Zurück zur Hauptseite
Teil 2
Das Ende dieser Geschichte ist uns bekannt. Nur ein Teil der russischen Mennoniten konnte ausziehen. Ich wollte aber wissen, wie war das Leben der Mennoniten davor? Was geschah während des Jahres 1929 in Russland, dass dann am Ende Tausende von ihnen, wie von unsichtbaren Fäden gezogen nach Moskau strömten, um den Auszug doch zu versuchen?
Die sowjetischen Behörden in Moskau waren darüber verblüfft. Wie geht das nur, dass plötzlich tausende Mennoniten nach Moskau kommen, um ein Ausreisevisum zu beantragen? Sie wollten unbedingt herausbekommen, wer die Drahtzieher dieses Zustroms waren.
Ich befasse mich in diesen Ausgaben mit den Informationen, die diesbezüglich in der Zeitschrift “Der Bote” in Jahr 1929 veröffentlicht wurden.
Die erste Nachricht entnehme einem Brief, der in Köppental am Trakt geschrieben wurde und dem Boten zugesandt. Am Anfang des Jahres konnte noch niemand ahnen, welches Drama sich am Ende des Jahres ereignen würde. Wirklich niemand?
Ein Brief im Boten, der am Anfang jenes Jahres veröffentlicht wurde, zeigt dass der Schreiber einen starken Beobachtungssinn hat und erahnt, dass die Dinge nicht so bleiben werden.
“Mit dem Anfange eines neuen Jahres (1929) eilen die Gedanken in die Zukunft. Und ob dieselbe auch noch so verwickelt ist, wie hier zur Zeit, so versucht der Mensch doch immer wieder, etwas Lichtes zu entdecken.
X.,(er bezieht sich auf einen anderen Briefschreiber) kann ich nur mit einem Schlittschuhläufer vergleichen, der die blanke Oberfläche des Eises sieht und sich darüber freut, der sich aber nicht bewusst ist, dass nur eine dünne, in unserem Falle nur sehr dünne Eisschicht ihn trägt, darunter aber tiefes Wasser lauert. Tiefe untere Wasser melden sich schon, und die breiten Risse sollten doch jedermann zu denken geben. Ja, das Wort des Herrn besteht zu Recht: „In der Welt habt ihr Angst." Es wäre meines Erachtens schon im vorigen Jahre Zeit gewesen, dem armen Russland Aufwiedersehn zu sagen. Doch uns allen wurden ja die Pässe abgesagt.
Er erahnt “tiefe Wasser”, er sieht “tiefe Risse” und sieht nun dass die 20 Tausend Mennoniten, die nach der Machnowzeit, in den Jahren 1922 und 23 nach Kanada gezogen waren, das richtige getan haben. Auch er hätte damals mitziehen sollen. Doch jetzt gibt es keine Pässe mehr, um ins Ausland zu gehen.
In der Ausgabe vom 10. Januar bekennt ein Briefschreiber:
“Wenn uns nochmal die Türen sollten geöffnet werden, würden wir in Scharen hinüberkommen.”
Die nächste Nachricht entnehme ich der Ausgabe vom 24. Januar 1929. Sie zeigt uns, wie nach 12 Jahren kommunistischer Herrschaft die mennonitischen Krankenhäuser noch gute Arbeit leisten:
Die mennonitischen Krankenhäuser Südrusslands.
In dem mennonitischen Gebiete Südrusslands gibt es fünf deutsche Krankenhäuser. In diesen Krankenhäusern arbeiten 15 deutsche und ein jüdischer Arzt, die alle aus den Kolonien gebürtig sind; mehr als 30 deutsche Krankenschwestern sind hier angestellt, und alles andere Arbeitspersonal ist ebenfalls nur deutsch. Viele tausende Kranke suchen Heilung ihrer Leiden in diesen Krankenhäusern. Mehr als die Hälfte aller dieser Kranken, Ambulanten und Stationären sind Russen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Sie kommen aus den zahlreichen großen russischen Dörfern, die zwischen den deutschen Kolonien gelegen sind und viele tausende Einwohner zählen.
Obwohl diese Russen kein einziges deutsches Wort verstehen, können sie dennoch in den deutschen Krankenhäusern sehr gut verkehren, denn sowohl die Ärzte wie auch alle Krankenschwestern beherrschen die russische Sprache vollständig und können also den Kranken in jeder Hinsicht den größten Nutzen bringen. Die zahlreichen russischen Patienten ihrerseits bringen den deutschen Krankenhäusern nicht nur großes Vertrauen entgegen, sondern bringen ihnen auch großen materiellen Nutzen und helfen dadurch der deutschen Bevölkerung des Gebietes, die Krankenhäuser zu unterhalten.
Es arbeiten dort also 15 mennonitische Ärzte und 30 ausgebildete Krankenschwestern. Das gibt uns einen Einblick darin, wie weit die Mennoniten nicht mehr nur Bauern waren, sondern Spezialisten auf vielen Gebieten aufzuweisen hatten.
Die folgende Nachricht zeigt eine interessante Strategie, wie die Kommunisten versuchen Herr über die Herzen der Gläubigen zu werden:
In Russland finden jetzt überall religiöse Dispute statt. Ein studierter Theologe Wedensky, Metropolit der neuen Sowjetkirche, bereist alle Städte des Reiches mit seinem atheistischen Gegner, einem Professor, und sie halten dann vor einer immer sensationslüsternen Menge ihre Dispute ab. Der erstere beweist, dass es einen Gott und Christus gibt, während der andere das Gegenteil behauptet. Jetzt hat sich die Welle der antireligiösen Propaganda auch schon bis auf die Dörfer verbreitet.
