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Deutschland zeigt sich als wahrer Freund.

    Aus Russland kommen nun Berichte, dass die Sowjetbehörden energisch vorgehen, und Berichte nach Ottawa von der deutschen Regierung und dem Völkerbund besagen, dass die Bolschewiki bereits damit anfangen, einen Teil der Mennoniten nach Sibirien zu deportieren, wo die armen Menschen durch Kälte und Hunger umkommen müssen.

    Die deutsche Regierung will dieses schreckliche Schicksal abwenden, denn die Mennoniten sind deutschen Blutes, und das deutsche Volk kann sie deswegen nicht untergehen lassen. Die deutsche Regierung hat darum schon damit begonnen, große Mengen der Flüchtlinge nach Deutschland zu bringen in der Hoffnung, dass sie später nach der neuen Welt im Westen weiterwandern können, um dort ein neues Leben unter neuen Bedingungen zu beginnen. Die deutsche Regierung wird sie in der Zwischenzeit unterhalten und wird in dieser Hilfsmaßnahme durch die Flüchtlingskommission des Völkerbundes unterstützt werden.

   

    In Kiel, Deutschland sind Flüchtlinge angekommen. Einen Bericht im „Lokal-Anzeiger“ von Berlin entnehmen wir das Folgende:

    Die ungeheure Geschichte dieses deutschen Bauernleidens in Russland beginnt überall nach dem gleichen Schema. Ob in Orenburg auf den Steppen an den Abhängen des Urals, wo es guten Weizenboden gibt, ob in Sibirien, ob in Taurien, ob in der Krim – sie sind aus dem ganzen Russland geflohen, diese deutschen Bauern, die fleißiger waren als ihre russische Nachbarschaft und mehr bebauten, als sie selbst zum Essen brauchten, weil sie hochkommen wollten. Die hohen Steuern konnten nicht bezahlt werden; sie sollten nicht bezahlt werden. Man nahm die Pferde, man nahm die Kühe, man nahm das Getreide.

     Dann stellte die russische Regierung zu sehr hohem Preis neues Saatgut zur Verfügung; aber es war kein Geld mehr da, es zu kaufen. Sie alle, diese hundert Bauernfamilien, die zunächst nach Kiel gekommen sind, wussten, dieser Winter würde ein elendes Sterben für sie bedeuten. Sie hatten ja Erfahrung hinter sich.

   Später zogen die tausend Seelen, dreitausend Seelen, viertausend Seelen mit dem letzten Erlös, mit der letzten Habe nach Moskau. Dort lagerten sie in dem weiten Vorortgelände, wohnten in den verlassenen Sommer-Datschen, oft dreißig Menschen in einem Raum. Sie warteten. Es sind vielleicht die geduldigsten Menschen der Welt, diese deutsch-russischen Bauern, von denen ein großer Teil Mennoniten ist.

Aus dem ganzen weiten Russland strömten sie herbei.

      Jeder Tag brachte neue „Fuhren“. Der deutsche Konsul hat sich um das Elend dieser deutschen Menschen gekümmert, soweit er es konnte. Das haben alle Auswanderer bestätigt. Er drängte. Schon begannen Kinder zu sterben. Endlich bekamen sie die Pässe.

    Mehr als ein Dutzend solcher Pässe habe ich gesehen. Ein schmutziges Stück Papier in Quartformat, auf dem die Namen der Familienmitglieder standen. Ein paar Stempelmarken; unten am Rande des dünnen Papierchens die Bilder aller Familienmitglieder, auf die man den Sowjetstempel, die Sichel und den Hammer gesetzt hat. Es ist richtig: „Sichel und Hammer“, die Sichel hat man ihnen zerbrochen, die Sichel mit der sie arbeiteten, und mit dem Hammer hat man ihre Wirtschaft und ihr Leben zerschlagen.

     Ich sah einen Pass für sechs Seelen, Vater, Mutter und vier Kinder. Der hatte dreizehnhundertzwanzig Rubel gekostet. Dreizehnhundert Rubel der Pass, und zwanzig Rubel – zu ihrer Hohn – Abgeltung für das sowjetrussische Rote Kreuz. Das heißt, diese Menschen, die buchstäblich alle die Früchte einer mühsamen Lebensarbeit verloren haben, wurden als Auswanderer der ärmsten Art noch um ihr Letztes betrogen. Der Rubel darf bekanntlich nicht ausgeführt werden. Für diese Summen fand man immer noch einen Vorwand. Als trotzdem bei einigen Familien noch etwas Geld geblieben war – sie hatten ja ihre Häuser verkauft, ihre Möbel, den größten Teil ihrer Sachen – nahm man den Rest des Geldes einfach ohne Vorwand fort.

    Die Frauen wurden auf die frechste Weise untersucht, ob sie nicht doch noch ein paar Scheine verborgen hätten, und dann wurden sie auf den russischen Dampfer "Felix Dzierzynski" ... also "verfrachtet".

    Eine Frau erzählte, dass sie hundertzwanzig Dessjatinen besessen hätten; sie hatten sieben Pferde und bewirtschafteten die hundertzwanzig Dessjatinen voll. Dann nahm man ihnen sechzig fort, aber die restlichen sechzig bearbeiteten sie. Im vergangenen Frühjahr nahm man ihnen sechs von den sieben Pferden, drei von den vier Kühen und alles Getreide. Sie konnten nicht mehr säen, es lohnte auch nicht, weder zu säen noch zu ernten, denn die Sowjetbeamten kamen und nahmen doch die ganze Ernte und ließen den Bauern nicht so viel, dass die Familie davon leben konnte.

     Der größte Teil dieser Bauern hat in diesem Jahr nicht mehr gedroschen. Dabei sind es sicher sehr willige Leute, die immer bereit gewesen sind, dem Staat zu geben, was dem Staat gehört. Aber weil sie fleißig waren und mehr bauten als sie für den eigenen Bedarf brauchten – der russische Bauer baut jetzt nur den Bedarf seiner Familie an – galten sie als Kulaken, als Großbauern. Man musste sie vernichten!

    Wer in dem Lager dieser Auswanderer sitzt, der muss das Grauen lernen, das wirksame Grauen vor der Unmenschlichkeit der Sowjets.

    Die ersten Flüchtlinge in Kiel.

    Ein aus 323 Personen bestehender Vortrupp der Russland verlassenden deutschen Bauern ist vor kurzem in Kiel angekommen. Die Auswanderer waren völlig mittellos und erklärten, dass all ihr Geld und Besitz von den Sowjets konfisziert worden sei.

