top of page

Zurück zur Hauptseite

Seite 3

  

     

      Ab der Ausgabe vom 28. November 1934 erzählt die Wochenzeitschrift "Der Bote" die Geschichte der Flucht von zwei sowjetischen Intellektuellen, Vladimir und Tatjana Tchernavin.

      Zur Zeit Stalins brauchte es tatsächlich keiner Schuld eines Menschen, um in einem Konzentrationslager zu landen und dort unsäglichen Qualen ausgesetzt zu werden. Wenn Stalin der Meinung war, dass er jemanden verdächtigen musste, war es um den Menschen oder die Menschengruppe geschehen. So entledigte er sich hoher Generäle, Ärzte, Wissenschaftler und Parteigenossen.

     Vladimir und Tatjana kamen ins Gefängnis. Wie war das Leben in einem Gulag? Davon handelt die heutige Ausgabe.

   

Tauben

     Unsere einzige Freude im Gefängnis waren Tauben. Es gab derer im Frühjahr viel. Mit weichem Sausen flogen sie über die Dächer der Gefängnisgebäude und setzten sich auf den schmutzigen Schnee, der schon auftaute. Jede von uns ließ während des täglichen Spaziergangs Brotkrumen für die Tauben zurück. Sie tummelten sich gurrend auf den Gesimsen oder tappten mit ihren Füsschen auf den eisernen Fensterbrettern. Am ersten Ostertage gelang es einer Gefangenen, in einer Ecke des Hofes ein Ei niederzulegen, das mit Hilfe eines Kopierstiftes und farbiger Fäden - vermutlich von einem Kleid - gemäß einem alten russischen Osterbrauch bunt bemalt war. Die Tauben machten sich an das Ei heran, das bereits in zwei Hälften zerschlagen war, und zerpickten die Eierschale in kleine Stücke, und viele der kleinen Stücke trugen die Aufschrift: „Chr. A!“ „Christus ist auferstanden!“ So werden in Russland am Ostertage die toten Verwandten begrüsst. Man lässt bunte Eier auf den Gräbern zurück, damit sie von den Vögeln aufgefressen werden.

     Unsere Spaziergänge waren nur kurze Augenblicke der Freude; die Tauben aber waren unsere treuen Freunde. Sie kamen oft, pickten Brotkrumen, die wir auf die Fensterbretter streuten, guckten in unsere Zellen hinein, streckten komisch ihren Hals aus und blickten uns von der Seite an, als ob sie uns anstaunten. Das Füttern der Tauben war streng verboten, und die Aufseher passten scharf auf. Vom Hof konnte man genau feststellen, auf welches Fensterbrett sich die Tauben niedersetzten.

    Um nicht meiner illegalen Zusammenkünfte mit Tauben überführt zu werden, suchte ich für sie heimliche, stille Stunden aus. Wenn das Licht in den Zellen ausgedreht wurde, weil die Zeit für den Schlaf gekommen war, stand ich verstohlen auf, schlich mich zum Fenster und schüttete auf den Fenstervorsprung Brotkrumen. Beim Morgengrauen, zu einer Zeit, da sowohl die Aufseherinnen wie der wachthabende Soldat sich noch wenig um uns kümmerten, kamen die Tauben munter herangeflogen.

     In banger Erwartung des vorschriftsmäßigen Aufstehens hörte ich schlaftrunken dem Gurren der Tauben zu. Diese Laute und der Zug der frischen, noch nicht durch die Küchendünste vergifteten Morgenluft erinnerten mich an Freiheit. Es ist Sommer, Sonne leuchtet über der schimmernden See, der Himmel ist blau und heiter. Mein Junge tummelt sich in dem seichten Wasser des Finnischen Meerbusens. Der Junge schreit, lacht, spuckt aus, wenn das salzige Wasser ihm in den Mund kommt. Kann er jetzt noch lachen? Wo ist er?

