftszimmer nieder, um die Not vor Gott zu bringen.

      Dann gingen wir ruhig nach Hause und überlegten alle Möglichkeiten, Geld zu bekommen, aber vergeblich. Wechsel sollten eingelöst, die Arbeiter gelöhnt, und für Eisen, welches auf dem Bahnhof lagerte, die Fracht bezahlt werden. Mein Schwager war traurig, und auch mir war es schwer ums Herz, doch verlor ich die Hoffnung nicht. Wir beteten noch einmal, aber alles schien vergeblich. Um zwölf Uhr mittags sollten die Wechsel in der Bank bezahlt sein, und um diese Zeit fragte mein Schwager: „Was wird nun werden? Bis jetzt ist kein Geld zur Verfügung.”„Wir haben unser Möglichstes getan", antwortete ich, „glaubst du, daß der Herr uns helfen wird? ”Da sagte er: „Jetzt ist die Hilfe zu spät. Um drei Uhr sind die Wechsel beim Notar.” Und geschlagen und traurig verließ er das Geschäftszimmer und ging nach Hause. Ich aber blieb zurück und betete. Dann hieß es in mir: „Gehe schnell nach Hause!”  

      Als ich aus dem Büro trat und auf die Straße kam, hörte ich, wie ein Mann mich anrief. Ich blieb stehen, denn es war mir sofort klar: „Der Herr sendet uns Hilfe.” Es war ein russischer Bauer, der auf einem Wagen vor dem Hoftor hielt und fragte, ob Deutsche das Geschäft inne hätten. Als ich das bejahte, erzählte er: „Ich fuhr zu einem russischen Kaufmann, um ihm Geld zu bringen. Als ich den Bahnübergang erreichte, wurde mir so bange. Der Kaufmann hat schon Geld von mir, und man hört, daß sein Geschäft nicht gut steht. Wenn er nun bankrott macht, verliere ich alle meine Ersparnisse. Da kam mir der Gedanke: Hier ist eine Fabrik, die gehört Deutschen, und bei ihnen verliert man sein Geld nicht. Können Sie den Besitzer des Geschäfts rufen?”  „Fahren Sie beim Kontor vor”, sagte ich« „Wir wollen hineingehen.”  Wir traten ins Geschäftszimmer ein. „Wo ist denn aber der Besitzer?" fragte er.„Der bin ich!" „So! Das freut mich. Sagen Sie, brauchen Sie Geld?"„Ja, wenn nicht für hohe Zinsen, dann brauchen wir Geld."„Sind sechs Prozent zu hoch?" Wir zahlten damals in der Bank acht bis neun Prozent Zinsen. Dann tat er seine Tasche auf und legte eine Summe auf den Tisch, die ausreichte, um die Wechsel einzulösen, die Arbeiter zu löhnen, die Fracht zu bezahlen. Nach diesen Ausgaben blieb ein Überschuß, der noch einmal dieselbe Summe ausmachte. Er verabschiedete sich mit den Worten: „Das Geld werde ich nicht nötig haben, und wenn ich es brauche, kaufe ich bei ihnen Maschinen, da ich vielleicht nach Sibirien ziehe. Das hat er nach drei Jahren auch getan. Ich erkundigte mich, wann ihm der Gedanke gekommen sei, uns aufzusuchen. Es war gerade zu der Stunde, da wir beteten.

Mein Schwager war tief bewegt, als er am Nachmittag kam und das Erlebnis hörte. Noch oft durften wir es erleben, wie Gott auch in äußeren Dingen hilft. Auch viele Bestellungen wurden uns auf wunderbare Weise zugeführt. Wir lernten daraus, in allen unseren äußeren Bedürfnissen immer mehr die Hilfe des Herrn zu suchen und von ihm zu erwarten.

Teil III

 

Dorfmission

     Unsere russische Gemeinde in M, wuchs, und in uns erwachte der Wunsch, auch den umliegenden Russen- und Kosakendörfern das Evangelium zu verkündigen. Wir schrieben Bekanntmachungen und schickten sie an die Vorsteher der verschiedenen Dörfer mit der Bitte, uns zu bestimmter Zeit einen Raum zur Verfügung zu stellen. Einige Brüder und Schwestern, gewöhnlich fünf Personen, die gut singen konnten, und ich fuhren dann hin und baten in den Häusern um Nachtlager. Am nächsten Tag hatten wir meistens reichbesuchte Versammlungen mit Gesang. Viele wunderbare Erweckungen erlebten wir. Von einigen Reisen will ich hier berichten.

     Etwa zwei Kilometer von uns entfernt lebten im Dorf R. einige gläubige Russen, die ziemlich zurückgegangen waren, in Streit und Zank. Wir hörten davon und beschlossen, sie einmal zu besuchen, um sie zu versöhnen. Als die Sache zwischen den Brüdern geregelt war und sie sich gebeugt hatten, wählten wir ihren Landkreis, um in den umliegenden russischen Dörfern zu missionieren. Es war Winter, und ein Bruder fuhr uns mit seinem Schlitten von Dorf zu Dorf. Singend zogen wir durch die Straßen und luden alt und jung, die neugierig in Scharen hinter uns herzogen, zum nächsten Tage zu einer Versammlung ein.

     Eines Abends kamen wir in eine sehr ärmliche Hütte. Der Raum war eng und es roch fürchterlich, denn zwei Ferkel und ein Kalb teilten ihn mit den Menschen. Die Dorfbewohner kamen neugierig herzu, angelockt durch die Lieder, um zu sehen, wer bei diesen Ärmsten des Dorfes einkehrte, und das kleine Zimmer war bald voll. Auf Fußboden und Bretterbänken lagerten sich Frauen, Männer und Kinder, und an den niedrigen Fenstern preßten sich die Gesichter der Draußenstehenden. Auf dem großen russischen Ofen saßen Greise mit langen Barten und schauten neugierig hinunter und warteten, was nun wohl geschehen werde. Es war eine eigenartige Versammlung.

     Wir sangen, so gut wir konnten, und dann las ich Epheser Kap. 6 vor. Als ich an die Stelle kam: "Ergreift den Helm des Heils und das Schwert des Geistes", rief ein altes Väterchen vom Ofen herunter: „Halt, halt! Was ist das? Schwert des Geistes?"

      Diese Frage wurde zu einem Wendepunkt im Leben des alten Mannes, denn die Leute fingen nun an, lebhaft nach dem Heil zu fragen, und er und einige andere, unter ihnen der Amtsschreiber, erkannten Christus als ihren Erlöser.

     Froh legten wir uns am Abend neben den anderen Hüttenbewohnern schlafen. In der dicken Luft konnte man kaum atmen, aber das störte uns nicht. Die Freude über die Sünder, die verloren waren und gefunden wurden, war größer als alle Unbequemlichkeiten. Die Gemeinde in diesem Ort wurde später der Mittelpunkt für den ganzen Kreis.

     Als wir weiter fuhren, gesellten sich schon einige Schütten hinzu, die uns auf unserer Missionsreise begleiten wollten. Fröhlich schallten Jubellieder durch die klare Winterluft, die Glöckchen klingelten lustig die Begleitung dazu, die Schlitten glitten leise und weich über den tiefen Schnee, und manchmal schütteten sie uns sanft in das weiche, kalte Bett.

Als wir im nächsten Dorf predigten, warf ein Greis sich auf sein Angesicht, weinte bitterlich und rief: „Ich bin ein Dieb, ich habe viel in meinem Leben gestohlen. Gott, erbarme dich meiner!"

     Ein zweiter warf sich an seine Seite und rief ebenfalls: „Auch ich bin ein Dieb, ich habe mich bis in die letzte Zeit mit diesem Handwerk beschäftigt. Auch bei dir, Nachbar E., habe ich gestohlen. Noch viele Sachen liegen bei mir auf dem Boden."

      Nach solchen Bekenntnissen und Gebet fingen alle an zu weinen, und mancher fand an diesem Abend Frieden durch das Blut Jesu. Das Wort Gottes wirkte oft so unmittelbar, daß wir wie vor einem Wunder standen. Wahrlich, Rußland war reif, das Evangelium aufzunehmen, die frohe Botschaft von der Erlösung aus Sünden zu hören. Dieser ganze Kreis ist später mit dem Evangelium bekannt geworden, und blühende Gemeinden entstanden in vielen Orten.

     Noch einen anderen Fall von der unmittelbaren Wirkung des Wortes Gottes will ich hier erzählen. Es war auf der Station K., etwa 150 Kilometer von uns entfernt. Hier gab es noch keine Gemeinde von Gläubigen, und ich konnte mich nicht darüber beruhigen. So beschlossen wir eines Tages, auch in K. eine Arbeit anzufangen. Wir fuhren hin und hatten eine kleine Versammlung in einem russischen Hause.

     Als ich Offenbarung 2a vorlas und bis zu dem Vers kam, wo geschrieben steht: „Und ich fiel zu den Füßen des Engels, ihn anzubeten, und er sagte zu mir, Siehe, tue es nicht. Betet Gott an, ich bin euer Mitdiener", und die Stelle noch einmal wiederholte, stand eine ehrwürdige Dame auf und sagte: „Hört, hört, was er liest! Wiederholen Sie das! Da steht:,Der Engel sagt, tue das nicht, betet Gott an'. Und wir beten die Heiligenbilder an, ja wir beten alles an. Wir gehen verloren, was sollen wir tun?"

     Wir erlebten die große Freude, daß diese Dame sich von Herzen zum Herrn bekehrte, und als ich zum zweiten Male an diesen Ort kam, waren andere da, die auch das Verlangen hatten, ein neues Leben zu beginnen. Auch in diesem Dorf entstand eine kleine Gemeinde, die freudig die Aufgabe auf sich nahm, Licht und Salz in ihrer Umgebung zu sein.

Der Glaube und die Einfalt dieser unwissenden Menschen beschämte uns oft, und Gott antwortete auf ihr kindliches Bitten. Zwei Wunder der Krankenheilung erlebten wir, weil es den Russen so selbstverständlich war, daß ein Erlöser aus Sünden auch körperliche Leiden heilen kann.

      So kamen wir eines Tages in ein Dorf, und viele Menschen waren gekommen, um unsere Lieder und das Wort Gottes zu hören, sogar der Geistliche des Ortes war zugegen. Wir durften mit großer Freudigkeit das Zeugnis vom Heil in Christus für arme Sünder ablegen. Die Versammlung war im Hause eines Russen, dessen Frau an einer Seite gelähmt war und zu Bett lag. Sie konnte nur einige undeutliche Worte hervorbringen. Zu unserer Freude erschloß der Herr auch hier einige Herzen.

    Plötzlich wurde ich zu der kranken Frau gerufen, die in einem Nebenzimmer zugehört hatte. Sie war tief ergriffen von dem Gehörten und sagte durch ihren Mann: „Dies sind Heilige Gottes, sie sollen Gott anflehen, dann werde ich gesund werden!”

Und ehe ich beten konnte, fing sie an, mit lauter Stimme zu loben und dem Herrn zu danken. Dann stand sie auf, sprang und rief: „Jetzt bin ich gesund geworden, nicht nur mein Körper, sondern auch meine Seele ist genesen.”  Die Frau ist dann auch gesund geblieben.