Am 31. Januar fand auch in Chortitza im Volkshause ein solcher Disput statt. Vonseiten der Regierung trat ein auswärtiger Kommunist auf, und als Vertreter der Religion mussten unser Prediger Aron P. Töws und der örtliche russische Geistliche erscheinen. Das Haus war gedrängt voll. Die Eintrittskarten wurden nur an Parteileute und Mitglieder der professionellen Verbände verteilt. Nächstens soll auch im Seminar den Mennoniten dasselbe Schauspiel geboten werden und dann in deutscher Sprache. Dort soll ein Kommunist aus Deutschland und die Lehrer des Seminars mit unserm Ältesten David Epp disputieren. In unseren Kreisen ist man sehr aufgeregt darüber. Was soll aus alledem noch werden?”
Bei diesen Disputen “muss” der Prediger auftreten, aber seine Anhänger dürfen nicht dabei sein, nur gottloses Volk. Der Prediger muss ganz alleine seinen Glauben bezeugen und wo es nur geht, werden er und sein Glauben an Gott ins Lächerliche gezogen.
Nach der Machnowzeit (1920-21) war das Mennonitentum zusammengebrochen. Tausende zogen aus und gingen nach Kanada.
Anhand einer Nachricht von einer Ausgabe des Boten vom 14. Februar erfahren, dass die nach Kanada Ausgewanderten, selbst noch nicht eingewurzelt und im neuen Land stabilisiert, planen den Zurückgebliebenen zu helfen. In der Ausgabe spricht man von der “...kommenden Rekonstruktion der mennonitischen Kolonien Russlands” und “....Anbahnung neuer und Auffrischung alter Beziehungen zwecks Rekonstruktion unserer leidenden mennonitischen Kolonien in der alten Heimat.” Die nach Kanada ausgewanderten Mennoniten hoffen also, dass sich das Leben der in Russland zurückgebliebenen Mennoniten doch noch in gute Bahnen lenken lässt.
Ein Briefschreiber: “Wir wohnen und leben jetzt hier in einer Atmosphäre mit solchem geistigem und materiellem Druck, dass die Mehrheit unserer Mennoniten und der sog. „Kolonisten“ als einzigen Ausweg nur das Auswandern sieht. Leider gibt es keine Pässe, sonst wären in diesem Herbst wohl sehr viele abgezogen, und zurückgeblieben wären wohl nur solche, die man dort (Kanada) nicht hineinlässt.”
In der Ausgabe vom 14. Februar gibt es eine kuriose Nachricht. Man spricht von der “Verschreibung von Bräuten aus Russland für anschlussbedürftige mennonitische junge Männer im Ausland”. Ob so etwas wirklich geschehen ist? Dass Mennonitenmänner in Kanada sich haben Bräute aus Russland kommen lassen und somit einige Mädchen aus der Not geholfen haben?
Nun hört man von Benjamin Unruh reden, der ja später eine bedeutende Rolle spielen wird beim Auszug der Mennoniten aus Russland, wie er “Hilferufe russischer Mennoniten” erhält. Aber auch Hilferufe “aus China und Palästina, aus Bulgarien, Serbien, Rumänien, aus den Silberminen von Tunis, aus Algier, Polen und Danzig”. Manch ein junger Mennonit schlug damals irgendeinen Weg ein, um ja nur aus Russland rauszukommen und geriet dann manchmal vom Regen in die Traufe. Unruh bemüht sich nun, wie er schreibt, um die “Rettung wertvoller, zumeist junger, tüchtiger Menschen, die vom Mutterboden losgelöst heimatlos und verlassen in der weiten Welt herumirrten.”
Im Bote vom 21. Februar erfahren wir von einem alten Lehrer in Arkadak, “der solange seinen Beruf ausgeübt hat, und nun gezwungen ist, im nächsten Jahre seinen Posten aufzugeben, da seine Anschauungen mit denen der Regierung nicht parallel laufen. So lange nur das Verbot bestand, nicht Religion in der Schule zu lehren, konnte er sich irgendwie halten, doch jetzt soll er gegen die Religion lehren, und das lasse sich schon nicht machen.”
Lehrer gab es viele unter den Mennoniten, viele hatten studiert und daraus ihren Beruf gemacht. Nach 12 Jahren Bolschewismus kam nun auf sie der Druck, “gegen die Religion” zu lehren. Das konnte dieser gläubige Lehrer einfach nicht. Er gab seinen Posten auf und somit auch seinen Verdienst. Womit wohl dieser alte Mann nun seinen Lebensunterhalt bestritten haben wird?
In einer südrussischen Zeitung, 28. Februar, erschien ein Artikel zur Frage der Religion in der Sowjet-Union, mit der Überschrift:
“Verschärft den Kampf gegen die Religion!”
“Die religiösen Organisationen der Sowjet-Union sind immer noch nicht so schwach, dass man sich um sie nicht bekümmern müsste. Es gibt immer noch ca. 50.000 Kirchen, 350.000 Pfaffen und etwa 120.000 Mönche in der Union. Und die verschiedenen Sekten? Alles spricht dafür, dass wir nicht weniger als 6 Millionen Sektierer in Russland haben.