Nach einer Depesche an das „Berliner Tageblatt“ sind die bei Moskau verhafteten Deutsch-Russen gezwungen worden, eine Erklärung zu unterschreiben, in der sie sich „freiwillig“ bereit erklären, nach ihren Heimstätten zurückzukehren. Viele der faktisch gefangen gehaltenen Deutschen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, sind auf Transportzüge geladen worden, um sie nach den verlassenen Heimstätten zurückzubringen. Da es ihnen an Geld, Hausgerät und Vieh fehlt und der Winter vor der Tür steht, würde ein Rücktransport für die meisten den sicheren Tod bedeuten.

1929-12-04

    Am 4. Dezember erkennt man in Zeitungen Moskaus und Leningrads, dass es um Russlands Wirtschaft schlecht steht. Und man kennt den "Schuldigen": die faulen Bauern:

 

Möglichkeit einer Hungersnot von Sowjetpresse zugegeben

   Die Sowjetpresse schlägt bereits seit Wochen Alarm „wegen der furchtbaren Gefahr, die in diesem Winter dem Lande infolge der Missernte droht.“ Namentlich macht sie für die ungünstige Lage die Bauern verantwortlich, die, wie das Blatt schreibt, Sabotage betreiben. Was in der Kornkammer Russlands, in der Ukraine geschehe, grenze an Verbrechen. Dort hätten die Bauern nur ein Drittel ihrer Felder bebaut und die örtlichen Ratsbehörden sähen mit verschränkten Armen zu, wie sich die Katastrophe mit großen Schritten nähere.“

     Im kubanischen Gebiet haben die Bauern nach den Presseberichten in diesem Jahre nur ein Sechstel ihrer Felder bestellt. In manchen Gegenden sei der größte Teil des von den Behörden gelieferten Saatgutes zugrunde gegangen, weil die Bauern sich nicht einmal die Mühe nahmen, es zu reinigen.

   Der Volkskommissar für Handel, Mikojan, soll in einer kürzlichen Konferenz der Kommunistischen Partei selbst zugegeben haben, dass die Getreideaktion als vollkommen gescheitert betrachtet werden müsse. Er sagte, dass es überall an Lagerhäusern für das Getreide mangele und dass an vielen Orten Kirchen beschlagnahmt werden, um die eingesammelten unbedeutenden Mengen einzulagern.

    Im Bezirk von Kursk sollen 2000 Waggonladungen Saaten und große Mengen sonstiger Lebensmittel im Freien liegen, und man befürchtet, dass die eingetretene Regenzeit die dortigen Landstraßen bald unbefahrbar machen werde.

    Kanada aber zögert weiter, mennonitische Flüchtlinge aufzunehmen:

    Zu der Lage der Einwanderung der Mennoniten nach Kanada, nimmt eine kanadische Zeitung Stellung:

Kanada und die Mennoniten-Flüchtlinge.

    Wir bringen heute wieder auf der ersten Seite einen Artikel über die vielen Flüchtlinge – hauptsächlich Mennoniten – die vor Moskaus Toren auf das erlösende Wort warten: „Kommt, wir nehmen Euch auf!“  

    Die Mennoniten möchten nach Kanada. Und während Kanada Platz und Land genug hat, findet man hier ein merkwürdiges Zagen, Zaudern und Zögern.

    Dabei könnte die Regierung mit einem Federstrich die Mennoniten hereinlassen.

    Warum tut man nichts?

    Wir erinnern uns, dass Herr Forke zu der Zeit, als er eben zum Einwanderungsminister ernannt worden war über die deutschen Einwanderer wörtlich sagte: „Wir können gar nicht zu viele von ihnen bekommen.“

    Sie haben .... hohe sittliche Eigenschaften, .... : Arbeitsfreude, Ehrlichkeit, treue Zähigkeit und hartnäckiges Festhalten an allem, was sie als Recht und Gut erkannt haben. Fleiß und ein großer individualistischer Drang zum wirtschaftlichen Vorwärtskommen zeichnet diese Leute vor allen aus.

     Also sollte Kanada vom völkischen wie wirtschaftlichen Standpunkt diese Menschen hochwillkommen heißen!

    Was kann Kanada noch mehr verlangen?

1929-12-04

   Ein Bericht vom Mennonitischen Zentralkomitee zu dieser Frage:

 

    Pr. Orie O. M. berichtet, dass in der letzten Novemberwoche eine Sitzung des Mennonitischen Zentralkomitees stattfinden wird, in der die Frage der Hilfe für unser Volk in Russland, insbesondere für die, die in Tausenden vor Moskaus Toren sitzen und nach dem Rettungsschiff ausschauen, das ihnen zugeworfen soll, besprochen wird. Wie schon in der letzten Nummer berichtet wurde, soll die vereinigte Hilfe unserer Gemeinden in den Vereinigten Staaten wieder durch das Zentralkomitee gegeben werden. Die Immigration und Hilfe in Kanada geht ja durch die Board.

     Möchte der Herr helfen und unsere Gebete erhören, die hin und her laut: „O Herr hilf, o Herr lass wohlgelingen!“

Ein großer Unterschied.

    Wie viel leichter ein Arbeiter in Kanada leben kann als in Russland zeigt unten die zusammengestellte Preisliste.

    Ein Arbeitsanzug in Kanada (2,30 $) und Russland (21,30 Rubel); 1 warmes Unterkleid $2.25, 14.28 Rub.;1 Paar Festschuhe $5.00, 14.00 Rub.

   Wenn ein lokaler Arbeiter all diese oben genannten Dinge kaufen möchte, müsste er dafür 28 Tage arbeiten. Ein Arbeiter in Russland hingegen müsste dafür 300 Tage arbeiten, also ein ganzes Jahr.

Kornelius Plett Ramaka, Alta. Farm No. 2.

1929-12-04

    Ein Mennonit in Nordamerika stellt einen Weckruf in die Rundschau:

 

Weckruf.

    An alle, die Jesus lieb haben und ein mitleidiges und erbarmungsvolles Herz haben! Ich liebe alle. Schüttle mich durch den Geist Gottes gedrungen, mit einer Frage an die Öffentlichkeit zu treten und zwar mit der Frage, ob es nicht an der Zeit wäre, da wir uns alle samt vereinigen möchten, eine Zeit oder einen Tag zu bestimmen, wo wir im festen Glauben mit Fasten und Beten zu den Stufen des Thrones Gottes dringen und mit Flehen für die aus der Not Schreiender in Russland, denn es kommen solche grauenhafte Nachrichten herüber, daß dir das Herz bricht.

     Vielleicht erbarmt sich der Herr doch noch über Russland, besonders die schon in großer Not stehen und ändert es daselbst oder öffnet ihnen eine Tür zum Herauskommen aus dem Schrecken, aus der Finsternis, so wie damals über die Stadt Ninive.