Alle Versammelten waren tief ergriffen, auch der Geistliche. Als man aber anfing, uns zu preisen, blieben wir nicht länger, sondern sangen einige Lieder zum Abschied und fuhren weiter in ein anderes Dorf. Als wir durch die Hauptstraße kamen, hieß es plötzlich in mir:

„Halte vor diesem Hause!”  Unsere Brüder und Schwestern wunderten sich, hielten mich aber nicht zurück. Ich nahm einige Schriften und ging in den Hof, aber niemand war zu sehen. Auch das Haus durchsuchte ich, aber es war leer. Ich legte einige Evangelien auf den Tisch und wollte wieder den Wagen besteigen. Als ich zum Tor hinausging, rief eine Frauenstimme hinter mir her: „Was suchen Sie?" „Wir sind sehr gute Sänger und fahren durch die Dörfer, um den Leuten Lieder vorzusingen", antwortete ich. Sie kam herzu und lud uns ins Haus ein, und bald war das Zimmer voll. Der aus fünf Personen bestehende Chor stimmte an: „Möchtest du los sein vom Banne der Sünde? Es ist Kraft in dem Blut!"

     Dieses machte einen gewaltigen Eindruck auf die Anwesenden. Mancher konnte sich nicht der Tränen erwehren, und die Hausfrau sagte: „Wo seid ihr nur hergekommen? Dies ist es ja, was mein Herz schon lange gesucht hat." Die Tochter stand neben ihr, den Kopf an ihre Schulter gelehnt. Es war eine intelligente Familie. Man erlaubte uns auch, ein Bibelwort vorzulesen und zu erklären. Dann knieten wir nieder, und fast alle folgten uns. Einige bekreuzten sich, andere beteten, wieder andere standen vor den Heiligenbildern. Dann sangen wir das Lied: „Was macht mich von Sünden rein? Nur das Blut des Lammes Jesu!"

Der Geistliche hatte gehört, daß wir in das Dorf gekommen seien und eine fremde Lehre verbreiteten. Er eilte mit seinem Gehilfen herbei, wir hörten ihn draußen ums Haus herumlaufen und schimpfen, aber die Anwesenden ließen sich nicht stören. Tief bewegt nahmen sie Abschied von uns und baten, wir möchten doch wiederkommen und ihnen mehr von Jesus sagen.

    Nicht immer verliefen die Reisen so ruhig, und wir entkamen manchmal nur mit knapper Not großen Gefahren. Eines Tages fuhren wir nach R., wohin auch Bekanntmachungen gesandt waren, um zu evangelisieren. Es war schon zur Zeit der Revolution, und in M. waren gerade die Deutschen an der Regierung. Sie hatten aber nur 25 Kilometer im Umkreis zu gebieten, und R. lag außerhalb dieses Bereiches. Das wußten wir nicht, und der Geistliche machte sich das zunutze. Nach der Versammlung wurden wir von einigen Erweckten zum Mittagessen eingeladen. Wir saßen gerade am Tisch, als unerwartet sieben Reiter ankamen, die auf die Anklage des Geistlichen hin aus dem nächsten Kosakendorf, wo die höhere Polizei ihren Sitz hatte, geschickt worden waren. Sie hatten Befehl, uns zu arretieren, und forderten uns drohend auf, ihnen zu folgen.

    Wir fuhren auf unseren Wagen in Begleitung der Reiter zum Polizeibeamten ins nächste Dorf, und etwa fünfzig Russen, die die Versammlung besucht hatten, wurden zu Fuß hingetrieben. Als wir den Hof des Polizeivorstehers erreicht hatten, baten die Kosaken den Oberst, er möchte ihnen erlauben, jeden einzelnen mit 25 Schlägen mit der Nogajka zu bestrafen, und er willigte ein, und wohl fünfzig Personen, die mitgetrieben waren, Frauen und Männer, bekamen der Reihe nach 25 Schläge. Sie schrien fürchterlich und wanden sich vor Schmerzen, nur ein junger Mann, der sich bekehrt hatte, biß die Zähne zusammen.

Das ärgerte den Oberst so, daß er befahl, ihm noch einmal 25 Schläge zu geben. Unter großen Schmerzen riß er sich los und wollte entfliehen. Da befahl der Oberst, ihn zu erschießen. Nun sprang ich hinzu und rief: „Dazu habt Ihr kein Recht. Hört auf mit Schlagen, sonst wird es Euch nicht gut gehen!"

    Aber wütend befahl der Oberst, dem Mann noch 25 Schläge zu geben, und man trug ihn wie tot hinweg. Er kam jedoch bald wieder zum Bewußtsein. Die Umstehenden waren empört und flüsterten untereinander: „Bis dahin wußten wir nicht, was Stundisten sind, aber jetzt werden wir auch solche werden”.

    Für uns war die Sache äußerst peinlich. Wiederum ging ich zum Oberst und sagte ihm, er sollte aufhören mit Schlagen, der Schuldige sei ich, denn ich habe die Versammlung anberaumt. Da antwortete er: „Mit dir werden wir auch noch abrechnen!"

    Als nun ein Teil eingekerkert, der andere freigelassen war, kamen wir Missionsgeschwister an die Reihe. Wir sollten vom Hof einzeln in ein Zimmer geführt werden, aber wir schlossen uns fest in die Arme, um gemeinsam die Strafe zu erleiden. Fünf Kosaken erwarteten uns mit aufgehobenem Arm, um loszuschlagen. Da sagte ich noch einmal zu dem Oberst:

    „Heute hast du das Recht zu schlagen, aber wenn ich erst frei bin, wirst du nicht mehr lange dein Amt bekleiden, denn ich habe leichter Zutritt zum Gouverneur als du.”

    Dies schien ihn und die Kosaken zu erschrecken, denn sie waren nicht sicher im Schlagen, und so oft sie auch ausholten, gelang es uns, den Nogajkas zu entkommen.

    Unsere Wagen mit Pferden schickten sie dann nach M., und wir fünf wurden eingekerkert. Ich kam allein in eine Zelle, die Schwestern und Brüder zusammen in eine andere. Bald stimmten sie nebenan ein Lied an, ich fiel ein und die frohesten Lieder erklangen in den grauen Mauern. Das gefiel den Wärtern so, daß sie mich zu den anderen führten. Alle. Zellentüren wurden geöffnet, und es dauerte nicht lange, da hatten wir eine Gefängnisversammlung. Das kam vor den Oberst, er schickte Befehl, eilends alle Türen zu schließen, ja, wir durften nicht einmal singen.

   Im Orte wohnte ein guter Bekannter von mir, und die Wache übernahm es, ihm einen Zettel zu überbringen. Bald kam er mit dem Oberst ins Gefängnis. Er hatte diesem gedroht, er würde sein Amt verlieren, wenn er uns nicht freiließe, denn er habe sich schwer verschuldet, und der Mann war wie umgewandelt. Höflich und freundlich führte er uns aus dem Gefängnis und fragte, ob wir es auch gut gehabt hätten, ob man mich gut bedient, und ob ich ein Bett gehabt hätte. „Ja, das Bett, das Sie da sehen, das haben Sie mir gegeben", sagte ich und zeigte auf den Fußboden.

    Der Priester hatte auch Angst bekommen und lud uns alle zum Mittagessen ein. Wir wurden mit dem schönsten Braten bewirtet, und er bat sehr um Verzeihung, daß sie diesen Fehlgriff getan hätten, und bald waren wir gute Freunde. In den besten Wagen in Begleitung von Kosaken fuhren wir fröhlich singend aus dem Dorf wieder nach Hause.

 

EINWEIHUNG EINER MÜHLE

      Nicht immer verhielten sich die orthodoxen Geistlichen ablehnend und feindlich gegen unsere Tätigkeit. Ich habe es erlebt, daß Priester selbst durch das Wort Gottes innerlich ergriffen wurden und ihre Verschuldung als Hirten der Gemeinde sehr bereuten.

Oft war es nur eigene Unwissenheit, die sie zu blinden Blindenleitern machte. Wenn dann das Wort Gottes ihre Herzen traf, erschraken sie und beugten sich unter der Wahrheit. Aber ihre Stellung wurde durch eine Umkehr nicht leicht. Trinkende, fluchende, unsittliche Priester konnte eine orthodoxe Kirche ertragen und dulden, aber nicht Geistliche mit wirklichem Leben aus Gott.

      Vor dem Weltkriege sollten wir unweit Z. eine Walzmühle aufstellen, an der ein russischer Geistlicher Teilhaber war. Um den Bau vorzubereiten, reiste ich hin und wurde von demselben am Bahnhof empfangen. Er brachte mich in sein Haus und lud mich zu Tisch. Es war gerade Fastenzeit, aber der Tisch war mit allen möglichen Fleischgerichten beladen. An die Tür wurde eine Wächterin gestellt, damit niemand die Tischgesellschaft bei diesem verbotenen Mahl überraschen sollte.

     Auch der Priester aus dem Nachbardorf und seine Frau waren eingeladen. Ich aß von allem, trank aber nicht. Alle vier, die beiden Geistlichen und ihre Gattinnen, wurden trunken und betrugen sich wenig angenehm.

      Zur Nacht wies man mir ein Zimmer im Hause des Geistlichen an, und am frühen Morgen erwachte ich durch ein Klopfen an das Fenster des Nebenzimmers, „Batjuschka, Batjuschka, kommen Sie, mein Kind wird sterben, segnen Sie es." „Nicht einmal in der Nacht lassen sie mich schlafen", brummte der Geistliche, drehte sich in seinem Bett um und schlief weiter. Als man wieder klopfte, sagte er: „Ich kann nicht kommen!"

      Es blieb einige Zeit still, doch dann klopfte es wieder so dringend, daß er sich bequemen mußte, aufzustehen. Taumelnd ging er hinaus, und schon um neun Uhr kam er zurück.

Nach einem halben Jahr, als die Mühle fertig war, bekam ich ein Telegramm von dem Geistlichen mit der Einladung zur Einweihung derselben. Als ich des Morgens ankam, bat er mich, an der Feier teilzunehmen. Ich sagte, ich sei bereit, aber nur, wenn er mir erlaube, ebenfalls die Mühle einzuweihen: „Wie werden Sie das machen?" fragte er erstaunt. „Sehr einfach und mit sehr guten Erfolgen", sagte ich. „Wie, wie?" „Ich werde von Menschen lesen, die ihr Haus auf einen Felsen und von solchen, die ihr Haus auf Sand bauen. Dann spreche ich darüber, und die Bauern werden sich das zu Herzen nehmen. Das wird ein Segen für Ihr Geschäft sein. Sie können dadurch viel Glück und Verdienst haben, und Ihre Gemeindeglieder werden das Stehlen lassen.”

     „Das ist ja etwas Großartiges, ja, das will ich, das Recht räume ich Ihnen ein.” „Ich habe aber noch eine Bedingung." „Was denn noch?" „Läuten Sie morgen um neun Uhr die Glocken, damit alle Dorfbewohner zusammenkommen und anhören, was ich sage und an der Einweihung teilnehmen."