Religion war, ist und wird immer der erklärte Feind des Kommunismus sein. Wichtig ist, wer an der Spitze der Religionsgemeinschaften steht, wer sie leitet. Und die Leitung dieser Gruppen befindet sich ganz in Händen unserer Feinde: der Kulaki, Händler, usw.
Je erfolgreicher der sozialistische Aufbau des Landes fortschreitet, desto grimmiger wird der Widerstand unserer Feinde, desto heftiger die Abwehr der Religionsgemeinschaften. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass in den letzten Jahren eine Reihe neuer Kirchen gebaut worden ist.
Von unserer Seite wird dem Angriff der Religiösen leider nicht der erforderliche Widerstand geleistet. Natürlich muss dieser Kampf zunächst als Aufklärungsarbeit geführt werden. Aber alle unsere Kulturgesellschaften und Organisationen haben in ihren Arbeitsplan als allgemeine Regel diesen Kampf nicht aufgenommen. Nicht besser ist es mit den Schulen bestellt.Der Feind nutzt unsere Unachtsamkeit aus und ist so frech geworden, dass er die Grundsätze der Sowjet-Union mit Füßen tritt. Das Dekret der Trennung von Kirche und Staat wird systematisch missachtet. In den religiösen Zeitschriften und in den Predigten wird regelrechte politische antirevolutionäre Propaganda getrieben. Die Sowjetbehörden, die darauf achten sollten, sehen dieses nicht. Die Hirnverbranntheit der großen und kleinen Sowjetbehörden geht sogar so weit, dass z.B. für Sowjetgelder religiöse Literatur gedruckt wird, auf Sowjetfuhrwerken Glocken für die Kirchen herbeigefahren werden, die Pfaffen Bescheinigungen über politische Zuverlässigkeit erhalten usw. mehr.
In dieser Atmosphäre kann sich die Tätigkeit der Organisation der „Gottlosen“ nicht so entfalten, wie sie es sollte, dieser Organisation, die nur einen systematischen antireligiösen Kampf führt. Die Zellen der „Gottlosen“ arbeiten ohne Unterstützung, und man verachtet sie oft mehr, als die religiösen Konventikel selber.
Unsere Vorschläge: Es muss erreicht werden, dass alle Sowjetorganisationen, Kulturgesellschaften, Gemeinden den Kampf mit der Religion zur Hauptsache ihrer Tätigkeit machen. Die Verstöße der Religionsgemeinschaften gegen unsere Gesetze sind rücksichtslos zu bestrafen. Die Arbeit der „Gottlosen“ muss von Staatswegen ebenso unterstützt werden.
Wir sehen, wie nach 12 Jahren seit der Einführung des Kommunismus, dieser sich bewusst wird, dass er noch nicht den Kampf gegen die Gläubigen gewonnen hat und nun in diesem Jahr endlich den Rest des Glaubens ausrotten will.
Chortitza und Molotschna sind die Bezeichnungen für zwei große Ansammlungen von Mennonitensiedlungen. In der jeweiligen Mitte war sozusagen ein Stadtzentrum, wo man alles finden konnte, was man so zum Leben brauchte. Auch Bäckereien. Diese waren aber aus den Händen der Mennoniten gerissen worden und in eine Staatsbäckerei verwandelt worden.
In einer Nachricht vom 14. März lesen wir nun:
“In der Chortitzer Bäckerei wird jetzt schon nur zweimal täglich gebacken, während im Herbst noch Tag und Nacht gearbeitet wurde. Brot wird nur noch an Arbeiter, Dienende, Witwen und Waisen verkauft.”
Es ist kein Mehl mehr, darum backt man schon nun nur zweimal täglich, wo vorher Tag und Nacht gebacken wurde. Und selbst wenn jemand Geld hat, darf nicht jeder Brot kaufen. Und Mehl gibt es auch nicht zum freien Verkauf. Zu diesem Thema folgt noch eine weitere Meldung:
“Im vergangenen Herbst wurde von einem Privatmann eine Konditorei eröffnet, welche aber schon geschlossen werden musste, da die Regierung verboten hat, Kuchen, Torten, Semmeln und andere Leckerbissen zu backen. Das Brot ist rar geworden, und das Gespenst des Hungers rückt uns immer mehr auf den Leib. In Burwalde hat das russische Rote Kreuz eine Abteilung eröffnet und verteilt Essen an Kinder und alte Leute.”
1929 gibt es noch Versuche, privat etwas auf die Beine zu bringen, aber die Kommunisten greifen ein und unterbinden die Initiative. Kommunisten wollen, dass alles in den Händen des Staates liegt.
Halbstadt, Hauptort der zweiten Ansiedlung der Mennoniten in Neurussland, Molotschna, heute Ukraine. Als 1835 die Einwanderung nach Molotschna beendet wurde, waren insgesamt 1200 Familien mit etwa 6000 Personen in 57 Dörfern verteilt.
Eine Nachricht vom 26. März 1929:
“Die Atheistenpartei arbeitet gegenwärtig mit allen Hebeln. So hat sie es jetzt auf den Sonntag abgesehen. Er soll als allgemeiner Ruhetag abgeschafft werden. Und für April ist folgende Losung: Die Fabriken und Kooperativen feiern weiterhin Montag, alle anderen Institutionen Mittwoch und die Schulen Freitag. Sonntag ist allgemeiner Arbeitstag.