    Als sie im Sack und in der Asche saßen und Buße taten, erbarmte sich der Herr über die Stadt und sie ging nicht unter. Er ist noch ganz derselbe heute. Und die Verheißungen haben mir darauf, daß es geschehen könnte. Wer ist so frei und voller Liebe und bestimmt die Zeit oder den Tag und macht es in den Blättern bekannt? Bitte, widerstreitet nicht dem Geist, denn es tut not.

     Euer geringer alter Bruder in Christo Jesu Nikolai P. Reimer. Yarrow, B. C.

1929-12-04

 

   Noch ein Aufruf, dass die Gläubigen Gott um Erbarmen für die Glaubensgenossen in Russland erflehen

   Das erste, was getan werden sollte, ist, dass eine jede Gemeinde, eine jede Gruppe unseres Volkes besondere Gebetsstunden anberaumen sollte, und unsere gemeinsamen Gebete werden sich beim Throne Gottes mit den Gebeten unseres Volkes aus tiefer Not in Russland vereinigen, und die Antwort als Erhörung unserer Gebete wird bald dort eintreffen. Er wird die Herzen hier und drüben lenken, Er wird die Türen öffnen, Er wird die Wege ebnen, Er wird helfen. Wäre nicht der Mittwoch Abend zur Bereinigung im Gebet zu empfehlen? Wäre nicht die Sonntag Morgenstunde vor der Andacht, ja gegebenenfalls die Andachtsstunde dazu einzuräumen? Oder ist nicht mehr Zeit zu einer Gebetsstunde da? — „Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.“ — „Wenn zwei von euch eins werden auf Erden, warum es ist, dass sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel.“ — Wer hat noch Weiteres zu sagen? Ed."

1929-12-04

      Kanada gibt am 4. Dezember 1929 definitive Richtlinien bezüglich Einwanderung der Flüchtlinge aus Russland:

    Kanada wird keine von diesen Flüchtlingen annehmen, wenn sie nicht vorher auf Gesundheit, Charakter und allgemeine Eignung untersucht worden sind. Zum Schluss fragt Minister Forke, ob Dr. Anderson versprechen könne, eintausend russlanddeutsche Familien in Saskatchewan im nächsten Frühjahr aufzunehmen.

   Die Antwort Dr. Andersons war, er verweigere der geplanten Einwanderungsbewegung seine Zustimmung und wolle nur Verwandte von den bereits ansässigen Siedlern annehmen.

   Darauf hat die kanadische Regierung die Einreise der großen Gruppen jetzt im Winter verweigert. Einzelne, insbesondere die, die hier Verwandte haben, dürfen einwandern. Man hofft, dass sie jedoch mit der Zeit, wohl im kommenden Frühjahr und Sommer alle einwandern dürfen. Der strengen medizinischen Kontrolle unterliegen sie alle.

1929-12-04

 

Erbitterung über Pass-Schikanen.

    Die Erbitterung in der Reichshauptstadt wird verschärft durch den Umstand, dass Moskau die Verantwortung für die Lage der Gestrandeten auf die deutsche Regierung abzuwälzen versucht. Nach hier einlaufenden Depeschen erklären die Sowjets, dass sie gezwungen seien, Maßnahmen zum Abtransport der unerwünschten Gäste zu treffen, da Berlin nichts in ihrem Interesse unternommen habe. Man wirft in Berlin darauf hin, dass Moskau zeigen muss, dass die Lage der Emigranten von Kabinett beraten wird und dass praktische Maßnahmen zur Abhilfe beschlossen wurden.

    Dazu kommt, dass die meisten der Auswanderer bei oder in Moskau festsitzen, weil sie nicht das Geld für die übliche Passgebühr von rund 250 Mark haben, die von auswandernden russischen Bürgern verlangt wird. Man ist in Berlin überzeugt, dass es Moskau an gutem Willen fehlt, da diese Gebühr angesichts der schlimmen Lage sicherlich hätte ermäßigt werden müssen.

    Politische Beobachter weisen darauf hin, dass die Flucht von etwa 13.000 Bauern deutscher Abstammung zu einer Zeit geschieht, in der Stalin erneut rücksichtslos die Durchführung seiner Landwirtschaftspolitik besteht.

1929-12-04

 

 

Hungertyphus ausgebrochen.

    Die Leiden der Auswanderer werden weiter verschlimmert durch den Ausbruch von Hungertyphus. Die Besitzer der Häuser, in denen die Deutschen Unterkunft gefunden haben, sollen bereit sein, wegen der frühzeitig hereingebrochenen großen Kälte Öfen aufzustellen, doch haben die Sowjetbehörden angeblich gedroht, dass sie in einem solchen Falle eine hohe Steuer erheben würden.

Nottransport in Viehwagons.

Berlin. – Die Sowjetbehörden sind gegen die Massenauswanderung russlanddeutscher Bauern eingeschritten, und die bei Moskau zusammengeströmten Mennoniten und Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften müssen aufs Land zurückkehren. Die einst wohlhabenden deutschen Bauern sind mittellos, und Krankheiten verschlimmern ihre Leiden. Die meisten von ihnen haben ihre Anwesen wegen Missernte und der erdrückenden Sowjetsteuern für ein Butterbrot verkauft, da sie annahmen, Russland verlassen zu können. Sie müssen jetzt ärmer als die ärmsten Muschiks nach ihren Provinzen zurückkehren. Die Sowjetbehörden haben Abtransport in Viehwagons angeordnet.

    Ein Hauptgrund für die Verhinderung der - Auswanderung dürfte sein, dass Moskau diese Russlanddeutschen nicht verlieren will, da sie zu den besten Landwirten des Landes gehören.

    

Deutsche Pässe für die Auswanderer. Berlin.

    Die deutsche Botschaft in Moskau hat vom Reichsministerium die Weisung erhalten, tausend deutschen Auswanderern aus Russland, die in trauriger Notlage sind, die Reisepässe zu visieren. Sobald die notwendigen Vorbereitungen für die Einreise und Aufnahme weiterer Auswanderer deutschen Blutes getroffen sein werden, sollen weitere Pässe für sie visiert werden.

 

Der Abtransport beginnt.

    1000 Billets sind von der deutschen Botschaft in Moskau schon ausgeteilt. Der deutsche Gesandte brach einen Urlaub ab und flog per Aeroplan aus Deutschland nach Moskau mit besonderen Angaben der Regierung, da in Deutschland für 13.000 Entlassene schon alles fertig sei, und mit dem Protest der deutschen Regierung, jeglichen Abtransport nach Sibirien einzustellen. Falls der Protest nicht beachtet wird, droht die deutsche Regierung mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen.