    So geschah es. Am Morgen läuteten die Glocken, und die Bäuerlein mit Weib und Kindern strömten herbei. Der Nachbargeistliche war auch wieder erschienen, ebenso der Diakon und der Psalomtschik. In vollem Ornat zogen die Priester durch die Mühle, ich ihnen nach. Mit großen, grünen Besen aus Reisig wurde die Mühle, Säcke und Maschinen mit Weihwasser besprengt, während sie dazu sangen: „Herr, erbarme dich unser!"

    Nach dem Festessen sagte der Geistliche zu dem versammelten Volk: „Jetzt wird Herr M. euch ein sehr interessantes Wort sagen."

    Ich las Matth. 7,13 bis zum Schluß vor und sprach von dem Felsen Jesus Christus. „Alles, was nicht auf diesen Felsen Jesus gegründet ist, ist auf Sand gebaut und gehört ins Reich der Finsternis. Aber alle, die auf diesen Felsen gegründet sind, empfangen ewiges, neues Leben, Vergebung der Sünden und die Gewißheit der Seligkeit." Die Ansprache dauerte lange.

    Mitten in der Rede unterbrach mich der Priester und rief zitternd: „Halt, ich habe etwas zu sagen”.  Dann erhob er die Hände und sprach tiefbewegt: "Meine lieben Mitbürger, das ist Wahrheit, was der Mann uns sagt. Weder ich noch andere haben euch das gelehrt, und wenn wir uns nicht auf diesen Felsen gründen werden, dann gehen wir verloren. Glaubt nicht", — die Hände emporhebend — „daß diese breiten Ärmel es machen, daß der, welcher in ihnen steckt, besser ist als ihr. Auch diese Haare", — und er zeigte auf seine Haare (Bekanntlich wird den russischen Priester das Haupt- und Barthaar nicht beschnitten.), — „sind es nicht. Der sie trägt, ist nicht besser als ihr. Wenn wir uns nicht bekehren, gehen wir alle verloren. Unser Kirchenwesen ist eine tote Zeremonie, die nur Tod gebären kann, nicht Leben. Sie ist von einer bröckligen Mauer umgeben, die sehr viele durchbrochene Stellen hat, durch die Diebe, Trunkenbolde, Hurer und Mörder eingehen. Wir sind machtlos, Abhilfe zu schaffen und gehen alle verloren, wenn wir uns nicht auf diesen Felsen Christus gründen."

    Der Diakon und der Priester fielen ihm nun ins Wort und ließen ihn nicht weiterreden. Ich setzte meine Ansprache fort und schloß die Einweihung mit Gebet. Soviel mir bekannt ist, wurde der Geistliche seines Amtes enthoben.

 

GESCHÄFTSREISEN

    

    Unser kleines Unternehmen machte mancherlei geschäftliche Reisen notwendig. Auf allen diesen Reisen besuchte ich immer die russischen Gemeinden. Oft war mein Schwager nicht ganz zufrieden damit, weil ich zu lange wegblieb, und von geschäftlicher Seite betrachtet, hatte er ganz recht. Aber ich konnte nicht anders. Mir war es wichtiger, Menschen zu Jesus zu führen, als Geschäfte zu machen. Auch boten mir meine Reisen viel Gelegenheit, mit einzelnen Menschen Gespräche anzuknüpfen und sie auf das Eine hinzuweisen, was not tut.

     Eines Tages erschien in unserer Fabrik ein Reisender, der sich Monteur der Firma K. aus Moskau nannte. Er hinterließ uns die Preisliste seiner Waren und bat, Maschinen, die wir brauchten, aus seinem Geschäft zu kaufen. Da es uns sehr schnell gelang, einen seiner großen Motor zu verkaufen, reisten mein Schwager und ich nach Moskau, um die Vertretung zu übernehmen. Dort angekommen, empfing uns der Monteur sehr freundlich und zeigte uns alles, was wir zu sehen wünschten. Wir baten, uns zum Besitzer der Fabrik zu führen, und es stellte sich heraus, daß er es selbst war.

    Freundlich lud er uns in sein Haus zum Mittagessen ein, und wir kamen durchs Speisezimmer. Die beiden Herren waren vorausgegangen, und als ich nachkam, stand die Hausfrau am Brotschrank und schnitt Scheiben ab, hatte aber in dem Schrank eine offene Bibel liegen, in der sie so eifrig las, daß sie mein Kommen überhörte. Ich kam leise herzu und schaute ihr über die Schulter. Als sie mich bemerkte, erschrak sie, aber ich sagte:

„Erschrecken Sie nicht, das ist das einzige Buch, das Menschen die Gewißheit des ewigen Lebens bringen kann." Erstaunt und schweigend schaute sie mich an, „Glauben Sie es, daß dieses Buch wirklich eine Kraft enthält?" fuhr ich fort, „Ja", sagte sie, „das glaube ich, aber nicht für jeden Menschen."

     „Haben Sie schon daran gedacht, daß Sie sterben und vor Gott erscheinen müssen?" fragte ich weiter "Ja, lieber Mann, aber wer sind Sie eigentlich?" fragte die Frau, "Das werde ich Ihnen später sagen", gab ich ihr zur Antwort, „jetzt wollen wir uns erst über die Frage klar werden, ob Sie zum Reich Gottes gehören. „Das weiß ich nicht, aber ich möchte wohl dazu gehören" „Haben Sie schon darum gebetet?" »Ja, oft." „Hat es Ihnen geholfen?" „Nein!" „Glauben Sie wirklich, daß Gott uns Seinen einzigen Sohn gab, auf daß alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden?" „Ja, das glaube ich. Aber wir können in unserem Hause nicht oft in der Bibel lesen, wir haben so sehr viel Besuch und dadurch viel Unruhe." „Aber zum Sterben werden Sie Zeit haben." „Ja, dazu muß Zeit sein."

     Nach längerer Zeit merkte ich, daß hier ein suchendes Menschenkind war, wir gingen in ein Nebenzimmer und beteten.

     Als ich zum zweitenmal nach Moskau kam, fand ich diese Frau als ein glückliches Gotteskind, und ihre Tochter war ihr gefolgt. Bald bekehrte sich auch ihr Mann, und wir wurden später sehr vertraute Freunde. Mehrere Male waren sie bei uns zu Besuch, und er betete immer laut, sang gern und rühmte froh die Barmherzigkeit Gottes.

      Im Jahre 1913 bekam ich von seinem Sohn, welcher Offizier war, einen verzweifelten Brief. Er war innerlich so zerrissen, daß er beschlossen hatte, Selbstmord zu begehen. Da ich nicht zu Hause war, las meine Frau den Brief. Sie schickte kurz entschlossen ein dringendes Telegramm an den Offizier mit der Bitte, er möchte nach M, kommen. Ohne zu ahnen, was das bedeuten sollte, stieg er in den ersten Schnellzug und kam zu uns. Ich war auf Reisen, und mein Zug kam erst einige Stunden später an. Und so wußte ich von diesem allem nichts. Auch Prediger O. war mit mir, wir hatten uns unterwegs getroffen und ich bat ihn, er möchte mitfahren, um uns mit dem Worte zu dienen.

    Als wir unser Haus betraten, kamen uns meine Töchter entgegen und sagten: „Leise, leise, Mama betet!”

     Als wir an der Tür vorbeigingen, hörten wir, daß meine Frau mit dem Sohn des Herrn K. betete. Wir gingen hinein und knieten ebenfalls nieder. Der Offizier kam zum Glauben an Christus und dankte Gott für die wunderbare Führung.

     Als der Krieg ausbrach, war er einer der ersten, die ins Feld zogen. Wiederholt schrieb er von wunderbaren Bewahrungen, die er erlebte. Rechts und links fielen seine Kameraden, aber er blieb verschont. Mit großem Eifer missionierte er unter seinen Untergebenen, trotzdem dies bei hoher Strafe verboten war und er auch angeklagt wurde. Da er aber fast immer unentbehrlich war, schob man die Gerichtsverhandlung hinaus, und als die Revolution ausbrach, geriet sie in Vergessenheit. Zum erstenmal seit Kriegsausbruch besuchte er seine Eltern und kam auch zu uns nach M. Er verheiratete sich bald darauf mit der Tochter eines Vorkämpfers der evangelischen Bewegung in Südrußland. Ich durfte der Hochzeit beiwohnen.

     Nach dem Ausbruch der Revolution kämpfte der junge K. auf Seiten der sogenannten Weißen Armee. Als diese unterlag, floh er mit seiner Truppe nach Rumänien. Seine Frau mußte in Rußland bleiben. Als ich sie einmal besuchte, bat sie mich, ich möchte es ihr ermöglichen, zu ihrem Mann nach Rumänien zu kommen. Er hatte ihr mitgeteilt, daß an der Grenze alles bereit sei und den Weg beschrieben, den sie benutzen sollte. Sie hatte versucht, ihn einzuschlagen, aber da ein kommunistischer Jude sie begleiten sollte, war ihr die Sache zu unsicher. Dann schrieb er, sie möchte nach 0, kommen, von dort aus würde er es ihr möglich machen, hinüberzufahren.

     Sie reiste hin und wartete lange auf Antwort. Der Offizier schickte einen Gesandten aus Rumänien, um sie holen zu lassen. Da er lange ausblieb, sandte er einen zweiten. Auch dieser kam nicht wieder, und nun schickte er einen dritten. Endlich entschloß er sich nach langem Warten, selbst die Fahrt zu wagen, um seine Frau zu holen.

Als er über die Donau fuhr, begegnete ihm ein anderes Boot, das aus Rußland kam und nach Rumänien fuhr. — „Also wird es möglich sein, durch die Wache zu kommen", dachte er, „es ist keine Gefahr».

     Durch den ersten und zweiten Grenzposten kam er unbemerkt, aber bei dem dritten wurde er festgenommen und der G.P.U. ausgeliefert. Hier saß er zwei Monate in O. und wurde dann nach Moskau übergeführt. Als Offizier hatte er keine Hoffnung, am Leben zu bleiben. Sechs Monate war er in Moskau im Gefängnis, ohne daß Mutter, Schwester und seine Frau darum wußten. Das Gericht milderte das Todesurteil in Verbannung nach Sibirien, und man transportierte ihn an den Fluß Lena. Da er von technischen Dingen einiges verstand und kein weiterer Mechaniker an seinem Verbannungsort wohnte, übergab man ihm die Reparatur mehrerer Motorboote, und er verdiente dadurch dreißig Rubel.

    Inzwischen hatte er nach Moskau geschrieben, worauf seine Mutter ihm auch zehn Rubel schickte. So hatte er vierzig Rubel, verschaffte sich dafür einen Paß und entschloß sich, zurück nach Rumänien zu fliehen. Er kam glücklich bis nach Moskau, und spät abends erschien er plötzlich bei seiner Mutter und seiner Schwester. Sie erschraken sehr, verhielten sich aber still, damit die Hausbewohner es nicht merkten. Am Morgen besorgte die Schwester ihm eine Fahrkarte nach Kiew, und von da aus kam er wieder bis zur Donau. In finsterer Nacht schlich er durch die Wache. An einem hohen Ufer entkleidete er sich, schnürte seine Sachen in ein Bündel und sprang ins tiefe Wasser. Wie er uns später schrieb, wäre er bald ertrunken.