Den Ostern will man, so viel wie möglich, das Gepräge der Feier nehmen. An den Ostertagen sollen Tag und Nacht alle Kinos, Theater und andere Lustbarkeiten aufgeboten werden, um das Volk von den Kirchen fernzuhalten.
Unsere Agrarschule hat demnach auch bereits beschlossen, Freitag als Ruhetag einzuführen. Vor einigen Wochen ging im Auftrage des Atheistenklubs einer Schule ein Schüler in Muntau herum und forderte auf, ihm alle Bibeln, Gesangbücher und andere Bücher religiösen Inhalts auszuliefern, man wolle damit ein Museum in Moskau gründen. Da er aber schon bei den ersten Versuchen seine gründliche Abweisung erhielt, so drückte er sich.
Unsere Sonntagsschule durfte leider nicht mehr arbeiten, auch der Kinderchor nicht. Aber Prediger Heinrich Harder ist unermüdlich. Wir haben jetzt alle Sonntage im Vereinshause vormittags etwa eine Stunde Gesangsübungen, dann spricht Harder schlicht und einfach, so dass ihn jedes Kind verstehen kann. Er nimmt jetzt das Johannesevangelium durch. Das Vereinshaus ist immer besetzt. Die Kinder kommen gern. Sie alle haben Harder lieb gewonnen. Er arbeitet auch viel. Abends hält er dann Ansprachen für Erwachsene. Er wird viel in die Dörfer geholt, und es geht ihm materiell eigentlich auch nicht allzu best.
Wir sind alle Bürger eines freien Staates, doch ohne Rechte, und in letzter Zeit geht man wieder sehr rücksichtslos gegen solche Rechtlose vor. Es wird von Tag zu Tag ärger. Man beginnt bereits, sie aus den Kooperativen auszuschließen, so z.B. in Melitopol. Außerdem ist beschlossen worden und auch schon durchgeführt, aus den höheren Schulen alle Schüler, deren Eltern das Bürgerrecht verloren haben, auszuschließen. Und hierbei hat es sich gezeigt, dass es größtenteils gerade die besten Schüler betroffen hat.
Bis jetzt hat man noch einige Waren aus dem Kooperativ erhalten können, z.B. 2 Kilo Zucker monatlich. Butter gibt es nur gegen ärztliche Verordnung. Auf den Straßen hört man wieder ein wohlbekanntes Geklapper aus der Hungerzeit. Die Holzsandalen und Holzpantoffeln halten wieder ihren Einzug. Man bekommt nämlich kein Sohlleder mehr. Ein Witzbold aus Deutschland fragte hier unlängst an, ob bei uns die Rinder und Hunde ohne Felle herumliefen, denn Deutschland sei mit Fellen aus Russland überschwemmt. So ist aber in allem Mangel.
Gestern haben die Halbstädter gefunden, dass der Winterweizen kaputt ist. Am Tage haben wir Tauwetter, nachts starke Fröste. Der Frühling kommt sehr allmählich. Bald sollen die Störche kommen, doch alles liegt noch unter tiefem Schnee. Wir stehen hier aber unter dem Eindruck, wenn der Frühling endlich kommen wird, so wird er mit großem Sturm durchs Land wehen. Gebe Gott, dass man nicht niedergerissen werde.
Dass wir hier schweren Zeiten entgegengehen, wird euch zur Genüge bekannt sein. Deshalb bitten wir euch: Gedenket unser in euren Gebeten. Es liegt eine wunderbare Kraft in ihnen.
Da der Sonntag den Christen hoch und heilig ist, muss jetzt an diesem Tag gearbeitet werden. Ein anderer Tag der Woche wird dafür freigegeben. Der freie Schultag ist verschieden vom freien Tag der arbeitenden Eltern. Es soll ein neues Denken eingeführt werden, darum muss die alte Ordnung durcheinandergebracht werden.
Nach beinah 100 Jahren schauen wir darauf zurück und können nun zu einem Fazit kommen: Hat es etwas Gutes für Russland gebracht? Die Sowjets wollten dadurch in Kürze die USA wirtschaftlich überholen. Ist es dem Kommunismus gelungen?
In den Krankenhäusern gibt es zwar Ärzte, aber “wenn sich jemand will im Krankenhause operieren lassen, so muss der Patient für sein Geld Chloroform und Verbandzeug kaufen und mitbringen, sonst wird er nicht in Behandlung genommen.”
Diese ständige Einengungen und Drangseleien machen die Mennoniten mutlos. Am 21. März lesen wir, dass es “Auswanderungsbestrebungen der russländischen Mennoniten” gibt:
“Die Auswanderungsbestrebungen der Mennoniten haben im Molotschnagebiet wieder mit neuer Kraft eingesetzt. Sehr zahlreiche Mennoniten wollen um jeden Preis auswandern und überhäufen die Behörden mit Gesuchen um Auslandspässe.” Was hat die Mennoniten dazu geführt? Die Regierung hat zwei neue Verordnungen erlassen, die den Glauben und die Tradition der Mennoniten angreifen:
“Erstens sollen die kirchlichen Gesangchöre abgeschafft werden, die gegenwärtig den mennonitischen Gottesdienst so sehr verschönern und eine Hauptanziehung der mennonitischen Kirchen bilden.