 

2.500 Mennoniten auf dem Wege nach Deutschland. Riga, 25. Nov.

   Fünf Eisenbahnzüge mit ungefähr 2.500 Mennoniten sind von Moskau durch Lettland nach der deutschen Grenze abgegangen. Die deutsche Reichsbahn hat besondere Vorbereitungen für ihren Empfang getroffen. Wenn die deutsche Regierung es möglich machen kann, die Mennoniten in Deutschland anzusiedeln, werden sie dort bleiben doch hat die Mehrzahl immer noch den Wunsch, nach Kanada zu kommen.

100.000 mögen Russland verlassen.

   Kabelnachrichten, die in Ottawa von Genf, Berlin und Warschau eingelaufen sind, lassen klar erkennen, dass die Auswanderung von Mennoniten, Quäkern sowie auch Katholiken aus Russland einen immer größeren Umfang annimmt. Es hat den Anschein, als ob nach und nach bis zu 100.000 Personen aus dem Lande der Sowjets auswandern werden.

    Die 6000, die vor längerer Zeit vor den Toren Moskaus saßen und nach Kanada möchten, bilden nur die Vorhut eines immer größer werdenden Stroms von Auswanderern, und man ist geneigt anzunehmen, dass die meisten der in Russland verbliebenen Mennoniten das Land verlassen werden. Innerhalb einiger Monate werden an 100.000 Mennoniten ihre Bauernhöfe verlassen haben und in die Ferne ziehen.

   Soweit man in Ottawa, Kanada, ausfinden kann, verlassen die Mennoniten Russland hauptsächlich aus dem Grunde, weil sie durch die Zwangsauflagen und Steuern der Sowjets aus einer wohlhabenden Bauerngemeinschaft zu Bettlern und Heimatlosen gemacht worden sind. Ihre Spargelder hat man konfisziert, und ihre Ernten hat man ihnen Jahr für Jahr genommen. Sie behaupten, dass es für sie keinen anderen Ausweg gab, als in Russland zu verhungern oder sich an die Menschenfreundlichkeit und Barmherzigkeit Europas zu wenden, um sich in der neuen Welt eine andere Heimat zu suchen.

Wölfe überfallen deutsche Einwanderer.

London. – Es ging hier von Moskau ein Bericht ein, dass eine Horde hungriger Wölfe eine der überfüllten Vorstädte Moskaus überfallen hätten. Zwei kleine Kinder wurden von den hungrigen Wölfen aufgefressen. Die Vorstädte Moskaus sind zur Zeit sehr überfüllt durch deutsche Bauern, die dort vorübergehend ihre Wohnungen aufgeschlagen haben, bis sie Erlaubnis erhalten, nach Kanada auszuwandern.

 

 

Ein großes Unglück.

  Von Moskau kommt die Nachricht, dass Johann Kohl Wiens von Halbstadt bei der Ankunft in Moskau, indem er seiner alten Mutter behilflich ist beim Aussteigen aus dem Zug, der noch einmal einen Ruck macht, wodurch Br. Wiens ausgleitet, unter den Zug fällt und auf der Stelle getötet wird. Lasst uns der alten Mutter gedenken.

1929-12-04

 

    Es folgen nun Texte der Mennonitischen Rundschau vom 4. und vom 11. Dezember. 

Stalin unterschrieb den Erlass zur Ausreise am 25. November 1929. Die unten folgenden Texte wiederspiegeln aber noch die Lage vor der Unterschrift. Wir lesen da von dem 

- Andrang tausender Auswanderer in Moskau, darunter auch viele Nichtmennoniten

- Die Furcht Kanadas, so viele aufnehmen zu sollen, gerade als es in den Winter geht. Das würde für das Land eine unüberwältigende Herausforderung bedeuten, die Bevölkerung strebt sich dagegen

- Wenn Kanada die Leute nicht will, dann müssen die Sowjets handeln, d.h. die tausenden Ankömmlinge zurückschicken.

   Die Rundschau vom 4. Dezember berichtet über den Ansturm von Mennoniten in Moskau. Der Bericht wird wohl im Oktober geschrieben sein, also über einen Monat vor dem erlösenden 25. November

     Die Sommerhausvermieter in Moskau freuen sich der unerwarteten Gäste und richten ihre Preise danach. Ein Dorf nach dem anderen rechts und links von der Bahn wird belegt. Mittags zwischen 11 und 4 Uhr rollt von Norden der Sibirienzug Nr. 61 vorbei; dann drängen sich die deutschen Bauern auf den Bahnhof, schauen scharf nach den verstaubten kleinen Fenstern der Waggone um Bekannte zu entdecken.

    Täglich kommen aus Sibirien, aus dem Omsker, Pawlodarer und hauptsächlich dem Slawgoroder Bezirk 20 bis 40 Familien hinzu. (Siehe hier in Google Maps!) Täglich sind das rund 200 Seelen. Bald werden 6000 vor Moskau stehen.

    In Stuben von drei zu drei Metern drängen sich 15, 20, 50 Menschen; als Miete müssen monatlich 20 bis 40 Rubel erlegt werden. Ein Wucherpreis. Die Stuben sind ohne Möbel bis auf eine jämmerliche Bretterbank, einen klapprigen Holztisch aus nackten Brettern. Lange nicht alle besitzen einen Ofen. Frost und Schnee stehen vor der Tür. Schafspelz und Winterjacke aus Hasenfell schützen nicht lange; sie sind Bett und Kissen zugleich. Auf Bündeln und Körben ist für Alte und Kranke ein Lager errichtet. Die anderen, Erwachsene, Halbwüchsige und viele blonde, blauäugige Kinder, schlafen auf dem Fußboden. Wer „wohlhabend“ ist, d.h. noch ein paar hundert Rubel sein Eigen nennt, richtet sich etwas bequemer in ihm zugemuteten auf die nächsten Wochen ein. Viele aber haben schon heute nichts! Nichts als den Willen: Hinaus!

      Was für Leute sind es, diese, die nach Moskau kommen? Und aus welchen Gegenden Russlands kommen sie?

    Die große Mehrheit sind fromme, starke, fleißige, ehrsame, tüchtige Mennoniten. Sie stammen ursprünglich aus Ost- und Westpreußen, sind um die Mitte des vorigen Jahrhunderts um ihres Glaubens willen nach Südrussland gezogen, haben dort mit gutem Erfolg gebauert und mussten um die Jahrhundertwende ihre überzähligen Söhne auf Neuland nach Sibirien schicken.

     Dort gab es 150 Morgen freien Acker, und in 20 Jahren schwerer Pionierarbeit schufen sie alle sich Haus und Hof. Am Slawgorod-Bezirk sitzen 32.000 Deutsche. Auch aus der Krim sind viele gekommen (Siehe hier in Google Maps!). Im nördlichen Steppengebiet der Halbinsel siedeln sich 25.000 an.