     Meine lieben Freunde, jetzt wird es Zeit, dass ihr davonfliegt. Gebt acht, der wachthabende Soldat streckt sich schon gähnend. Es fällt mir schwer, euch wegzuscheuchen.

    Bald wurden auch diese lieben, unschuldigen Freunde der Gefangenen von der GPU vernichtet. Es wurde befohlen, sie einzufangen und zu töten. Im Hof wurden Vogelfallen aufgestellt und die zahmen Tiere in wenigen Tagen eingefangen.

 

Die Freilassung

     Der Sommer ging seinem Ende entgegen. Wir litten sehr unter der schwülen Hitze.

     Ich blieb über mein Schicksal völlig im Dunkeln. Seit der Verhaftung meines Mannes waren zehn Monate vergangen. Ich fragte mich, ob man mich nicht einfach vergessen habe. Von den Frauen, die in den Einzelzellen saßen, bekamen die meisten fünf bis zehn Jahre Verbannung. Sie blieben bis zur Bestätigung des Urteils durch die Moskauer Zentrale der GPU in Haft. Zwei Frauen, eine von ihnen war meine Zellengenossin, mussten Todesurteile über sich ergehen lassen, die später durch zehnjährige Verbannung ersetzt wurden. Die Tage zogen sich für mich sinnlos hin.

​    Plötzlich wurde ich zu einem Verhör bestellt. Also die Entscheidung! dachte ich mir. Aber was für eine Entscheidung?

    Derselbe Kommissar Lebedew sitzt vor mir, und seine saloppe Manier war die alte geblieben.

    „Setzen Sie sich!

    Er blickt mich scharf an. „Sie sehen aber gut aus!

    „Sie auch.

    „Ja, ich habe Dienstreisen gemacht und dann Urlaub gehabt. Habe Sie daher etwas aufgehalten. Sie haben sich wohl gelangweilt?

    Ich versuchte, die Bedeutung dieser Ansprache zu erfassen. Was sollte das heißen: „etwas aufgehalten?

    Der Kommissar klopft mit seiner Zigarette auf den Deckel des Zigarettenetuis. „Ihren Mann haben wir in die Verbannung geschickt. Jawohl! Wir brauchen keine Schädlinge. Wir können sie entbehren. . .“

    Das ist also das Ende: Verbannt!

    „Wohin?“ Es fällt mir schwer, das Wort auszusprechen.

    „Was weiß ich. Irgendwohin, nach dem Norden. Was aber sollen wir mit Ihnen anfangen? Wo soll man mit Ihnen hin? Wir dachten an Solowki. Was sagen Sie dazu?

    Er blickt mich an und wartet auf den Effekt. Ich schweige.

    „Ja, ja! An Solowki dachten wir ernstlich. Ein schöner Ort ist das. Es gibt da Meer und Wald.

    Er schwatzt weiter. Ich höre seine Worte, kann mich aber nicht dazu zwingen, sie zu erfassen — ich spinne meine eigenen Gedanken weiter. Wohin wird mir nicht gesagt. Wann ist er in Verbannung geschickt worden? Das wird mir ebenfalls nicht eröffnet. Man hat uns nicht erlaubt, voneinander Abschied zu nehmen.

    „Wir dachten an Solowki. Sie taten uns aber leid. Sie haben ja einen Jungen. Wir haben uns übrigens sehr um ihn bekümmert. Er wurde brav, fleißig, wurde versorgt. Aber verwahrloste Kinder brauchen wir nicht. Sie werden jetzt für ihn arbeiten müssen.

    Er schwatzt noch lange. Mir schien es wie eine Ewigkeit. Endlich entließ er mich. Meine Freilassung würde nun bald erfolgen, sagte er. Ich atmete erleichtert auf und hatte kaum die Kraft, mich nach der Zelle zu schleppen.