Zweitens wird es den mennonitischen Predigern verboten, in fremden Gemeinden zu predigen, was gegenwärtig bei den Mennoniten weitverbreiteter Brauch ist. So kommen in das Molotschnagebiet Prediger aus den Mennonitengemeinden Samaras, Orenburgs und aus Sibirien, um hier ihre Brüder in der Krim und in Chortitza zu besuchen.”
Reiseprediger gab es unter den Mennoniten von Anfang an. Mein Urgroßvater Johann Wilhelm Bartsch Siemens war ein Reiseprediger. In Polen wurden die Mennoniten im sechzehnten Jahrhundert von Predigern aus Holland bereist. Selbst Menno Simons hat die Gläubigen in Polen besucht. Die Besuche von Reisepredigern bedeuteten immer eine Ermunterung und Erneuerung in abgelegenen Gemeinden.
Die Chöre waren in Polen erst viel später entstanden. Über 100 Jahre haben die Mennoniten nicht singen dürfen, um nicht von Fremden in ihren Gottesdiensten gehört zu werden. Als das dann aber erst mal möglich wurde, da nahm der Gesang in den Gottesdiensten einen vornehmen Raum ein.
Das wurde nun verboten. Da sagten sich die Mennoniten, so geht es nicht mehr. Nun wollen sie raus, nach Kanada, so wie 20 Tausend Mennoniten vor 7 Jahren nach Kanada gezogen waren.
Aus einem Brief an den Boten: “Wir Mennoniten stehen schutzlos da. Alles wird genommen, keiner kann und darf protestieren. Waisenkasse, Brandkasse, Schulen, kurz alles, was wir durch unseren Fleiß erworben – es ist dahin. Und jetzt ist unser Glaube an der Reihe.
Der „Deutschen Post a. d. Osten" wird aus dem Molotschnagebiet geschrieben: Die Auswanderungsbestrebungen der Mennoniten haben hier wieder mit neuer Kraft eingesetzt. Sehr zahlreiche Mennoniten wollen um jeden Preis auswandern und überhäufen die Behörden mit Gesuchen um Auslandspässe. Den Anstoß zu dieser neuen Auswanderungswelle haben zwei Verordnungen hervorgerufen, die noch nicht durchgeführt sind, aber dazu angetan sind, den Mennoniten das menschliche Dasein, wie sie es ihrem Glauben und ihren Traditionen nach auffassen, unmöglich zu machen.”
Es herrscht auch große Knappheit an Waren: “Wenn der Laden Stoff für seine Mitglieder erhalten hat, so stehen diese schon von zwei Uhr nachts in der Schlange und warten auf ihre Paar Meter Stoff. Tee gibt es schon nicht mehr; Zucker sollen wir bekommen, aber wann, das kann ich noch nicht schreiben.
Unser Heimatdorf sieht sehr verwahrlost aus. Die Scheunen fast alle abgebrochen, Meter hohes Unkraut in den Gärten, auf den Straßen, wo wir früher Schmutz nicht kannten, knietiefer Kot ... unser trautes Dorf mit seinen winkligen Straßen und malerischen Felsgruppen, der Ort ist fast nicht mehr erkennbar”. Nachricht vom 3. April.
Jemand schreibt aus der Krim an die Glaubensgeschwister in Kanada, die vor wenigen Jahren ausgezogen waren:
“Seit ihr fortgezogen, hat sich die Lage in den Dörfern sehr geändert.... die Verwaltung der Dörfer ist immer mehr in die Hände der Armen (Kommunisten) übergegangen.
Wenn ein Bauer einen Knecht hält, oder etwas mehr säet oder etwas mehr Vieh (3 Kühe) hält, so verliert er das Stimmrecht in der Kolonie. In diesem Falle muss er aber hohe Steuern zahlen, darf kein Amt bekleiden, die Kinder werden nach der Dorfschule manchmal in keine weiterführende Schule aufgenommen.
Die Lage der Lehrer ist zum Teil eine sehr schwierige. Während man bis jetzt zufrieden war, wenn der Lehrer sich neutral verhielt, d. h. weder für noch gegen die Religion arbeitete, so verlangt man jetzt kategorisch antireligiöse Propaganda, und wer sich weigert, muss damit rechnen, dass er seine Stelle verliert. Vom Auslande sind wir fast vollständig abgeschnitten.
Private selbständige Händler gibt es fast keine mehr, fast ausschließlich Kooperative. Es herrscht großer Warenmangel.....Tatsache ist jedenfalls aber, dass die früher armen Bauern jetzt zum großen Teil besser leben als früher.”
Man hat den Gläubigen die Kirchen genommen. In einer Nachricht vom 4. April lesen wir:
Margenau (Molotschna), den 4. April 1929.
In Sagradowka und bei uns an der Molotschna sind alle Versammlungen, wie Bibelstunden, Gebetsstunden, außer Hochzeiten und Begräbnissen, in Privathäusern untersagt.
Hier sind 9 Personen — 7 Frauen (junge Frauen und Fräulein) und 2 Männer wegen Arbeit mit den Kindern am Christabend vor Gericht gestellt. .... in Grünfeld hat einer drei Monate Zwangsarbeit bekommen, zwei andere etwas weniger.