    Der Nordkaukasus hat „Kundschafter“ geschickt. Als Vorboten der deutschen Siedlungen im Orenburger Gouvernement sind auch eine Anzahl Familien da (Siehe hier in Google Maps!). Aus dem Siebenflussgebiet Mittelasiens trafen die ersten als „Späher“ ein. Dieses Geheimnis ist nicht zu erklären. Durch Breiten- und Längengrade voneinander getrennt, vom Schicksal seit vielen Jahrzehnten von der deutschen Heimat entfernt, finden sie sich in diesen nichts sagenden Moskauer Sommerorten irgendwie zusammen; Mennoniten, begleitet von ihren Laienpredigern, fromme Katholiken und gottesfürchtige Lutheraner.

     Was sind die Gründe dieser Flucht? Was hat sich in Russland so grundsätzlich verändert?

     Wer die Dinge der Landwirtschaftspolitik der Kommunistischen Partei im Rätebund verfolgt hat, weiß, dass seit dem Winter 1927 eine böse Not für die reichen Bauern, die Kulaken, begonnen hat. Seit einem Jahr konnte der Großbauer in der Praxis als wirtschaftlich tot und besiegt angesehen werden. Der Angriff richtete sich von da an gegen den Einzelwirt überhaupt, der nur dem Schein nach noch auf eine ungehinderte Existenz Anspruch erheben durfte, auch wenn er bloß Mittelbauer war. Der Staat verlangte Sozialisierung, Kollektivierung der Landwirtschaft und führte sie rücksichtslos durch.

      Warum kann sich der Bauer deutscher Herkunft so schlecht in die neue Ordnung anpassen?

     Und was die wahrscheinlichsten Gründe? Der deutsche Bauer, reicher, weil strebsamer, nüchterner und fleißiger, auch kulturell höher stehend als seine russische, tatarische, kosakische Umgebung, Freund eines sauberen, ordentlichen Hofes und Wohnhauses, musste vielleicht am ehesten dem unausweichlichen Schicksal der kommunistischen Experimentatoren verfallen. Der Kulak ist nach dem Willen der Partei dem Nichts, dem Sterben ausgeliefert. Für die anderen bäuerlichen Gruppen heißt die Lösung Artel, Kollektiv, Kommune.

      Wir erleben in den letzten Monaten nach der Durchführung grausam logischer Schritte von Gewaltmaßnahmen gegen den Individualwirt einen überraschend großen Zustrom der russischen Bauern in die vom Staat organisierten und materiell stark gestützten Kollektivformen landwirtschaftlicher Bewirtschaftung. Es gibt, in der deutschen Wolgarepublik und in anderen größeren geschlossenen deutschen Kolonistengebieten, sich befindend, auch deutsche landwirtschaftliche Kollektive, die wenigstens zustande gekommen sind und bestehen, ohne dass allerdings heute schon irgendein Urteil über die Bewährung möglich wäre.

     Unter den Tausenden, die jetzt vor Moskau zusammengeströmt sind, sind auch Kulaken, denen grundsätzlich keine Möglichkeit gegeben ist, Kollektiven beizutreten. Die Mehrzahl jedoch besteht aus Mittelbauern, wovon die Ausweispapiere zeugen, und viele sind darunter, die Knechte und Arbeiter, ohne Vieh und ohne Maschine, die Hirten und Arbeiter waren. Sie lehnen es ab, in die Kollektive "der Russen", wie sie sagen, zu gehen. Vielleicht gelingt mit dem russischen Bauer das Experimente der Kollektivierung. Nach 5 Jahren wird man darüber urteilen können. Der deutsch Bauer, als Kolonist doppelt harter Kämpfer und Wirt, 200 Jahre älter in seiner individualistischen Kultur, fügt sich sicher nicht darein.

      Kollektivwirtschaft heißt "neues Dasein" ohne Gott, ohne Kirche, unter Auflösung der Familie, die Kinder in das Erziehungsheim, getrennt von den Eltern. Mit freundlich lächelnder Ruhe, mit einer unheimlichen Festigkeit, erklären diese Männer und Frauen: „So wollen wir nicht leben, so lassen wir unsere Kinder nicht leben.“ Und wenn sie sagen, dass sie dann lieber sterben wollen, klingt es nicht wie eine Redensart. Sie können einfach nicht ohne ihren Gott sein. So spricht der Bauer und der Knecht, zögernd, leise, einfach, dass es mir erdauert.

       Die Kommunisten treiben die Einzelwirte bewusst in die Verzweiflung.

      Für Sibirien war der äußere Anlass die schwere Missernte dieses Jahres und die unvernünftige, wenn nicht gewissenlose Verteilung der Getreidelieferungsauflage, die mengenmäßig von oben herab, bis auf das Dorf und den einzelnen Bauern sich als unerbittliches Muss fortsetzt, wo in der Mehrzahl der Fälle dann das tatsächliche Ernteergebnis doppelt und dreifach übertroffen wird. Wenn ein Dorf 12.000 Pud erntet und 34.000 Pud abliefern muss, sind die Bauern gezwungen, ihr Vieh und ihre Habe zu verkaufen, oder es wird ihnen zu Spottpreisen versteigert. So kann ein Dorf wie Blumenort, dessen 35 Wirte im vorigen Jahr je 1000 Pud abgeliefert haben, für immer vernichtet sein. Nur die Besitzer von großen Höfen sind übrig geblieben. Alle anderen warten hier auf die Ausreise. Zehn, zwanzig Männer bestätigen von ebensoviel Dörfern, dass mehr als die Hälfte der Wirtschaften verlassen ist. Einigen, den ersten, die schon zwei und drei Monate vor Moskau liegen, gelang es, ihr Letztes noch zu verkaufen, viele haben ihr Haus geschlossen und sind davongegangen. Man stelle sich vor, was dies für einen Bauern bedeutet. Was das volkswirtschaftlich bedeutet, gehört zurzeit nicht hierher.

1929-12-04

 

     Eine Zeitung in Kanada versucht, das Phänomen der Massenflucht aus Russland seinen Lesern zu erklären: 

     Es gibt für sie kein Zurück. Sie stehen so, dass sie wählen konnten, im langen, einsamen Winter dieses Jahres ungesehen und ungehört Hungers zu sterben oder vor Moskau, vor den Toren der Hauptstadt, zu erwarten, was ihnen das Schicksal Besseres geben kann. Ein Schlechteres konnten sie nicht erwarten! Wohin jetzt? Sie hoffen auf Kanada, sie sprechen von Deutschland. Die Mennoniten wissen, dass sie jenseits des Ozeans Freunde haben. Arbeiten können sie; leben, die Kinder am Leben erhalten will jeder. Die letzten Jahre gestatteten eine, wenn auch geringfügige Auswanderung aus der Sowjetunion. Ende August gingen zuletzt noch 60 Mennonitenfamilien hinaus.