    Unerwartet und unversehrt kam er nach Rumänien zu seiner Frau, denn sie war es gewesen, die in dem Boot über die Donau fuhr in jener Nacht, als er in einem anderen Boot nach Rußland fuhr.

Teil IV

Revolutionsschrecken

   

     Als die Revolution mit allen Schrecken unser Land überflutete, erlebten auch wir in M. große Umwälzungen. Die Fabriken, Geschäfte und Wohnhäuser wurden enteignet, und nur wenige wohlhabende Einwohner blieben im Ort. Wer fliehen konnte, floh, um sein Leben zu retten. Bald stellte sich auch Mangel an Lebensmitteln ein, und die Bevölkerung mußte in langen Reihen vor den Läden stehen, um das Notwendigste zu erhalten. Am neunten Tage der Revolutionsregierung klopfte es in einer Nacht an unsere Tür. Als ich aufmachte, kam eine Abteilung Soldaten ins Haus, die von dem Revolutionsgericht geschickt worden waren. Wir wurden alle aus den Betten geholt — nur das Notdürftigste durften wir anziehen — und aus dem Hause gejagt. Draußen war es sehr kalt, denn es war Februar, und Frau und Kinder zitterten vor Kälte und Angst, aber die Soldaten hatten kein Erbarmen. Wir mußten alles stehen und liegen lassen und auf die Straße gehen. Ich bat um ein Zimmer oder eine Wohnung, wenn man mir mein eigenes Haus nähme, aber sie lachten nur.

      „So laßt mich los, daß ich selbst suchen kann.” „Ihr habt kein Recht zu leben. Ihr müßt in der Kälte umkommen!" war die höhnische Antwort. Meine Frau und Kinder fingen an zu weinen und zu bitten, und endlich ließ man mich doch frei. Ich ging zum Vorsitzenden der Stadt, einem früheren ungelernten Arbeiter aus meiner Fabrik. Als ich zu ihm kam, war er sehr verlegen und konnte mir nicht in die Augen schauen. Nach langem Bitten meinerseits gab er endlich Befehl, mir einen Erlaubnisschein für ein Dachzimmer auszuschreiben. Als wir den uns zugewiesenen Raum betraten, war unser Erstaunen sehr groß, denn es befanden sich darin bereits etwa dreißig Personen. Und nun kamen wir sechs noch dazu. Es war kaum Platz, nebeneinander zu liegen.

     Das war eine schwere Lage, plötzlich ganz bettelarm, ohne Heim und ohne Mittel dazustehn, vertrieben vom eigenen Hof. Das kann nur der verstehen, der es erlebt hat. Wir hatten weder Betten zum Schlafen, noch Stühle zum Sitzen. Da ging ich am nächsten Tage stillschweigend in unser Haus zurück und holte unter Lebensgefahr das Nötigste. Die Not trieb mich dazu.Es wurde nicht bemerkt.

    Am nächsten Tage kamen wieder Reiter und riefen mich hinaus. Meine Frau und Kinder waren schon halb krank von all den Aufregungen, ebenso die anderen, die mit uns zusammen wohnten. Mit einigen anderen Männern, unter denen auch mein Schwiegervater war, trieb man mich zur Stadt hinaus.

    „Siehst du, daß sie uns zur Hinrichtung führen?" flüsterte einer der Männer mir zu. Aber das erregte mich nicht, denn in mir war tiefer Friede, und ich erwartete nur mit einer gewissen Spannung, wie Gott uns aus dieser Lage befreien würde. Furcht empfand ich nicht. Die letzten Häuser verschwanden, die Stadt lag hinter uns. Da merkten auch wir, daß es zum Tode gehen sollte, und wohl alle seufzten zu Gott.

    Plötzlich gebot der Führer: „Halt!” Unsere Wachen berieten halblaut miteinander, dann befahlen sie; „Kehrt!", und unsere Begleiter brachten uns in die Stadt zurück und sperrten uns in ein ungeheiztes Zimmer. Am anderen Morgen erfuhren unsere Angehörigen, wo wir seien und brachten uns Frühstück. Später setzte man uns in ein früheres Polizeizimmer, wo sich bereits achtzehn Mann befanden. Es war ebenfalls ungeheizt, unsere Lager befanden sich auf dem kalten Fußboden, aber allmählich gewöhnten wir uns an diese Ungemütlichkeit.

Unsere Angehörigen versuchten natürlich alles, um uns zu befreien, und es gelang in der Tat zweien von uns, durch Aufwendung großer Summen seitens ihrer Frauen, frei zu werden. Ich selbst aber mußte dableiben.

    Eines Abends, es war nach Verlauf von zwei Wochen, wurde einigen von uns befohlen, Spaten und Eisenstangen zu nehmen und in einem Garten hinter der Stadt unter starker Bewachung ein Grab für dreizehn Personen abzumessen, das sie in zwei Stunden fertig graben sollten. Die Erde war zu Stein gefroren, Stück für Stück mußte aufgehackt werden, unsere Kräfte erlahmten, und wir wurden furchtbar müde. Aber mit Kolbenstößen trieb man uns an, weiter zu graben, wenn wir nachließen. Nach Ablauf von zwei Stunden hatten wir kaum die trockene Erdschicht beseitigt, dann trieb man uns wieder zurück.

    Es war uns allen klar, dreizehn Mann sollten diese Nacht erschossen werden. Aber wer? Es wurde zehn, es wurde elf Uhr. Ich versuchte die Gedanken der Menschen auf die Ewigkeit zu lenken, aber nur Todesfurcht beherrschte die Gemüter. Da habe ich es in furchtbarer Wirklichkeit erleben müssen, daß der Mensch in Todesängsten nicht mehr fähig ist, an sein Seelenheil zu denken.

    Um Mitternacht tat sich die Tür auf, und ein mir wohlbekannter Bahnarbeiter, in jeder Hand ein Gewehr haltend, trat ein. Mit fürchterlicher Stimme schrie er: „Werft euch alle auf euer Angesicht l”  Wir folgten augenblicklich. Dann brüllte er: „I., komm heraus!” Dieser Mann umklammerte mich in Todesangst, ohne ein Wort zu sagen, aber ihm wurden mit Füßen und Gewehr die Rippen eingestoßen, und er wurde geschlagen, bis er fast bewußtlos war. Dann band man ihm in fürchterlicher Weise mit einer dünnen Schnur die Hände auf dem Rücken zusammen, daß es fast nicht mehr mit anzusehen war. Da rief er laut: „Kornelij Jakowlewitsch" (Vor- und Vatersnamen des Verfassers (Kornelius, Sohn Jakobs), "rette meine Seele!"

    Ich stand von der Erde auf. Man schrie mich an, ich sollte mich wieder hinwerfen, aber ich sagte: „Nein! Eure Aufgabe ist es, Menschen zu töten. Meine Aufgabe aber ist, Seelen zur Ewigkeit zu führen. Ich gehorche euch nicht!"

    Diese entschiedene Antwort ließ sie verstummen. Vor unserem Fenster wurde dieser arme Mann noch furchtbar gequält, bis endlich ein Schuß seinem Leben ein Ende machte. Dann holte man einen zweiten, einen dritten, alle dreizehn. So ging es Nacht für Nacht, vierzehn Tage lang. Allerdings brauchten wir das grausame Schauspiel der ersten Nacht nicht mehr sehen, denn nachher wurden die Gefangenen auf andere Weise umgebracht. Schließlich durfte ich, durch die Bemühungen der Meinen befreit, diesen schauerlichen Ort verlassen.

Was wir empfanden? Laßt mich davon schweigen. Eines weiß ich, Gott hat die Tränen gezählt und die Ströme von Blut gesehen, die als Opfer der Revolution die Erde netzten. Und Seine Wege sind unerforschlich. Aber wir blicken nach allen erlebten Schrecken mehr denn je aus nach der Vollendung Seines Reiches, in welchem nicht sein werden Leid noch Geschrei noch Tränen. —

GOTT LÄSST SICH NICHT SPOTTEN

    Meine russische Gemeinde litt in dieser Zeit des allgemeinen Umsturzes sehr. Da wurde offenbar, welche Gesinnung in den einzelnen lebte. Einige beteiligten sich an den Agitationen und gingen unter im Materialismus und Atheismus. Diese wurden dann unsere größten Feinde. Aber viele blieben treu und waren ein lebendiges Zeugnis für den Herrn in der Zeit des Abfalls.

    Unsere Lage war traurig und schwer. Nach vielen Bemühungen gelang es mir endlich, eine Anstellung in einem Fabrikbüro zu finden, um dadurch für den Unterhalt meiner Familie zu sorgen.

    In dieser Zeit erlebten wir zwei erschütternde Todesfälle. „Der Gottlose fährt dahin", konnte man wohl sagen. Der Vorsitzende des Tribunals, der eine Unmasse Menschen auf grausamste Weise hatte hinrichten lassen, wurde schwer krank. Als ich es hörte, besuchte ich ihn in Begleitung eines Bruders. Sein Angesicht war wie ein Höllengesicht, von Laster und Sünde gestempelt. Als wir ihn ansprachen, drehte er sich um, ballte die Fäuste, knirschte mit den Zähnen und stieß Verwünschungen gegen Gott aus. „Und siegen werden wir doch!”  schrie er. „Und hinrichten werden wir alles, was uns hindert und im Wege steht!" Von der Ewigkeit zu sprechen, war hier ganz zwecklos. Wie ein Tier starb der Mann in der Nacht.

    Bald darauf starb auch der Vorsitzende der Stadtbehörde, unser früherer Schmied. Er war in der Stadt ein großer Mann geworden. An einem Sonntag veranstalteten die Kommunisten eine große Aufklärungsversammlung. Unser Schmied G. war der Hauptredner, obgleich er kaum schreiben und lesen konnte. Erst sprach er eine Stunde lang in größten Schimpfworten gegen alle, die nicht ihres Sinnes seien, und dann richtete er seine Rede gegen Gott.

„Seine Kanzlei werden wir aus dem siebenten Himmel herunterholen. Wir werden auch im Himmel Revolution anrichten!”  rief er. Ein lieber, gläubiger Russe, der zugegen war, stand auf und sagte:

    „Genosse, du darfst alle beschimpfen, die Macht hast du. Aber Den, vor dessen Angesicht und Richterstuhl wir einst alle stehen müssen,den laß aus dem Spiel. Du kannst einmal hart von ihm bestraft werden."

     Daraufhin ließ der Schmied den Russen festnehmen, man gab ihn aber bald frei. Nach drei Tagen rief man ihn mit mir zusammen zu dem Schmied. Wir fanden ihn auf einer rohen Bretterbank, ohne Betten und Decken, in schmutzigen Kleidern in den letzten Zügen. Sein Angesicht war verzerrt, wie das des Vorsitzenden des Revolutionsgerichtes. Als ihm gesagt wurde, daß wir gekommen seien, drehte er sich mühsam um, sah uns lange mit stieren Augen an — seine Kollegen von der Stadtverwaltung waren auch da — dann hob er die Hand und rief: "Und es gibt doch einen Gott, aber nicht für mich", drehte sich um und starb nach einigen Stunden.

    Unsere enteignete Fabrik wurde ihm zum Gedächtnis nach seinem Namen genannt und heißt noch heute so.