Die Prediger sollen in nächster Zukunft aus den Kooperativen geschmissen werden; von neuem kann kein Prediger mehr eintreten. Man denkt oft an Jesaja 21,6. (Geh hin, stelle den Wächter auf)“
Nur Hochzeiten und Begräbnisse dürfen in Privathäusern gefeiert werden. Wer aus den Kooperativen geschmissen wird, kann da auch nichts kaufen. Privatgeschäfte gibt es nicht, wovon soll dann ein Prediger leben?
Aus einem Brief vom 8. April bekommen wir einen Einblick, wie jämmerlich der Alltag der Mennoniten Russlands ist:
Osterwick, den 8. April 1929.
“Wir haben einen sehr strengen Winter gehabt, so dass alte Leute nichts Ähnliches erlebt haben; es hat bis 30 Grad gefroren. Mit dem Futter ist es noch schlimmer, es ist gar nicht mehr zu haben. Mit dem Winterweizen ist es noch unbestimmt, ob er lebt oder nicht, wir glauben, dass er nicht verfroren ist. Wir heizen mit Mist und Kurrei. Viele heizen mit Holz. Rempels Fabrik wurde von der Regierung abgebrochen und das Holz als Brennmaterial verkauft. So wird hier gebaut.
Etliche Familien haben schon Mithilfe zu 10 Dollar aus Amerika erhalten. Aber es sind viele, die vollständig hungern, nicht weniger als anno 1921.
Kornelius Abr. Dück hat nicht mehr zu essen. Die Familie hat sieben Kinder, und auf das achte wird gewartet; denen fehlt sehr nötig Hilfe.
Johann Franz Dück ist auch nicht besser dran. Im Winter kaufte er Milch in Chortitza und trug sie nach Einlage zum Verkaufen, davon lebten sie.
Jacob Schulzen mit 5 kleinen Kindern haben auch nicht mehr Brot im Hause. Den Pass gibt man ihnen aber nicht zum Auswandern.
Was arm sein ist, verstehen wir erst recht in solchen Zeiten wie jetzt. Wer noch alle Tage ein Stückchen Brot isst und mehr als zwei Pferde hat, wird hier als Kulak gestempelt und somit als Feind der Revolution erklärt. Kulaken hat Osterwick auch noch viele, wo es doch am schärfsten mit der Hungersnot zu kämpfen hat.”
”Anno 1921” bezieht sich auf die Machnowzeit, als die sowjetische Macht sich noch nicht in den abgelegenen Gegenden durchgesetzt hatte und unterschiedliche Banden das Leben der Mennoniten verunsicherten.
Wie armselig das Leben der Familie Dück gewesen sein mag, wenn der Vater ein paar Liter Milch in Chortitza kaufte, um sie im Nachbardorf zu verkaufen und davon eine Familie zu ernähren!
“Maßljanowka, den 4. April 1929.
....die Jahre von 1920—1923 kommen in verstärktem Maßstabe wieder.
Es geht hier auch nur sehr knapp her, mit allem muss gespart werden; viele Familien in Osterwick leben sozusagen nur von Grütze. Brot ist fast nicht möglich zu kaufen, weil alles nur auf Karten gegeben wird.”
“Südrussland, Großweide, den 23. März 1929.
Mit dankbarem, erfreutem Herzen darf auch ich, wie mein ältester Sohn A. N., bezeugen, dass ich Ihren Brief wie auch die Spende, gesammelt von den kanadischen Mennonitengemeinden, richtig erhalten habe, nämlich zehn Dollar. Diese Wohltat gehört zu den Lichtblicken an meinem Lebensabend, die mein treuer Herr mir gnädig zuteil werden lässt. Ich danke herzlich für diese Unterstützung. Möge an Geber und Empfänger die Verheißung sich erfüllen: „Preis und Ehre und unvergängliches Wesen denen, die mit Geduld und guten Werken trachten nach dem ewigen Leben." Röm. 2,7. In brüderlicher Liebe grüßt Sie
D. D. N., Ältester”
“Es muss uns hier ein Trost sein zu wissen, dass fern über dem Ozean sich gläubige Herzen und Hände für uns zum Himmel heben. Manch arme Witwe und Waise hat schon Freudentränen geweint für liebende Gaben. Der Herr segne alle!
Bestätige hiermit den Empfang Ihres Briefes und auch der überwiesenen $10. und fühle mich dadurch veranlasst, meinen herzlichen Dank für diese Spende Ihnen gegenüber auszusprechen. Wie solche Mithilfe oft zu rechter Zeit kommt und in welchem Maße die Lücken füllt, das können sich die weitherzigen Spender kaum vorstellen.”
Der Briefschreiber vom 17. April stellt fest:
“Man nimmt den Ungefügsamen nicht das Leben, man nimmt ihnen die Möglichkeiten zum Leben. Da heißt es: Wenn du dich in deinen Anschauungen nicht umstellen willst, oder wenigstens so tun willst, als ob du schon anderen Sinnes seiest, so kann der Staat dich nicht gebrauchen. Übrigens bist du frei, d.h. stimmlos, beruflos, rechtlos, landlos, brotlos.