     Es scheint, dass die sowjetische Regierung aus unerklärlichen Gründen nur ungern die Auswanderung gestattet. Die Pässe kosteten 100 bis 300 Rubel, und mussten, scheint’s, erkämpft werden. Was aber könnte den Staat hindern, ein fremdes Volk, das hier an ein neues Dasein nicht mehr zu glauben vermag, friedfertig ziehen zu lassen?

       Doch jenseits der Grenzen winkt diesen, wie allen Auswanderern, kein Paradies. Wer wird sich ihrer erbarmen? Wer will diese Menschen, die außer einem Wanderstab in kräftigen, arbeitsfrohen Armen nichts mitzubringen vermögen? Hier sind sie überflüssig. Edmonton Herald.

1929-12-04

     Kanadier können es nicht verstehen, warum die Mennoniten aus Russland fliehen wollen, denn kürzlich hat die sowjetische Regierung viele Traktore und Maschinen für die Landwirtschaft in Kanada gekauft. Ein kanadischer Mennonit, G. Sawatzky, versucht es seinen Landsleuten zu erklären:  

Die Flucht der Mennoniten aus Russland und ihre Einwanderung in Kanada

      In den letzten Tagen ist das Augenmerk der Welt auf die Flucht der Mennoniten aus Russland gelenkt worden. Verschiedene Organisationen in Kanada glauben, berechtigt zu sein, an der Aufrichtigkeit der Gründe der Flucht zu zweifeln, wie z.B. die Farmervereinigung von Saskatchewan, die laut den Zeitungsnachrichten vom 10. November bezweifelt, dass irgendein Grund vorliege, dass Mennoniten aus Russland auswandern, da die russische Regierung ja eine ganze Anzahl von modernen Farmmaschinen angeschafft hat, um 30 Millionen Acker Land bearbeiten zu können.

     Die Herren dieser Vereinigung wollen scheinbar nicht verstehen, dass diese Maschinen den einzelnen Bauern in Russland nicht zur Nutzung gegeben werden, da die Sowjetregierung bestrebt ist, größere Staatsfarmen zu organisieren, die genügend Getreide produzieren können, damit Russland in der Lage wäre, Getreide ins Ausland zu liefern. Man weiß scheinbar nicht, dass die Sowjetregierung größere Landkomplexe zu diesem Zweck reserviert hat, z.B. 150.000 Desjatinen im Nordkaukasus.

     Der einzelne Bauer aber hat keinen Nutzen daraus, denn das Ziel der Sowjetregierung ist, die Wirtschaft soviel wie möglich zu verstaatlichen, und es kümmert sie nicht um das Wohl und Wehe der einzelnen Bauern. Ich habe Nachrichten aus einem Dorf in der Ukraine, in welchem 40 Landwirte waren, dass man 13 derselben vertrieben hat, weil sie der Sowjetregierung unpassend waren. Diese Wirte hatten vor der Revolution gute Wirtschaften, und war es der Energie der einzelnen Wirte zu verdanken, dass sie besser wirtschaften konnten als die anderen. Dieses wird ihnen heute zur Last gelegt, und man hat ihnen alles Hab und Gut abgenommen und sie von ihrer Scholle vertrieben.

     Wenn nun eine größere Anzahl Mennoniten und Leute anderer Konfessionen sich in Moskau zusammentun, um dort Auslandspässe zu erhalten, so geschieht dieses nicht deshalb, weil man die Gesetze der Regierung nicht respektiert, sondern weil es unmöglich ist, sie anzunehmen, und es ist eine Ehre für den deutschen Bauern, wenn er die Sklavenpolitik der Sowjetregierung nicht anerkennt.

G. Sawatzky.

1929-12-04

     Die Herausgeber der Mennonitischen Rundschau schreiben einen Appell an die deutsche Öffentlichkeit. Darin geben sie zu verstehen, dass Russlands allen in Moskau anwesenden Mennoniten die Ausreise gestatten würde, aber Kanada es verweigert diese zu Beginn des Winters aufzunehmen. Die MR appelliert nun an die deutsche Regierung sich seiner Landsleute anzunehmen. Deutschland befindet sich aber selbst in einem politischen Chaos und hat kaum Möglichkeit auf die Not seiner Landsleute in Russland zu reagieren.

    Falls keine schnelle Lösung aus dem Ausland kommt, wird die russische Regierung diese Menschen - es sollen schon 12 tausend sein - zurückschicken und das hat dann schreckliche Folgen:

  

Die Auswanderer aus Russland. Ein dringender Appell an deutsche Hilfsbereitschaft.

     Die Lage der bei Moskau zusammengeströmten deutschen Bauern aus Sibirien, insgesamt zwölftausend Männer, Frauen und Kinder, auf engem Raum zusammengepfercht, den beginnenden Winterfrösten in Notquartieren schutzlos ausgesetzt, ist so ernst geworden, dass an das öffentliche Gewissen Deutschlands ebenso wie an das der amtlichen Stellen dringend appelliert werden muss.

     Nachdem die Sowjetregierung diesen Flüchtlingen die Erlaubnis zur Auswanderung gegeben hat und ein erster Trupp nach Kanada abgereist ist, greift bei den übrigen eine verzweifelte Stimmung Platz, da nach den hier vorliegenden Meldungen Kanada sie erst zum Frühjahr aufnehmen will. Vor allem aber, weil völlige Unklarheit und Ratlosigkeit herrscht, was mit ihnen bis zum Frühjahr geschehen soll.

    Die Sowjetregierung will wegen der Gefahr von Epidemien und mangels geeigneter Auswanderer-Unterkünfte diese Tausende nicht weiterhin unmittelbar bei Moskau belassen und wird sie, wenn sie nicht schnell über die Grenze gebracht werden können, irgendwohin ins Innere abtransportieren und einem unsicheren Schicksal überlassen, zumal sie nach erfolgter Auswanderungserlaubnis für die hiesigen Behörden nur noch in sehr beschränktem Sinne als russische Staatsbürger gelten.

    Wenn hier nicht eine unerhörte Grausamkeit an Tausenden von schicksalsverfolgten Menschen geschehen soll, die trotz zufälliger Auslandspässe doch eben Deutsche sind, so gibt es nur noch einen Weg der Rettung – und diesen allerdings auch nur, wenn er sofort beschritten wird: unverzügliche Aufnahme dieser deutschen Flüchtlinge in deutsche Länder, wo man ihnen durchhelfen muss, bis sie im Frühjahr in die neue kanadische Heimat weiterreisen können.