IN TODESGEFAHREN

    Die Lage der roten Armee in unserem Bezirk war nicht beneidenswert, da ihre Gegner, die sogenannte Weiße Armee, immer näher ruckte. So versuchten sie mit allen aufzuräumen, von denen sie etwas zu fürchten glaubten. Eines Tages bekam ich auch einen Wink, daß ich gefangen genommen werden sollte.

    Ich versteckte mich in den elektrischen Werken der Stadt, aber es wurde mir dort zu unheimlich, und ich entschloß mich, nach Hause zu gehen. Kaum war ich daheim, als die roten Soldaten kamen und mich wiederum zum Revolutionsgericht führten.

Der Nachfolger des früheren Vorsitzenden des Tribunals war ein intelligenter Mann, aber er war wohl noch schlimmer als der erste, denn er verfolgte seine Ziele mit mehr List und Bedachtsamkeit. Persönlich kannte er mich gut, denn ich hatte früher oft mit ihm in unserem Hause über religiöse Fragen gesprochen.

    Er empfing mich freundlich. „Warum haben Sie mich wieder festgenommen?" fragte ich. „Weil Sie allein übriggeblieben sind”, antwortete er. Die anderen „reichen”  Einwohner von M. waren erschossen, gefangengenommen oder geflohen.

    Im Keller, in den ich nun gebracht wurde, waren bereits 108 Menschen, Frauen und Männer, Russen und Deutsche, eingesperrt. Der Raum wimmelte von Ungeziefer, man konnte sich die Läuse fast abscharren, der Fußboden war naß und kalt. Beinahe alle Anwesenden kannte ich, es waren unschuldige Menschen aus der Stadt. Zwei meiner Verwandten folgten mir bald. Nun ging das Erschießen wieder los. Die Gefangenen wurden einzeln ins Nebenhaus gebracht und hingerichtet. Auch mich holte man eines Tages. Im Hinrichtungszimmer saßen fünf bewaffnete Kommunisten an einem Tisch.

   „Zieht ihn aus”, befahl der Gehilfe. Der Vorsitzende schwieg still. "Jch werde mich allein ausziehen!”  sagte ich."Ihr seht, daß ich mich nicht fürchte. Ich weiß, daß der Gott, an den ich glaube, mich auch aus eurer Hand erretten kann. Und wenn Er es nicht tut, dann sterbe ich ruhig, denn ich gehe nach Hause!”

   Da wurde der Gehilfe des Vorsitzenden wütend, sprang auf, nahm seinen Revolver und schrie: "Das werde ich dir beweisen, daß dein Gott dich diesmal nicht retten wird.”

Er streckte die Hand aus, aber schießen konnte er nicht. Zweimal, dreimal versuchte er es. Ob es ein Krampf in der Hand war, ich weiß es nicht. Aber eines wußte ich: Gott kann auch aus Feindeshand erretten.

   Ein Genosse zog den wütenden Gehilfen endlich zurück und sagte: „Weißt du denn nicht, wer der Mann ist? Er ist doch ein Stundist”, und zu mir gewandt schrie er: „Hinaus mit dir!” Ich wurde wieder in den Keller gebracht.

   In unserem Gefängnis war eine sehr gedrückte Stimmung. Jeden Tag wurden einige abgeführt, und niemand wußte, wann die Reihe an ihn kam. Einige gingen aufgeregt hin und her, andere saßen still und teilnahmlos am Boden zusammengekauert, manche versuchten sich durch allerlei Zeitvertreib über die schwere Lage hinwegzusetzen. Frauen und Männer knieten in den Ecken, bekreuzten sich und riefen die Mutter Gottes und die Heiligen um Rettung an. Ihre tränenbenetzten Gesichter anzusehen und ihr fortwährendes „Gott, erbarme dich" anzuhören, war erschütternd. Manche am Rande der Verzweiflung stehende Seele durfte ich auf den wahren Retter aus Todesfurcht hinweisen.

   Wieder war ein langer Tag verflossen mit bangem Warten. Was wurde der Abend bringen? Am Tage war die Stimmung im Keller noch erträglich, aber wenn die Dämmerung nahte und die Lichter angezündet wurden, senkte sich Schwermut auf die Gemüter, denn im Dunkel schlich das Grauen. Gegen Abend flüsterte uns der Wächter zu: „Heute Nacht werden 59 Mann erschossen werden!”

   In ihrer Verzweiflung beschlossen die Gefangenen, einen Aufruhr zu veranstalten, die Wachen zu überrumpeln und zu entfliehen. Dazu kam es aber nicht, denn diese waren verdoppelt worden, als man um 11 Uhr 35 Mann einzeln hinausrief. Nach einer halben Stunde kamen die Soldaten zurück und holten eine neue Abteilung Gefangener, darunter auch mich. Zu Fuß wurden wir zum Bahnhof getrieben, wo ein Güterwagen auf uns wartete, dessen Boden voll stinkendem Schmutz war. Nachdem wir in den Waggon hineingestopft worden waren, wurde dieser geschlossen. Manche sanken vor Müdigkeit und Angst auf den ekelhaft schmutzigen Boden nieder.

   Nun sollte die Todesfahrt beginnen. Eine Lokomotive wurde an den Wagen gekoppelt, aber zur Fahrt kam es noch nicht. Es war unerwartet unruhig in der Stadt geworden, ein Reiter sprengte heran und befahl, mit der Abfahrt zu warten. Bis zum Morgen standen wir auf dem Bahnhof.

    Unsere Angehörigen hatten inzwischen erfahren, daß wir zur Hinrichtung abtransportiert werden sollten, und kamen heimlich, um uns noch einmal zu sehen. Von ferne winkten die von Leid gebeugten Frauen uns ihre Abschiedsgrüße zu.

   Endlich, gegen Morgen, ging die Fahrt los. Die Lokomotive gab Dampf, der Zug setzte sich in Bewegung, — zur letzten Reise, aber Gott hatte auch diesmal schon Mittel und Wege gefunden, um uns auf wunderbare Weise zu erretten. In der Nacht waren Kosaken durch die Front gebrochen und hatten die Schienen aufgerissen, und wir mußten mitten auf dem Felde stehenbleiben. Es dauerte nicht lange, so begann in unserer unmittelbaren Nähe ein heftiges Gefecht, weiße Soldaten kämpften gegen rote. Bis gegen Abend dauerte die Schlacht, dann kam ein Führer der Roten hoch zu Pferde angesprengt und rief unseren Wachen zu: „Rettet euch alle durch die Flucht, die Arrestanten müssen bis an den Berg G, getrieben und alle erschossen werden. Nicht einer darf leben bleiben. Wehe dem, der diesen Befehl nicht befolgt."

    Unsere Rotgardisten ließen uns in aller Eile aus dem Wagen heraus und jagten uns zwölf Kilometer durch die Steppe dem Berge zu. Ich war ziemlich weit hinten, und ein Soldat, der Mitleid hatte, flüsterte mir zu; „Werfen Sie sich auf die Erde und verhalten Sie sich ganz still!" Dann befahl er den anderen: „Niemand darf sich umschauen."

Einige in meiner Nähe, die seine an mich gerichteten Worte doch gehört hatten, warfen sich hin, ich aber wurde weiter getrieben. Plötzlich hörten wir vorne ein Geschrei:

„Rette sich, wer kann, die weißen Soldaten haben uns umringt." Das gab eine große Verwirrung, und eine solche hatten die Gefangenen auch mit ihrem Ruf bezweckt, siebzehn Personen gelang es, sich in dem entstehenden Durcheinander durch Flucht vor den Henkern zu retten, die anderen aber haben dort den Tod gefunden.

    Mein Schwager und ich entkamen auch, ohne daß wir von den nachgesandten Kugeln getroffen wurden. Wir versteckten uns hinter einigen Bäumen, schlichen uns langsam immer tiefer in das Dickicht und suchten ein Loch, wo wir uns im Laub verscharrten. Doch es war so kühl und naß in unserem Versteck, daß wir Unmöglich die ganze Nacht dort sitzenbleiben konnten.

   Da uns die Gegend sehr bekannt war und wir Verwandte im nächsten Dorf hatten, entschlossen wir uns, sie aufzusuchen. Meine Nichte erschrak sehr, als sie uns plötzlich vor sich sah, gab uns zu essen und zu trinken und versteckte uns bis zum frühen Morgen in einem Zimmer. Noch vor Tagesanbruch kehrten wir wieder in den Wald zurück und blieben den Tag über im Freien. Als gegen Abend alles ruhig zu sein schien, gingen wir in ein anderes Russendorf und trafen unterwegs einen Bauern. Wir fragten ihn, ob die roten Soldaten bei ihnen seien, „Die haben wir alle fortgetrieben, die werden uns nicht länger quälen”, antwortete er.

    Diese Nachricht klang in unseren Ohren wie eine Himmelsbotschaft. Wir schauten uns beide an und konnten kein Wort sagen. Sollten wir wirklich gerettet sein? Ein und das andere Mal stieg diese Frage in uns auf. Es war, als ob die Sonne einen anderen Schein erhalten hätte, die Vögel lieblicher und heller sangen und die Getreidefelder goldener leuchteten. Und ohne, daß wir es merkten, fingen wir an, schneller zu gehen.

Ich zitterte am ganzen Körper vor Freude, es war mir, als ginge ich nicht mit Füßen auf der Erde, sondern schwebte in der Luft. Wirklich errettet? Frei vom Druck der Rotgardisten?

Als ich unsern Hof betrat, — denn mir wurde gesagt, daß Frau und Kinder schon in unser altes Haus eingezogen seien — kam meine älteste Tochter mir an der Tür entgegen und schrie auf: „Mutter! Vater ist gekommen!"

    Alle stürmten herbei, und meine Tochter sagte: „Siehst du, Mutter, ich sagte dir ja, Vater wird nach Hause kommen, dem können die Bolschewisten gar nichts tun."

Aber unsere Wiedersehensfreude sollte nicht lange dauern, die Prüfungen waren noch nicht zu Ende. Bis ins Zimmer konnte ich schon nicht kommen, als die roten Soldaten durch die Straßen zogen, und ich mußte sehen, wie ich wegkam. Da dieselben größtenteils zu Pferde waren, konnte ich nicht zu Fuß entfliehen.

    Glücklicherweise hatten wir noch ein Pferd, und im Nu saß ich darauf und jagte dem Bahnhof zu, wieder heimatlos und flüchtig. Plötzlich hörte ich hinter mir ein großes Geschrei, ich wandte mich um und sah, wie ein Soldat zu Fuß meinen Schwager verfolgte.

Da letzterer schneller laufen konnte, gewann er einen großen Vorsprung, und es gelang ihm, auf mein Pferd zu springen. In diesem Augenblick hatte der Soldat uns erreicht, er wollte die Zügel ergreifen, aber das Pferd scheute, stieg steil in die Höhe und jagte davon, der Verfolger wandte sich fluchend wieder der Stadt zu. Nur mit Mühe konnten wir uns auf dem Rücken des wildgewordenen Tieres halten. Nun ging es vorwärts, aus der Stadt hinaus, Maschinengewehre schossen hinter uns und anderen her, die ebenfalls flohen. Die Kugeln sausten an unseren Ohren vorbei, unser Pferd wurde getroffen und sank in die Knie.