   Der Abend verstrich, ohne dass ich abgeholt wurde. Das tat mir recht leid. Wenn ich mich auch fürchtete, in das zerstörte Heim zurückzukehren, das mein Mann nicht mehr betreten sollte. Wo ist er? In Kem, in Solowki, in Archangelsk? Wie lebt er, und ist er überhaupt noch am Leben? Nachts konnte ich nicht einschlafen. Meine Gedanken ließen mich nicht zur Ruhe kommen.

    Der Tag brach an. Ich wurde zum Spaziergang hinausgeführt. Meine Leidensgenossinnen starrten mich erstaunt an. So sehr hatte ich mich in einer einzigen Nacht verändert.

    „Was ist los?

    „Mein Mann ist verbannt worden“, flüsterte ich ihnen im Vorbeigehen zu. „Wohin, weiß ich nicht. Wann, weiß ich auch nicht. Man versprach mir, mich freizulassen...“

    Der Tag zieht sich in die Länge, einen so langen Tag habe ich in meinem Leben nicht erlebt.

    Die Nacht vergeht ohne Schlaf. Der Gedanke, dass ich meinen Mann nicht mehr sehen werde, dass er vielleicht nicht in meinen Armen sterben wird, lässt mich nicht zur Ruhe kommen.

    Ein neuer Tag bricht an. Ich werde wieder zum Spaziergang hinausgenommen. Die Gefangenen starren mich erschreckt an. Es ist bekannt, dass die GPU-Leute zuweilen die Freilassung versprechen, nur um den Willen des Gefangenen zu brechen; wird er dann mit neuen Verhören und neuen Drohungen überrascht, so leistet er keinen Widerstand mehr. Niemand von uns weiß, dass das ganze Verfahren gegen mich bereits am 13. April abgeschlossen worden ist, und dass man mich vier Monate lang einfach vergessen hat. Vier ganze Monate!

    Zwei Uhr. Ich lege mich schlafen. Vielleicht hat sich der Kommissar die Sache überlegt und mich zur Verbannung verurteilt. Dann wird mein Junge zugrunde gehen, weil niemand für ihn sorgen wird.

    Drei Uhr. Was ist das? Der Schlüssel wird leise im Schloss umgedreht, und die Aufseherin flüstert mir zu: „Machen Sie sich fertig!

     „Wohin?“ springt meine Zellengenossin auf.

     Keine Antwort. Die Aufseherin bleibt in der Zelle stehen, bis ich mit dem Packen fertig bin.

     „Machen Sie kein Geräusch“, warnt sie im Flüsterton. Niemand soll hören, dass ich weggeführt werde. Ich will aber meinen Leidensgenossinnen, obwohl ich sie gar nicht kenne und nur bei unserem Spaziergange erblickt habe, Freude machen. Ich stolpere, lasse den Koffer fallen und sage laut: „Ach!“

     Das ist mein letzter Freundschaftsgruss, der bei den Zurückgebliebenen die Hoffnung erwecken soll, dass die Rettung aus diesem verfluchten Totenhaus doch noch möglich ist. Ich weiß, dass sie sich mit mir freuen.

    Zu Hause fand ich, was ich erwartet hatte: fremde Menschen; Unordnung; meine Sachen verkauft. Das war aber nicht die Hauptsache. Ich hörte bloß den Aufschrei meines Jungen: „Mutti!“ Er brachte mich zum Leben zurück. Dieser Aufschrei war voll Jauchzen, Tränen, Überraschung, Liebe und Leid — von allem was dieses kleine Herz erfüllte.

    „Mutti! Mutti! Mutti!“ wiederholte mein Junge in allen Tonarten.

    Leise, laut, zärtlich, klagend. Andere Worte fand er nicht.

     „Warum bist du so abgemagert, Liebling? Warst du krank?“ fragte ich ihn. Ich beschaute und betastete ihn. Ich konnte es noch nicht glauben, dass ich meinen unglücklichen, verwahrlosten Jungen berühren und streicheln durfte.