Wie “böse, teuflisch” es einem armen Prediger gehen kann, wird am Beispiel des “Ältesten Alexander Ediger” von der “Schönseer Gemeinde” illustriert:
“Die kirchlichen Gesangchöre der Mennonitengemeinden waren den Sowjetbehörden der nächsten Umgebung schon lange ein Dorn im Auge, da man in ihnen eine Schutzwehr gegen den anstürmenden Atheismus sah. Auf gesetzlichem Wege war eine Schließung der bestehenden Gesangchöre nicht zu erreichen, da sie seinerzeit gesetzlich genehmigt worden sind. Nun hat man einen anderen Weg versucht. Man zitierte den Ältesten der Schönseer Gemeinde, A. Ediger, nach Melitopol und verlangte von ihm, als Vorsitzenden der K.f.K., dass er von sich aus den Gesangchor auflöse, und drohte gleichzeitig, dass man im Weigerungsfalle einen Präzedenzfall verschaffen werde.
Als Ediger ihrem Verlangen nicht nachkam, hat man die Drohung wirklich wahr gemacht und ist vorgegangen, nicht gegen ihn direkt, sondern gegen seine Gemeinde. Man stellte sie vor Gericht, weil sie Gemeindegelder ungesetzlich verausgabt habe, nämlich zur Unterstützung armer Gemeindeglieder und des Altenheims. Das Volksgericht hat nun das Urteil gefällt, dass die Gemeinde (folglich wohl auch die Kirche) geschlossen werden müsse. Damit ist denn auch der Kirchenchor aufgelöst.
Man hat erreicht, was man wollte.
Der Bote, 17. April 1929
Warum vernachlässigen die Mennoniten die Landwirtschaft immer mehr?
Die Landwirtschaft bringt zum Leben genug, wenn's einem nicht abgenommen wird; sie bringt aber kein Geld, und um die Steuern zu bezahlen, die von der Wirtschaft verlangt werden, sind die Bauern gezwungen, sich Nebenverdienste zu suchen, wozu der Dnjeprostroj auch Gelegenheit bietet. Im verflossenen Herbst haben die Rosentaler fast gar nicht gepflügt, alles arbeitete am Dnjeprostroj, um durch Nebenverdienst die Steuern aufzutreiben. Der Umstand, dass wenig Herbstgepflügtes ist, spricht von vornherein zu Ungunsten der diesjährigen Ernte.”
Immer neue Steuern werden von den Kommunisten erfunden. Dafür braucht man Bargeld, das von der Landwirtschaft nicht erbracht werden kann. Darum sucht jeder einen Job und das notwendige Geld parat zu haben.
“Die Religion wird immer mehr ein Stein des Anstoßes, und man bemüht sich immer mehr, ganz besonders in den deutschen Dörfern, Jugendzellen zu gründen, welche hauptsächlich den Klassenkampf schüren und Antireligion treiben sollen. Spott gilt für eine Tugend. Hier haben in Stadt und Dorf verschiedene Dispute über religiöse Fragen stattgefunden, wobei die Theologie gute Erfolge gemacht hat. Ältester David Epp ist noch immer rüstig.
„Der Bote", Donnerstag, den 24. April 1929
Die älteren Mennoniten stehen meistens gut gegründet im Glauben. Man hat aber festgestellt, dass man Jugendliche leichter vom Glauben ablenken kann, darum gründen die Kommunisten “Jugendzellen”.
Darum: “Die Landleute seufzen auch durchweg unter dem Druck der Verhältnisse, und mancher schaut hinaus nach Kanada, aber umsonst: der Weg dorthin ist, sozusagen, abgeschnitten. Mit dem Auswandern steht's in letzter Zeit schwach; allen wird glatt abgesagt, wobei die Gründe nicht angegeben werden.”
London, den 28. April. — Nach einer telegraphischen Meldung aus Moskau hat der Kampf der Sowjetbehörden gegen die Religion ein drastisches Dekret gezeitigt, das den Gemeinschaften die Ausübung des Gottesdienstes in irgendeiner Form äußerst schwierig macht. Dem Dekret zufolge haben die Bürger das Recht, sich zur Ausübung ihres religiösen Kultus nur in einer Kirche, in einem Bethause oder Synagoge zu versammeln. Jede religiöse Gemeinschaft oder Gruppe muss im Laufe eines Monats bei der Polizei registriert werden oder sie wird aufgelöst.
Jegliche soziale und fremde (nicht zum Kultus gehörende) Tätigkeit muss aufgehoben werden. Sie dürfen keine Gesellschaften zur gegenseitigen Unterstützung, kooperative Genossenschaften und Werkstätten gründen, dürfen ihren Gliedern keine materielle Mithilfe zukommen lassen, keine Gebetsversammlungen für Jungfrauen und Kinder abhalten, keine Bibelbesprechungen veranstalten und Nähvereine gründen, keine Bibliotheken oder Lesehallen eröffnen, Sanatorien gründen, oder irgendwelche ärztliche Ratschläge oder Hilfe erteilen.
Das Dekret verbietet ferner die Organisation von Ausflügen und Einrichtungen von Spielplätzen für Kinder. In den Kirchen und Bethäusern dürfen keine Bücher gehalten werden als die, welche für den Gottesdienst gebraucht werden. Die religiöse Unterweisung kann den Erwachsenen nur mit Erlaubnis des Innenministeriums erteilt werden. Die Religionsgemeinschaften und Gruppen haben kein gesetzliches Recht und dürfen keine Sammlungen veranstalten und Kontrakte unterzeichnen. Unter einer religiösen Gemeinschaft versteht das Dekret eine lokale Einheit von mindestens zwanzig Personen im Alter von 18 Jahren und älter. Eine religiöse Gruppe ist ein ähnlicher Körper mit 20 erwachsenen Personen, die auch keine Rechte hat.