Wir sprangen ab und liefen zu Fuß weiter. Oft mußten wir uns auf die Erde werfen, um uns vor den Kugeln zu schützen, aber wir erreichten doch unversehrt den Wald, der fünfzehn Kilometer von der Stadt entfernt war. Plötzlich bemerkten wir, daß sieben Reiter uns nachjagten. „Leben oder Tod" hieß es nun. Ich sagte zu den andern beiden — wir waren inzwischen drei geworden:

    „Es gibt nur eine Rettung, wir müssen uns im ersten Gebüsch verstecken”, und kroch unter einen dichten Busch, der für uns wie geschaffen war. Die andern folgten. Gott sei Dank ritten die Reiter an uns vorbei und verschwanden in der Tiefe des Waldes.

    An diesem Tage wanderten wir 35 Kilometer bis zu einem deutschen Dorf, wo alte Bekannte uns freundlich aufnahmen. Am nächsten Tag zogen wir weiter, da die roten Truppen immer näher rückten. Wir erreichten das Kosakendorf. Papiere hatten wir nicht, und es war gefährlich, ohne Ausweis einen Ort zu betreten, denn man war in beständiger Gefahr, verhaftet zu werden. Lange sollte die Freiheit auch nicht dauern, wir wurden festgenommen und zum Hauptmann der Stanitza gebracht. Als wir das Geschäftszimmer betraten, kam uns ein Mann entgegen und rief: „Kornelij Jakowlewitsch, wie kommen Sie denn hierher?”

    Es war ein russischer Evangeliumschrist, der früher in M. gewesen war und zu meiner Gemeinde gehört hatte. Nun war er Vorsteher der Stanitza geworden. Er gab uns gute Papiere und ließ uns mit einem Wagen fünfzehn Werst weiter fahren. Dann gingen wir noch dreißig Kilometer bis zur Bahnstation G. Hier konnte mein Schwager nicht mehr weiter, denn er erkrankte schwer an Typhus und mußte liegen bleiben. Ich aber ging noch etwa zwölf Kilometer bis T., wo ich ebenfalls in einem Garten bewußtlos zusammenbrach, von derselben Krankheit gepackt.

    Mitleidige Menschen fanden mich und brachten mich in eine Mühle, deren Besitzer auch auf der Flucht war. Hier lag ich in furchtbaren Schmerzen die ganze Zeit bewußtlos. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Erst als ich eines Tages wie im Traum hörte:„Btudtt Martens hat seine Arbeit getan, da kam ich zu mir, machte die Augen auf und sah meine Frau, meine Kinder und die Schwiegereltern an meinem Lager stehen. Unser Wohnort M, war unterdessen wieder von den Bolschewisten befreit worden, und man hatte sie hergerufen.

Noch an demselben Tage konnte ich nach Hause fahren, doch bekam ich einen Rückfall und lag dann noch sieben Wochen schwer krank zu Bett. Oft wünschte ich, der Herr möchte mich heimholen, das Leben erschien mir, wie einst dem Elias, fast zu schwer. Aber des Herrn Gedanken waren nicht meine Gedanken, Ich wurde wieder gesund.

    Meine Frau hatte in der Zeit meiner Abwesenheit auch viel Schweres durchlebt. Der Vorsitzende der Tscheka war gekommen und hatte Befehl gegeben, meine Frau und Kinder auch zu töten. Die Mädchen hatten sich in der Mühle versteckt, der achtjährige Sohn an einer anderen Stelle. Meine Frau und meine Schwiegermutter waren in ein Russendorf geflohen, wo es ihnen gelungen war, sich bei einem bekannten Arbeiter im Keller zu verbergen. Aber da die Polizei alles nachsuchte und es auch an Verrätern nicht fehlte, wurden beide bald gefunden. Durch Hilfe der Russen, die sie aufgenommen hatten, gelang es ihnen aber, in finsterer Nacht wieder zu entkommen. Sie flohen aus der Stadt und wollten auf das Gut S. Sie wußten nicht, daß diese Gegend auch von Bolschewisten belagert war. So gerieten sie gerade in die Kette der roten Armee, wurden festgenommen und zum Revolutionsgericht gebracht. Die Hoffnung, dem Tode zu entrinnen, schwand. Meine Frau hatte aber einen Fünfhundertrubelschein bei sich, und als sie denselben einem Soldaten in die Hand drückte, verhalf er ihnen zur Flucht.

   Aber wohin? Die Stadt war umlagert, und überall standen Wachtposten. Es blieb ihnen nur ein Ausweg, sie gingen bis zum Teich, und dort saßen sie des Nachts am Ufer, und am Tage standen sie im Schilf in Schlamm und Wasser, oft bis an die Brust tief, um von den Bolschewisten nicht gesehen zu werden. Zwei und einen halben Tag verbrachten sie in diesem Versteck, bis die rote Armee wieder vertrieben wurde und sie heimkehren konnten.

Teil V

 

Die Neue Heimat

   

     Sieben Monate gingen unter der Herrschaft der „Weißen” dahin, und obwohl manches zu wünschen übrig blieb, so freute sich doch jeder seines Lebens. Alles war still, und Handel und Gewerbe konnten ungehindert tätig sein. Auch der größte Teil der Arbeiter war froh und zufrieden.

    Als jedoch gegen Weihnachten wieder die roten Truppen nahten, war es für uns nicht länger möglich, in M. zu bleiben, da wir sonst in zu große Lebensgefahr gekommen wären. So zogen wir denn in den Kaukasus, wo mehrere deutsche Kolonien waren, in denen wir uns verbergen konnten.

    Nachdem ich mich von allen erlebten Leiden erholt hatte, benutzte ich die Zeit meines Weilens im Kaukasus hauptsächlich, um mich ganz dem Dienst der Wortverkündigung zu widmen, Missionsreisen zu machen, und den Kosaken und Russen die frohe Botschaft Christi zu bringen. Die Erinnerungen an diese Reisen mit ihren reichen Erlebnissen, der Hunger und Durst, den ich bei alt und jung, bei reich und arm, bei Russen, Kosaken und Armeniern fand, veranlassen mich, einen ganz kleinen Bruchteil der Segnungen weiter zu geben, die mir zuteil wurden.

    1920 war die große kaukasische Konferenz der Baptisten und Evangeliumschristen. Zur Vorbereitung derselben war auch ich eingeladen. Die beiden evangelischen Bewegungen des Kaukasus vereinigten sich auf dieser Tagung zu einem Bund, um in Einheit und Liebe miteinander das Evangelium zu verkündigen und hinfort nicht mehr zwei Lager zu bilden. Es war eine wunderbare Friedenskonferenz, und ich wünschte, wir erlebten mehr solcher Einigungen.

    Man bestimmte Prediger, um die Gemeinden zu besuchen und die Vereinigung praktisch zu verwirklichen und etwaige Streitigkeiten zu schlichten. Zu diesen gewählten Brüdern gehörte auch ich. So reiste ich zwei Monate umher, schlichtete, wählte Älteste und ordinierte Gemeindeleiter, Überall gelang es, die Hindernisse zu beseitigen und den Auftrag in Frieden auszuführen.

    Als ich nach zwei Monaten nach Hause zurückkehrte, fand ich unser Heim ganz ausgeraubt. Meine Familie hatte nichts, worauf sie schlafen konnte, keine Betten, keine Kissen und Decken, außer einigen alten Mänteln. Ich erschrak sehr, denn wir hatten doch für alle Betten und Matratzen mitgenommen. Was war geschehen? Man hatte in M. unsere Adresse gefunden und war von dort gekommen, um uns alles fortzunehmen. Nicht einmal einen Bleistift und Federhalter hatte man zurückgelassen. Glücklicherweise hatten wir schon vorher einige Kleidungsstücke und etwas Wäsche in der Erde versteckt, und diese waren nicht gefunden worden.

    Das war eine traurige Botschaft. Aber wir suchten und fanden Trost im Wort Gottes und vertrauten Dem, der da gesagt hat: Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach Seiner Gerechtigkeit, und solches wird euch alles zufallen. Und Gott hat uns nicht verlassen. Von allen Seiten erhielten wir, was wir brauchten, oft auf wunderbare Weise. Auch gelang es mir, auf meinen Reisen einige Waren zu kaufen und durch einen kleinen Handel etwas Geld zu verdienen. Das mußte jedoch streng geheim gehalten werden, da mich sonst schwere Gefängnisstrafe getroffen hätte.

    In dieser Zeit wurden viele deutsche Jünglinge und auch russische Gläubige gefangen genommen, weil sie sich weigerten, Militärdienst zu tun. Wie bekannt, haben bis vor kurzem alle den beiden evangelischen Verbänden angehörigen Russen sich geschlossen zu der Wehrlosigkeit bekannt. Erst unter dem Druck der Regierung gab die russische evangelische Bewegung als Bund diese Stellung auf, und dem Gewissen des einzelnen ist es nun überlassen, ob er den Waffendienst leistet oder nicht.

     Jeder muß für seine Überzeugung einstehen. Das gab viele Schwierigkeiten, denn mancher junge Mann wanderte wegen seiner Weigerung ins Gefängnis. Wir deutschen Mennoniten entschlossen uns, um unsere alten Rechte der Wehrlosigkeit zu wahren, uns zu einem kaukasischen Mennonitenbund zusammenzuschließen und die Regierung um Bestätigung der alten Rechte zu bitten. Ich wurde Mitbevollmächtigter dieses Bundes und hatte viel Arbeit, um die jungen Leute vom Militärdienst zu befreien. Nach dem heutigen Gesetz kann jeder frei werden, der seine wirkliche innere Überzeugung und aufrichtige Gesinnung beweisen kann. Um das festzustellen, wird der Betreffende einem Verhör unterzogen, und es gab in Moskau ein besonderes Komitee von Gläubigen verschiedener Richtungen, das die Aufgabe hatte, solche Befreiungsanträge zu prüfen, wenn die Entscheidung des örtlichen Gerichtes nicht gerecht ausfiel. Mir wurde größte Vollmacht von diesem Zentralkomitee gegeben, und es gelang mir, vielen, die um ihrer Überzeugung willen im Gefängnis saßen, zu helfen.

       Eines Tages kam eine Frau F, zu mir und bat mich dringend, ihren Mann vom Tode zu erretten. Er war in der Stadt J. gefangen genommen und zum Tode verurteilt worden. Mit zwei Vollmachten ausgerüstet, reiste ich nach J. und kam mit viel Mühe nach schlaflosen Nächten gerade am letzten Tage vor der Urteilsvollstreckung dort an, denn das Reisen war damals sehr beschwerlich. Ich eilte sofort zum Kommissar, traf ihn aber nicht, sondern nur seinen Vertreter, einen Ingenieur. Als er meine Papiere durchgesehen hatte, sagte er: „Aha, ich weiß, wer Sie sind. Ich bin auch einer von Ihnen. Wir werden die Sache schon machen, seien Sie ruhig. Unser Kommissar ist ein Mann, der kaum schreiben kann, und obwohl er die Bestie selber ist, wird Herr F. frei werden. Kommen Sie nur morgen um l0 Uhr wieder. Ich werde veranlassen, daß man Sie hereinläßt."