     „Nein, ich war nicht krank. Nur einmal hatte ich die Masern. Ich hatte dir aber trotzdem ein Paket gebracht, damit du dich nicht beunruhigst. Der Arzt hat's mir erlaubt. Ich hatte nur 37.5. Nachher legte ich mich wieder ins Bett.

     „Du Armer! Hast du die Pakete für mich und Vati immer selbst gebracht?

     „Ja, ich musste die Pakete immer selbst hinbringen. Sie werden ja nur von Verwandten angenommen.

     „Da musstest du dich doch stundenlang anstellen?

     „Ja, Mutti.

     „Fünf oder sechs Stunden im Gefängnis Schlange stehen, mein armer Junge!

     „Ich werde nie, nie, nie mehr durch die Straße gehen, Mutti, wo ein Gefängnis steht. Wenn du nur wüsstest, Mutti, wie schwer es war, die Säcke zu schleppen. Ich bin so glücklich, dass du hier bist!

    Er rieb sich mit seinem lieben, abgemagerten Gesichtchen an mir, schmiegte sich an, wusste nicht, was er anstellen sollte, um es ganz zu begreifen, dass ich wieder zu Hause, wieder bei ihm war!

    „Wer hat dich denn gefüttert? Du siehst so elend aus! Abgemagert bist Du!!“

    „Ich habe in der Schule gegessen und wenn ich zu Hause war, bei den Nachbarn. Die haben aber auch wenig Geld.

    „Wo ist aber mein Flügel?

    „Versilbert. Jetzt kannst du abends nicht mehr spielen. Ich habe die Leute gebeten, den Flügel nicht zu verkaufen. Man hat mir aber gesagt, wir hätten kein Geld mehr, um Pakete für dich zu besorgen. Sie kosten ja so viel Geld.

    Der Kleine wurde ganz traurig.

    „Macht nichts, Junge. Denke nicht mehr daran. Jetzt werde ich so viel arbeiten müssen, dass mir zum Spielen keine Zeit mehr übrig bleibt“, tröstete ich ihn.

     Er starrte bloß vor sich hin...

     „Sag, hast du Vati gesehen?“ frage ich.

     Der Junge nickte. Sein Gesicht wurde ganz ernst und traurig.

     „Wann?“ Ich musste mich zusammennehmen, um nicht aufzuschreien.

     „Im April. Er wurde damals nach Kem verbannt.

     „Wie sah er aus?

     „Er war sehr blass, wie ein Kranker.

     „Was hat er gesagt?

     „Ich soll mit dir fahren, wenn du verbannt wirst.

     Wir schwiegen. Nach einer Pause fasste er den Mut, mich zu fragen: „Werden wir zu Vati reisen?

     „Ja, wir reisen zu ihm, bald.“ Ich wusste, was ich zu tun hatte. In der ganzen Welt waren mir nur zwei Menschen teuer. Wir drei mussten zusammenkommen, koste es, was es wolle.

Vorbereitungen für die Zusammenkunft

     Ich war jetzt dreiundvierzig Jahre alt. Mehr als die Hälfte des Lebens habe ich in meinem Beruf gearbeitet, bis die GPU es für nötig hielt, meine Arbeit gleichsam entzweizubrechen, weil ich die Ehefrau eines Angeklagten war. Es stand nichts im Wege, wenn ich diese Arbeit jetzt wieder aufnehmen wollte. Das Gefängnis hatte mir zwar viel Kraft genommen; wenn ich auf die Straße kam, wurde ich von einem Gefühl der Schwäche befallen. In der Straßenbahn bekam ich Schwindelanfälle. Und wenn ich zu Hause war, so lag ich beinahe unausgesetzt. Aber da der Staat mich nicht verurteilt hatte und ich, nach den herrschenden Gesetzen, Anspruch darauf hatte, wieder beschäftigt zu werden, durfte ich auf meinen geschwächten Gesundheitszustand keine Rücksicht nehmen.