     Es ist zu erwarten, dass gegen die Aufnahme dieser Unglücklichen nicht irgendwelche formalen Bedenken geltend gemacht werden, weil sie ausländische Pässe haben. Sie sind Deutsche und auf Deutschlands Hilfe angewiesen. Es ist kein Zweifel, dass die deutsche Öffentlichkeit nötigenfalls durch private Sammlungen die Mittel aufbringen wird, um diese deutschen Bauern einige Monate auf deutschem Boden zu beherbergen.

1929-12-11

    Eine deutsche Zeitung aus Stuttgart gibt eine Beschreibung der ersten in Kiel, Norddeutschland, angekommenen Flüchtlingen aus Russland. Der Reporter ist darüber erstaunt, was für Menschen das sind: 

Flucht aus der Hölle.

​Die deutschen Russland-Bauern wandern.
Von René Kraus.

Kiel, im November

     Sie haben sehr viel Gottvertrauen im Herzen und Lumpen haben sie an, die die Frauen täglich putzen und flicken, und eingefallene Wangen sind von flackernden Blicken erhellt, und verlaust sind sie überhaupt nicht, trotz monatelangem Herumlungern in den Elendsquartieren von Moskau. Das deutsche Sanitätspersonal war richtig erstaunt, als die Desinfektionsapparate sich in ihrer ganzen Überflüssigkeit erwiesen. Kulturträger sind sie immer noch, nach einem Jahrzehnt Verfolgung und Not. Recht herabgekommen natürlich, wie das armen Menschen so geht, die mit dem Tod auf Du und Du waren und die nun wieder atmen lernen müssen.

     "Wieder atmen lernen": Es ist der Ausdruck, den ein uralter Bauer aus einem weltverlorenen Weiler in der Krim fand, als er, zögernd genug, nach Worten suchte, das neue Leben zu preisen, das nun hier, in den Schuppen der Lagerhausgesellschaft in Kiel, leuchtend anheben soll.

     Worte finden – das ist aber ein schweres und undankbares Geschäft für einen, der geradewegs aus der Hölle kommt. Vermittels Massentransports auf einem erbärmlichen Zwischendeck. Im Anfang war das Schweigen. Einen Tag und eine Nacht sind sie schweigend beieinander gehockt, 324 Männer und Frauen, Greise und Kinder, die alle totmüde vor Hoffnung sind.

     Nun, es ist ihren Wärtern und Helfern schließlich auf die robusten Nerven gegangen, dieses Schweigen. Sie wussten nichts damit anzufangen. Auch frischgefüllte Suppeneimer mit sehr viel Speck und Löffelerbsen vermochten keine angeregte Konversation in Gang zu bringen. Und keiner zeigte sich geneigt, Anekdoten aus der Hölle Sowjetrusslands zum Besten zu geben. Nur abends singen sie fromme Choräle. Morgens auch.

     Sie verzichteten auf einen kleinen Bummel durch die Stadt. Fotografen, Beamte, Neugierige ließen sie mit unbeteiligtem Gleichmut über sich ergehen, wie er sich in zehn Jahren fortgesetzter kommunistischer Kontrolle lernt. Ihre Apathie war erschreckend. Dass sie wieder aufatmeten, lang und tief, ist weiter nicht aufgefallen. Wir wissen ja nicht, dass man, aller Gelehrsamkeit zum Trotz, auch leben kann, ohne zu atmen. Sie aber wissen es.

     Ein rechtes Leben ist das eigentlich nicht mehr. Sich drücken und sich ducken, zehn Jahre lang, zwölf Jahre lang – das war alles.

    Sie sahen zu, wie einem nach dem anderen Haus und Hof fortgenommen wurden. Steuerrückstände und Nichterfüllung der Lieferpflicht. Auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege werden die bolschewistischen „Getreidefabriken“ errichtet. Neues Leben blüht aus den Ruinen, heißt es bei den Sowjets.

    Nein, sie sind nicht nach Deutschland gekommen und wollen nicht von hier weiter nach Kanada, um den Blick zurückzuwenden in die Vergangenheit. Das ist gewesen, gewesen und vorbei. Es war also nie. Sie haben die Vergangenheit abgelegt. Keine Anklagen gegen das bolschewistische Regime und vor allem keine Erinnerungen an das Stückchen eigenen Boden, das man einmal hatte.

    Von Unterdrückung, von Verfolgung will der Besucher hören? O, da ist nichts besonderes vorgefallen! Es war alle Tage das alte Einerlei: Herzklopfen, ob der Kommissar kommt, leise Magenbeschwerden zur Vesperzeit, das wird wohl Hunger gewesen sein.

    Und Sonntag gab es ein bisschen Ruhe in der Kirche. Nur in sehr wenigen glücklichen Gemeinden übrigens. Die Kirche ... das ist eine eigene Sache. Sie wird nicht verfolgt oder verboten, erzählen die Bauern. Sie wird nur besteuert. Zwar, dass die Steuer das Doppelte der Aufwendungen für religiöse Zwecke beträgt. Aus Kirchen, die zugrunde gegangen sind, machen sie dann kommunistische Klubhäuser. Alles ohne Zwang, natürlich ...

    Da fand die Revolte im Gotteshaus. Eines Morgens war der Pfarrer verschwunden. Aus Nachbargemeinden kam die Kunde: er wanderte von Ort zu Ort, nach Moskau zu. Dort wollte er um eine Ausreisebewilligung anfragen und den Weg zu Amtsbrüdern in Europa oder Amerika finden. So begann der Zug, der sich schnell in der einen Gemeinde ausbreitete. 

    Die Entfernungen sind unvorstellbar groß, und russische und halbasiatische Stämme siedeln zu Millionen zwischen verstreuten deutschen Kolonien. Es gibt keine Post, kein Telefon, keine Bahn – dennoch verbreitet sich die Kunde von der Flucht des einen und des anderen. Immer häufiger wird solche Kunde. Hunderte, viele hunderte, schließlich tausende finden sich in Moskau zusammen.

     Hier suchen sie Ausreiseerlaubnis und hier sucht man ihren Rädelsführer. Das höchste Strafmaß – so lautet die höfliche Umschreibung für Todesstrafe – ist ihm sicher. Nur dass er von der Inquisition der G. P. U. nicht gefunden wird. Sie haben keinen Rädelsführer und keinen Anführer.

     Hier, auf deutschem Boden, in voller Freiheit und Sicherheit wiederholen sie es. Und gerade das ist der überwältigende Eindruck: dass es ein nicht organisiertes Massenfliehen ist. Jeder für sich. Und Gott für alle, setzen gläubige Mennoniten hinzu. Sie erzählen, dass Katholische und Lutheraner genau so auf der Flucht seien. Es ist keine religiöse Angelegenheit allein, sondern eine urmenschliche. Ein Phänomen, dieser Zug der gleichzeitig auftauchenden deutschen Bauern, so viele, meinen sie, sind jetzt auf der Wanderung, von denen die Geschichte einmal sprechen wird.