    Voller Hoffnung und froh, daß der Bruder gerettet würde, ging ich fort. Am nächsten Tage um l0 Uhr eilte ich wieder zum Kommissar. Es war noch früh, und ich stand im großen Vorsaal und wartete, bis die Einlaßkarten ausgestellt wurden. Da plötzlich kam der Kommissar J. aus M. herein, der mich seinerzeit zum Tode verurteilt hatte und fest glaubte, ich lebe nicht mehr. Ich erschrak so, wie ich es nie vorher und nachher erlebt hatte. Er war, wie ich später erfuhr, aus M. hierher versetzt und Haupttschekist vom ganzen Nordkaukasus geworden. Ich drehte mich eilends zum Fenster, um mein Gesicht zu verbergen, aber der Mörder hatte mich gut erkannt, kam auf mich zu und sagte: „Dreh dich mal um!"

Und als ich es tat, schrie er mich mit brüllender Stimme an: „Du Halunke, du Nichtsnutziger, ich denke, du bist erschossen, und nun sehe ich dich hier? Du hast jedenfalls wieder verstanden, dich mit deiner Klugheit loszukaufen". Meine Knie zitterten, ich war wie gelähmt und konnte nichts antworten.

      „Verantworte dich, Parasit!" schrie er. Da wurde ich plötzlich ganz ruhig, ein tiefer Friede erfüllte mich, und ich sagte: „Ich bin auf ganz ehrlichem Wege frei geworden, wie andere auch.” Etwas beruhigt ging er zu einem anderen Beamten und sprach mit ihm.

     Wie sollte ich mich jetzt retten? Nicht weit von mir war eine Tür, die in einen großen, dichten Garten führte, und als der Kommissar mir den Rücken drehte, war ich mit einem Satz bei der Tür, öffnete sie und verschwand im dichten Gebüsch. So war ich für diesmal wieder gerettet.

     Lange wartete ich, ob man mich suchen würde. Die Uhren schlugen eins, sie schlugen zwei und drei. Um vier Uhr wurde das Verhandlungszimmer geschlossen. Ein Angstgefühl überkam mich, denn der Bruder schmachtete im Gefängnis, und die Frist zu seiner Rettung verstrich. Mein Leben hatte ich gerettet, aber das des Bruders nicht. Da nahm ich allen Mut zusammen und ging wieder hinein. Durch die erste und zweite Wache ging ich bis zur dritten. Innerlich zitterte ich. Ob mein Feind wohl da sein würde?

     Als ich die letzte Wache durchschritt, fand ich im Vorzimmer noch einige Frauen und Männer, die auf Einlaß warteten. Jeder mußte sich melden, und als ich meinen Namen nannte, verschwand der Fragende im Geschäftszimmer, kam aber bald wieder und sagte: "Warten Sie bis zuletzt."

    Da erschrak ich noch mehr, denn nun wußte ich, daß ich nicht wieder aus diesem Hause hinauskommen sollte, Jetzt saß ich also fest. Das war ein furchtbarer Zustand. Ich versuchte noch einmal zu fliehen, aber die Wache ließ mich nicht zurück. Endlich wurde ich als letzter hereingelassen.

    Im Geschäftszimmer saßen mehrere Tschekisten an grünen Tischen. Es waren noch einige Personen anwesend, mit denen sie verhandelten. Ich stellte mich an einen Tisch und wartete, bis ich an die Reihe käme. Da bemerkte ich am Ende desselben ganz in meiner Nähe die Zettel, die man vorzeigen mußte, wenn man die G.P.U, verlassen wollte. Der Kommissar hatte mir den Rücken zugekehrt und schalt gerade wütend auf einen Angeklagten. Leise zog ich einen Zettel näher, steckte ihn in meine Tasche, drehte mich um und ging rasch zur Tür. Der Türhüter hatte nichts gemerkt, und als er den Ausweis sah, ließ er mich durch. So entkam ich dieser Hölle.

    Was die Kommissare sich gedacht haben, daß ich wieder wie vom Erdboden verschwunden war, wird die Ewigkeit offenbaren. Ich nahm es als eine Führung aus Gottes Hand und dankte für diese Errettung. Aber innerlich war ich nicht beruhigt. Was sollte ich tun? Ich ging zu dem Vertreter des Kommissars, dem schon erwähnten Ingenieur, in die Wohnung, und dieser erzählte mir nun, in welche schreckliche Lage ich hineingeraten sei:„Seien Sie froh, daß Sie entfliehen konnten, Sie wären nicht mehr lebendig hinausgekommen. So einen Mut hätte wohl kein zweiter gehabt. Für Herrn F, habe ich auch das Nötige getan, er ist frei.”

    Um nicht wieder gefangen genommen zu werden, ging ich zu Fuß aus der Stadt hinaus, denn ohne Erlaubnis durfte kein Wagen sie verlassen und kein Zug benutzt werden. Über Steppen und durch Wald erreichte ich die nächste Station, wo es mir gelang, durch meine Vollmachten eine Freikarte zu bekommen. Tief bewegt und voller Dank kehrte ich zu den Meinen zurück.

    Bald darauf machte ich verschiedene größere Missionsreisen durch die Dörfer und Städte des Kaukasus, teils allein, teils mit Bruder T. zusammen.

 

WUNDER AN MENSCHENHERZEN

     Wunderbar erquickend waren meine Erlebnisse in den Bergen des Kaukasus. Monatelang bin ich durch die Kosakendörfer gereist und fand überall wartende, sich nach Freiheit und Frieden sehnende Menschen. Wie zur Zeit Jesu alle Welt auf den Messias, den Retter wartete, so sehnen die Völker Rußlands einen Erlöser herbei. Aufgewühlt durch Leid, Tränen und Blut sind sie weit offen für die frohe Weihnachts-Botschaft; „Euch ist heute der Heiland geboren!"

In B. war eine russische Gemeinde, die mich schon lange eingeladen hatte. Ihre Mitglieder waren auch durch viel Trübsal gegangen, denn auch in den Bergen tobte der Bürgerkrieg. Viele Dorfbewohner lebten auf der Flucht in Höhlen und Wäldern, um ihr Leben vor den Banden zu retten, die unbarmherzig ohne Untersuchung die Menschen hinmetzelten.

    Nach der ersten reichbesuchten Versammlung wurde ich zu einer Aussprache in das Haus eines jungen Mannes eingeladen, der sehr suchend war, und ich bat alle, die eine Last auf dem Herzen hätten und frei werden wollten, dorthin zu kommen.

    Als ich hinkam, war das ganze Zimmer voller Menschen. In dieser Nachversammlung brachen außer einigen anderen auch der Besitzer des Hauses und seine junge Frau unter der Last ihrer Sünden vor Gott zusammen und entschlossen sich, ein neues Leben anzufangen. Auf dem Ofen saß der Vater und seine Frau, die etwa siebzig Jahre alt waren. Als sie die Lieder und Gebete und das Wort Gottes hörten, rief der Greis: „Helft mir hinunter, helft mir hinunter, ich will auch mit meinem alten Leben aufhören.”

    Man half dem Alten von seinem hohen Sitz. Der Greis warf sich zu Boden, bekreuzte sich und rief: „Vergib mir meine Sünden!" Da schrie auch die Alte auf dem Ofen: „Helft mir hinunter, helft mir hinunter!” Auch das Mütterchen kletterte herab. Nun lagen die beiden Alten so lange auf den Knien, bis sie die Gewißheit der Vergebung ihrer Sünden fanden.

   Am nächsten Tage bekam ich so viele Einladungen zu Aussprachen, daß es mir nicht möglich war, allen zu folgen. Ich wählte wieder ein Haus und lud zu einer Nachversammlung ein, aber der Raum reichte nicht aus. Auch der Lehrer und die Lehrerin des Ortes erschienen, fielen auf ihre Knie und flehten um Gnade.

    Während der Ansprachen, die ich hielt, schrie plötzlich eine Nonne: „O Gott, o Gott, wie bin ich hierher gekommen?", warf sich auf ihr Angesicht, wie die Russen es tun, bekreuzte sich und betete: „Gott sei mir Sünder gnädig!”

   Eine zweite Nonne drängte sich durch die Reihen zu ihr hin, riß sie hoch und schleppte sie gewaltsam ins Nebenzimmer, sie mit den Fäusten stoßend. Ich ging den beiden nach, und die Nonne sagte weinend zu mir: „Sehen Sie, jetzt habe ich endlich die Wahrheit gehört, die ich suchte, und um die zu finden ich Eltern und Vermögen verließ und ins Kloster ging. Viele Jahre kasteite ich mich, um Gott wohlzugefallen, und wurde nicht besser, sondern schlechter. Nun, da ich endlich gefunden habe, was ich brauche, wird meine Schwester”, — so nannte sie die andere Nonne, — „die bis dahin meine beste Freundin war, meine Feindin und schlägt mich. Jetzt verstehe ich, was Jesus sagt: Ihr müßt um meines Namens willen verfolgt werden.” Und sie sank ohnmächtig zusammen. Wütend riß die andere Nonne wieder an ihren Kleidern, und es gelang ihr, sie hinauszubringen.

    Ich ging zu den Versammelten zurück. Loblieder schallten mir entgegen, mit denen die Anwesenden Gott priesen.

   Auch an diesem Abend empfingen viele Menschen durch Christus neues Leben. Obgleich wir zwei Nächte kaum geschlafen und den ganzen Tag gearbeitet hatten, wurden wir nicht müde der Freude, an der wir teilnehmen durften.

    Früh am nächsten Morgen versammelten sich die Menschen wieder, und als der Gottesdienst begann, war kein Platz mehr da. Auch aus den Nebendörfern kamen viel herzu, die den Markt besucht hatten.

    So ging es Tag für Tag. An diesen Abend stand ein alter Mann auf, dankte Gott, daß er zum erstenmal im Leben das wahre Evangelium vom Heiland der Sünder gehört habe und sagte: „Ich dachte, die Kirche würde dafür sorgen, daß ich selig werde, aber sie konnte mir nichts geben. Mein Gewissen hat mich mehr und mehr verklagt. Heute trieb es mich mit unsichtbarer Gewalt nach diesem Ende der Stadt, ich hörte das Singen, ging hinein und habe nun den Weg in den Himmel gefunden. Endlich kann ich meine Sünden loswerden."

Und wie es bei den Russen oft vorkommt, fing er an, öffentlich seine Sünden zu bekennen. Das machte einen erschütternden Eindruck auf alle, mancher Mund wurde geöffnet und brachte Ähnliches hervor. Ich durfte sehen und erfahren^ wie der König der Ehren in vieler Herzen einzog.

    In der Nähe des Fensters saß eines Tages ein Mann und folgte während der Ansprache sehr unruhig meinen Worten. Plötzlich stand er auf und rief mit lauter Stimme: „Wer hat Ihnen gesagt, was ich alles getan habe? Hören Sie auf, meine Sünden aufzuzählen!" Dabei brach er in Tränen aus.

    „Niemand hat es mir gesagt", antwortete ich, „aber der Herr redet in dieser Sprache zu Ihnen." Da sagte er: „Ich bin bereit, einzugestehen, wer ich bin, wenn es auch mein Leben kosten mag. Ich bin ein Oberst, und es gelang mir, mich hier zu verbergen. Nun will ich ein anderes Leben beginnen und mich zum Herrn bekehren, aber erst muß ich nach Hause gehen, um bei den Meinen vieles gutzumachen."