Die Absicht des Dekrets ist, das Gründen von großen Gemeinden zu verhüten und die gottesdienstlichen Versammlungen auf eine kleine Zahl von Personen zu beschränken. Es ist dies ein Teil der antireligiösen Kampagne, die neuerdings intensiver wird.
„Der Bote", Mittwoch, den 15. Mai 1929
Offiziell sagen die kommunistische Gesetze, dass es Religionsfreiheit gibt, aber die Schikanen sind so unendlich viele und raffiniert, dass es wirklich schwer wird, den Glauben gemeinschaftlich auszuüben.
“Die hohe Steuer und der Futtermangel haben manchem die Kuh aus dem Stall geführt, und es fehlt jetzt nicht nur das liebe tägliche Brot, sondern auch die gesunde, kräftige Milch.
In den Konsumläden kann man in letzter Zeit oft tumultartige Szenen beobachten. Nach langer, langer Zeit sind endlich etliche Pud Sonnenblumenöl angekommen, und da will ein jeder sein Fläschchen zuerst füllen lassen, um endlich mal wieder den fast verdorbenen Magen einölen zu können. Da die Schlangenreihe aber so unendlich lang ist, bekommen die hinten Stehenden eine unheimliche Angst, fangen an zu fluchen, zu drängen und zu stoßen. Kein Wunder, wenn da im „Gedränge" auch einmal eine Flasche zerspringt und das langersehnte Öl verlorengeht.
....findet man nicht nur Leute, die an Unterernährung leiden, sondern auch solche, die vom Hunger „schwellen", also scheinbar an Korpulenz leiden. Auch leiden manche bittere Not von der grausamen Kälte. Bei dem winzigen Vorrat von Brennmaterial, ein so harter Winter.
Die Auslandspässe sind auch eingefroren. Kürzlich fuhr jemand mit seinem Nachweis zur Stadt, um den Pass zu nehmen. Man zerriss das Papier, warf es in den Papierkorb und sagte lakonisch: „Dort ist Ihr Amerika!“
„Der Bote", Donnerstag, den 1. Mai 1929
“Unser Prediger Aron Töws musste kürzlich zum Disput. Das Thema: „Lebte Christus?“ wurde ihm ein Stündchen vor dem Anfang gemeldet. Es war noch ein russischer Geistlicher da. Töws machte seine Sache sehr gut, der Batjuschka nicht so ganz befriedigend. Letzterer bekam viel Spott und lose Redensarten zu hören.
Überführen kann man auf diesem Gebiete nur den, der redlich sucht, und da dieses durchaus nicht der Fall war, d.h. bei den Opponenten des Christentums, so endete der Redestreit meines Erachtens nach resultatlos. Die andere Seite, die stark vertreten war und laut zuklatschte, meint natürlich, sie habe einen großen Sieg davongetragen.
Wenn wir auf unsere Jugend sehen, die so jung und oft ganz unvorbereitet in solche Kämpfe hinein muss, will uns angst und bange werden, und wir möchten rufen: „Komm herüber und hilf uns!“ Der kommunistische Jugendverband des Seminars wollte durchaus auch unseren Ältesten David Epp zu einem Disput herausfordern, aber er sagte kategorisch ab. Er erklärte den jungen Leuten, er stehe ihnen in allen Fragen zur Verfügung, wenn sie zu ihm kommen, doch ins Seminar komme er nicht.
„Der Bote", Donnerstag, den 1. Mai 1929
Der Bote, den 22. Mai 1929:
“Wieder ein Dorf weniger! Im Frühling 1929 ist das Mennoniten-Dorf Wiesenfeld bei Kronsgarten, Taurien, das inmitten einheimischer Bevölkerung lag und infolge der veränderten Verhältnisse sich nicht länger halten konnte, geräumt worden. Die Bewohner haben ihre Wirtschaften unter günstigen Bedingungen an einen landwirtschaftlichen Kollektiv verkaufen können und suchen in anderen Mennonitendörfern sich eine Zuflucht zu erwerben.
Die späte Saatzeit und der Mangel an Saatgetreide drücken die Stimmung noch mehr nieder. Man fürchtet, dass die kommende Zeit noch schrecklicher sein könnte als die Gegenwart schon ist. — Die Brotfrage wird immer ernster. Hungersnot ist derweil nicht, wenn auch etliche ohne Brot sind. Knapp ist es auf vielen Stellen.”
Ich fragte einleitend, was die Mennoniten dazu geführt haben könnte, nach Moskau zu gehen, um ein Ausreisevisa zu beantragen.
Teilweise haben die obigen Nachrichten den notwendigen Aufschluss ermöglicht: die Kommunisten gingen in diesem Jahr mit grösserer Wucht gegen den Lebensstil der Mennoniten vor: die Kirchen wurden ihnen geschlossen, die Erziehung der Kinder im christlichen Glauben der Väter wurde erschwert, die geistlichen Leiter wurden in die Verbannung geschickt, das Bauernleben wurde ihnen unmöglich gemacht.
Zusammenfassend: die Grundpfeiler ihrer jahrhundertealte Lebensart wurden nicht nur erschwert, sondern mit grösserer Entschiedenheit verwert.
Warum aber zogen so viele aus den entlegensten Kolonien zur gleichen Zeit nach Moskau? Die nächsten Ausgaben geben weitere Einblicke darauf.