     In den Elendsquartieren von Moskau lagern sie. Tag und Nacht und Woche und Monat. Vorsprachen bei den Behörden. Darauf Zwangsverschickung, Zwangsinternierung, Zwangsmaßnahmen. Alles vergeblich. Im Lager von Kiel ist keiner, keine Frau, kein Greis, der sich nicht williger hätte erschießen lassen, als dass er zurückgekehrt wäre in die Hölle.

     Sie zittern heute noch, wenn sie den Namen Kalinin aussprechen. Die Vision dieses Gewaltigen, der immer noch als Bauer umhergeht, in Stulpenstiefeln und fleckigem Kittel, verfolgt sie heute noch. Kalinin als er die Bauerndeputation empfing. „Eine milde Handbewegung hat er gemacht,“ sagte mir einer, der dabei war, „und dann hat er gemeint: Wenn Ihr gehen wollt – wir halten Euch nicht! ... Bekümmert war der große Kalinin. Dann haben sie jedem von uns 200 Rubel abgenommen. Wer das Geld nicht hatte, musste zurückbleiben (denn so bekümmerte sich, dass er auf die 200 Rubel verzichtet hätte, scheint der große Kalinin doch nicht gewesen zu sein) - und hier sind wir nun.

     Dreihundert sind hier, sechstausend warten in Moskau, sechzigtausend sind auf wilder Wanderung, zwei Millionen halten immer noch den breiten Rücken her, auf den die Schicksalsschläge niederprasseln. Das ist das Heldenlied der deutschen Russlandbauern.

Stuttgarter N. Tagblatt. 1929-12-11

    In einer Meldung der MR vom 11. Dezember berichtet ein hoher Beamter des Auswärtigen Amts Deutschlands, warum das Land nicht imstande ist, die vielen Auswanderer aufzunehmen:

Deutschlands Appell zur Hilfe für die Deutschrussen

 In Berliner offiziellen Kreisen wird rückhaltlos zugegeben, dass Deutschland nicht imstande sein wird, sich der 13.000 deutsch-russischen Bauern, in erster Linie Mennoniten, anzunehmen, welche sich vor den Toren Moskaus angesammelt haben, in der Hoffnung, über Deutschland nach Kanada und Südamerika auszuwandern.

     „Angesichts unseres Arbeitslosenproblems, unserer industriellen Depression und der Reparationszahlungen“, erklärte ein hoher Beamter des Auswärtigen Amts, „ist die Grenze des Möglichen so ziemlich erreicht. Verzweifelt erheben wir unsere Hände und erklären: Wir können uns dieser unglücklichen Deutsch-Russen nicht annehmen.“

    „Unsere Hoffnung geht dahin, dass andere Nationen diesen plötzlichen und tragischen Auszug der russischen Bauern als eine Katastrophe betrachten, die an das Sinken der ‚Titanic‘, den Ausbruch des Vulkans und des Mt. Etna und an das Erdbeben in Japan erinnert. Dazumal wurden ohne Unterschied der Nationen in so ziemlich allen Teilen der Welt Ausschüsse gebildet, die das Hilfswerk für die Unglücklichen einleiteten. Etwas Ähnliches sollte auch in diesem Falle geschehen.“

      Eine amerikanische Zeitung veröffentlicht folgende Nachricht:

Brasilien bietet Zuflucht an

Brasilien hat sich bereit erklärt, einen großen Prozentsatz der deutsch-russischen Flüchtlinge, von denen eine Anzahl bereits in Deutschland weilt, während die übrigen auf Gelegenheiten warten, Russland zu verlassen, aufzunehmen.

     Den Bauern sollen in Südbrasilien Wohnstätten zugewiesen werden, wo bereits eine erhebliche Anzahl deutscher Siedlungen vorhanden ist.

    Von den 13.000 deutsch-russischen Bauern, die in der Hoffnung, nach Kanada und Südamerika auszuwandern, ihr Land und Gut verkauft hatten, werden jetzt an die 9.000 im Nordwesten der Sowjetrepublik, wie in dem Hilferuf aus Berlin gemeldet wird, in Frachtwagen wie Vieh wieder in ihre Dörfer abgeschoben.

     Die Rücksendung der Bauern in ihre Dörfer wird vielfach als gleichbedeutend mit der Todesstrafe betrachtet.

Von den 13.000, meist Mennoniten, deren Vorfahren unter der Zarin Katharina der Zweiten aus Deutschland nach Russland ausgewandert waren, hatten ihre in ganz Russland zerstreuten Siedlungen verlassen, wurden aber von den Sowjet-Behörden gemaßregelt, angehalten, ihrer Habe beraubt und anderweitig eingeschränkt, sodass sie schließlich, halb verhungert, in Lagern nahe Moskau der Verzweiflung nahegebracht wurden.
Philadelphia Gaz.-Dem.

1929-12-11

Das Deutsche Rote Kreuz sendet folgenden Aufruf an die deutsche Bevölkerung:

Aufruf deutscher Verbände

     „Brüder in Not! Eine Katastrophe über Deutsche im Ausland ist hereingebrochen!

     Tausende deutscher Bauern sind durch Hunger und wirtschaftliche Not von ihrer Scholle in Sibirien vertrieben. Eine deutsche Hungerwanderung hat in Russland begonnen! 10.000 Heimat- und Existenzberaubte, deutsche Bauern, haben sich vor Moskau angesammelt, um auf dem Wege über Deutschland nach Übersee auszuwandern. Hunderte sind bereits bettelarm in Deutschland eingetroffen. Kinder, Frauen und Greise leiden unsäglich. Den Flüchtlingen bleibt in Russland keine Wahl. Sie müssen weiterwandern, weil der ihnen drohende Rücktransport nach Sibirien ihren sicheren Hungertod bedeutet.

     „Das Schicksal eines Deutschen geht einen jeden Deutschen an!

     „Die unterzeichneten Verbände rufen deshalb trotz der schweren wirtschaftlichen Not im eigenen Lande das deutsche Volk zu einer Sammlung für seine furchtbar heimgesuchten Brüder auf. Wir haben den Hunger selbst durchgemacht. Hier aber hat er Tausende von Vertriebenen ergriffen, denen in der gegenwärtigen Jahreszeit zu allen anderen Qualen die Unerbittlichkeit des Winters droht.“

     „Spenden nehmen die deutschen Großbanken entgegen, Postscheckkonto Berlin No. 117,200 „Brüder in Not!“ (Deutsches Rotes Kreuz).“

1929-12-11

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