    Dann verließ er den Saal und ging nach Hause, und am nächsten Tage war er einer der ersten, die Gott lobten und priesen und seinen Namen anriefen. Alle waren über sein Bekenntnis zu Tränen gerührt, und wir hatten eine wunderbare Buß- und Gebetsstunde.

   Aber wo Christus ist, da ist auch der Satan, wo der Segen ist, da ist auch der Fluch. Die Kommunisten verklagten mich wegen Propaganda, und ich wurde zur G.P.U. vorgeladen. Das erregte die ganze Versammlung sehr. Solche Befehle müssen sofort befolgt werden, und so ging ich in Begleitung eines Bruders hin. Im Geschäftszimmer saßen wie gewöhnlich drei Kommunisten mit finsteren Gesichtern. Ehe sie ein Wort sagen konnten, fragte ich den ersten: „Glauben Sie an einen Schöpfer, einen Versöhner und einen Rächer?" Ganz erstaunt und sprachlos starrte er mich an und konnte nichts antworten. Der zweite wollte dazwischenfahren, aber ich sagte: „Die Reihe kommt auch an Sie. Haben Sie nur Geduld!”

   Dann fragte ich den zweiten und auch den dritten und sprach etwa einen halbe Stunde mit ihnen. Das Merkwürdige war, daß mir niemand widersprach, als seien sie unfähig geworden, zu reden, was bei ihnen eigentlich sonst nicht der Fall ist. Nach diesen Unterhaltungen fragte ich: „Weshalb haben Sie mich herkommen lassen? Soll ich Ihnen vielleicht meine Papiere zeigen?” „O nein, wir wollten nur einiges fragen.

   Aber ich zeigte doch meinen Paß und die Vollmachten, die gut in Ordnung waren, und so wurde ich ohne jedes Verhör freigelassen. „Ich gehe”, sagte ich, „aber denkt daran, daß Ihr einmal vor Gott, dem allmächtigen Schöpfer, stehen werdet, und wer sich nicht zu ihm wendet, wird ihm auf tausend Fragen nicht eine Antwort geben können. Das wird ein schauerlicher Zustand sein." „Lieber Bürger, gehen Sie! Beunruhigen Sie uns nicht länger.”

Wie auf Adlersflügeln getragen, kehrten wir in die Versammlung zurück, und obgleich die ganze Verhandlung wohl zwei Stunden gedauert hatte, waren alle Zuhörer noch im Saal und warteten. Die Freude war groß, als wir wiederkamen, und viele riefen: „Wir haben die ganze Zeit gebetet, der Herr wolle Sie bewahren.”

   Am Abend war ich in einem anderen Teil der Stadt eingeladen, und auch Soldaten waren gekommen. Das Haus war groß und konnte viele Menschen fassen. Es gibt ein Lied in Rußland, das heute viel gesungen wird;

   „Nicht Gott, nicht der Kaiser, sondern wir mit unserem Arm haben uns errettet”. Das hatte mein Schwiegersohn umgedichtet: „Nicht der Kaiser, nicht wir mit unserem Arm, sondern Gott in Christus hat uns errettet!"

   Wir sangen das Lied, und als die Soldaten es hörten, riefen sie: „Ja, dieses können wir wirklich singen." Nun mußten alle Geschwister, die schreiben konnten, das Lied abschreiben, und wir gaben es Ihnen. Sie lernten es auswendig, und nach der Versammlung zogen sie laut singend durch die Straßen.

   Das konnte natürlich nicht ohne Folgen bleiben. Nach zwei Tagen wurde ich wieder zur G.P.U. geladen, und als ich die Tür des Geschäftszimmers öffnete, schrie man mir schon entgegen: „Sie haben kein Wort zu sprechen, sondern nur zu antworten."

   Sehr erregt und fluchend sagten sie dann: „Wir werden uns alles unterordnen, und den Gott, an den Ihr glaubt, holen wir auch aus dem Himmel herunter und werden ihn zwingen, seine Alleinherrschaft abzulegen, damit er uns nicht mehr knechten kann. Durch ihn nur haben wir auf der Welt so ein schweres Leben und müssen uns den ganzen Tag quälen."

Mit den häßlichsten Worten lästerten sie. Ich war ganz still. „Nun, warum schweigen Sie denn heute, vor einigen Tagen waren Sie ja so tapfer." „Nein, wenn es über den Allmächtigen geht, den brauche ich nicht zu verteidigen. Er verteidigt sich selbst, und es heißt: Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten. Der Tag der Rache kommt, an dem Ihr Rechenschaft für alles ablegen müßt”.

   Sehr erregt, wie vom bösen Geist besessen, sprang der Vorsitzende auf, stellte sich drohend vor mich hin und sagte: „Sie sind der Schuldner, daß die Revolution nicht durchzuführen ist, wie wir es wollen, und alle solche Menschen wie Sie. Solange Sie nicht in der Stadt waren, hatten wir Ruhe, und jetzt haben wir Mühe, unsere Parteigenossen von ihren Versammlungen abzuhalten. Und das Niederträchtigste ist, wir haben in sieben Tagen achtzehn Mann geworben, und acht sind von diesen schon zu Ihnen übergegangen. Das wird Ihnen nicht so leicht durchgehen. Und da ist noch eine Sache, die müssen Sie hier in unserer Gegenwart klären. Dazu ließen wir Sie herkommen. Wir haben in unserer Organisation einen Menschen, der trinkt, flucht, spielt Karten und treibt allen erdenklichen Unfug. Nun legt er plötzlich das Gewehr zur Seite, und sagt, er glaubt an Gott, Wir hätten ihn schon erschossen, und das Urteil ist bereits ausgesprochen, aber um unserer Regierung gegenüber gerecht zu bleiben, fordern wie Sie als Sachverständigen auf, die Angelegenheit zu klären. Wir werden ihn gleich bringen, und dann sollen Sie ihn in unserer Gegenwart prüfen, und wir erschießen ihn vor Ihren Augen, damit Sie nicht sagen können, wir handeln ungerecht.

    Mit diesen Worten, die mehr eine Drohung bedeuteten, ging er hinaus. Ich schwieg natürlich und betete in meinem Herzen, der Herr wolle Gnade geben, die richtigen Fragen zu stellen, denn es war mir schrecklich, wiederum Zeuge zu sein, wie unschuldige Menschen hingerichtet wurden.

   Bald öffnete sich die Tür, und zwei Tschekisten brachten den Angeklagten herein — noch vor wenigen Tagen hatte ich ihn hinter dem grünen Tisch sitzen sehen. „Dies ist der Mann!" sagte der Vorsitzende, wiederholte alle die Greueltaten, die er begangen haben sollte, und fragte mich: „Nehmen Sie solche Männer auf?" „Ja", sagte ich, „solche haben wir in unserer Gemeinde eine ganze Reihe, aber wir nehmen sie nur auf, wenn sie sich zum Herrn gewandt haben und sich des Heils in Christo erfreuen können." „Nein, danach frage ich Sie nicht; ist dies Ihr Mann? Verhören Sie ihn, und wir werden es gleich erfahren."

   Ich wandte mich nun an diesen Menschen mit den Worten: „Ist es wahr, hast du alles getan, dessen sie dich beschuldigen?" Er war eine Zeitlang still, dann sagte er demütig: „Ja, das ist alles wahr, und ich habe noch viel mehr getan. Der Kollege erzählte nur einen kleinen Teil von dem, was ich verschuldet habe. Drei und ein halbes Jahr habe ich mit ihm viele unschuldige Menschen getötet. Es war uns eine Lust, wenn die Angeklagten uns um ihrer Familien willen ums Leben baten, sie hinzurichten. Du weißt sehr gut, lieber Kollege, daß dieser Mann vor drei Tagen hier war und sagte, daß wir alle vor dem Richterstuhl Christi erscheinen würden und daß wir auch ein Gewissen haben, welches uns verklagt, und wir keine Ruhe finden werden, wenn wir uns nicht zu Gott wenden. Du weißt, wie ich mit dir zusammen ins Quartier ging, geschlagen und zerknirscht. Ich bat dich: Willst du, so wollen wir zu diesem Mann gehen und von diesem schrecklichen Gewissen frei werden. Du wurdest unwillig, ich aber sagte: Wenn ihr auch alle bleibt und ich allein gehe, ich habe mich entschlossen, von heute ab einen anderen Weg zu gehen.

   Dann brach er zusammen und sank auf die Knie. Die Tschekisten sprangen auf und wollten ihn angreifen. Da sprang auch ich hinzu und sagte: „Genossen, legt nicht die Hand an ihn, es wird euch gereuen. Laßt den Mann in Ruhe, Ihr habt mich verlangt, und ich stehe nun als Beauftragter hier. Die Sache wird nicht so leicht sein, wie Ihr euch denkt."

   Sie schauten mich schweigend an, und der Angeklagte fuhr fort: „Und ich entschloß mich nun, den Weg zu gehen, gab dir mein Gewehr und sagte: Von heute ab gehöre ich nicht mehr zu euch. Ich will lieber unschuldig sterben, als unschuldige Menschen töten."

    Ich trat nun zu einem Tschekisten, redete ihm sehr ins Gewissen und sagte: „Ihr richtet euch selber. Seht, euer Kollege ist ein lebendiger Zeuge, der wirklich zu Christus umgekehrt und bereit ist, für Ihn zu sterben. Ihr habt weder gesetzlich noch sittlich ein Recht, ihn zu beleidigen, sondern Ihr müßt euch auch vor Gott beugen und zu ihm kommen, wie euer Genosse. Wenn Ihr es nicht tut, wehe eurer Zukunft."

    Da nahmen sie den Mann bei den Armen, warfen ihn auf mich, daß ich zur Seite stürzte und riefen: „Da, nimm ihn hin und packe dich mit ihm fort von uns."

    Wir verließen beide die G.P.U., und der bekehrte Tschekist begleitete mich zur Versammlung. Plötzlich sagte er: „Nein, ich muß umkehren und noch einige Genossen mitbringen", ging zurück und holte noch drei Kommunisten. Zur Versammlung kamen sie zu spät, sie war aus. Wir wurden aber in eine ärmliche kleine Hütte eingeladen und hatten diesen Abend die Freude, daß der Kommunist zum erstenmal den Namen Gottes öffentlich anrief. Das Gebet ergriff die anderen so, daß noch zwei von seinen Kameraden sich zum Herrn bekehrten. Auch solche Menschen haben eine Seele, die da schmachtet in der Gewalt satanischer Kräfte, und auch sie finden in Christus Versöhnung und Frieden.

    Tag für Tag erlebten wir Wunder an Menschenherzen, und die ganze Stadt geriet in Aufregung. Die Behörde wurde immer unwilliger, und eines Tages erfuhr ich aus sicherer Quelle, daß die Tschekisten beschlossen hätten, mich festzunehmen und zu erschießen, da ich Propaganda unter dem Militär triebe. So mußte ich verschwinden. Eine Schwester versteckte mich in ihrem Hause, und niemand wußte, wo ich geblieben war.

 

 

 

Hier weiter zu Teil VI

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