     Der neue Direktor der Ermitage – ein Parteimann, den man über den kunstwissenschaftlichen Leiter dieser unserer bedeutendsten Kunstsammlung gesetzt hatte – empfing mich kühl und komplimentierte mich rasch hinaus. Meinen Posten hatte er mittlerweile mit einem neuen Beamten besetzt.

     In der Kanzlei wurde mir mein Arbeitsbuch mit Angaben über meine dreiundzwanzigjährige Tätigkeit ausgehändigt. Außerdem erhielt ich die Legitimation für Fachleute. Ein Vermerk besagte, dass ich ohne Vermittlung der Arbeitsbörse keine Stellung annehmen dürfe. Das passte mir sehr gut. Ich wusste wenigstens, an welche Stellen ich mich zu wenden hatte. Zusammen mit meinem Jungen marschierte ich also zur Arbeitsbörse.

     Du darfst nicht traurig sein, Mutti“, sagte er zu mir. „In zwei Jahren bin ich mit der Schule fertig, und dann werde ich an einem Technikum studieren. Die Studenten erhalten ihre Arbeit bezahlt und kriegen Lebensmittelkarten erster Kategorie. Dann brauchst du keine Stellung und kannst in der Ermitage arbeiten, soviel es dir Spaß macht.

      Auf der Arbeitsbörse fand ich in der Abteilung des Kommissariats für Volksaufklärung nur wenige Stellensuchende; mehrere Lehrerinnen, die offenbar in ihrem Beruf nicht gerade erfolgreich waren, ein paar junge, frischgebackene Zeichnerinnen und einen zerlumpten, augenscheinlich nicht ganz nüchternen Mann. Nicht ein einziger Fachmann war zur Stelle. Anscheinend hatten sie alle Beschäftigung, falls sie nicht im Gefängnis waren.

      Ich reichte dem Beamten stumm mein Arbeitsbuch. Er sah es durch, blickte mich an, dann las er das Arbeitsbuch noch einmal.

     „Entschuldigen Sie, aber ich weiß nicht, was ich für Sie tun kann. Sie wissen wahrscheinlich selbst, dass Fachleute Ihrer Art von der Arbeitsbörse nicht angefordert, sondern direkt berufen werden.

     „Ja, das weiß ich, aber ich wurde infolge meiner Verhaftung vom Dienst suspendiert. Jetzt möchte ich vorschriftsgemäss durch Vermittlung der Arbeitsbörse eine Stellung erhalten.

     „Ich bin aber leider nicht in der Lage, Ihnen entsprechende Beschäftigung zu verschaffen“, entgegnete der Beamte. „Wenn Sie wirklich eine Stellung erhalten wollen, muss ich Sie bitten, mir einen anderen Beruf anzugeben.

     „Ich habe keinen anderen Beruf. Sie sehen aus meinem Arbeitsbuch, dass ich in zwei Jahren bereits pensioniert werden könnte.

     „Haben Sie keine anderen Kenntnisse?

     „Ich weiß nicht. Vielleicht könnte ich in einer Bibliothek oder in einem Archiv arbeiten“, antwortete ich.

     „Sind Sie sprachkundig?

     „Jawohl.

     „Welche Sprachen beherrschen Sie?

     „Im ganzen sechs fremde Sprachen.

     Er sprang auf und verschwand in einem anderen Zimmer, wahrscheinlich holte er sich bei einem Kollegen Rat. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück und sah die Zettel durch, die auf seinem Tische lagen. „Bei mir wird eine Hilfsarbeiterin für eine Bibliothek angefordert, aber nur für die einfachste Arbeit und bei den niedrigsten Gehaltssatz.

     „Ich wäre Ihnen dafür sehr dankbar. Es kommt mir bloß darauf an, Brotkarten zu bekommen.“ So wurde ich Bibliothekarin, hatte das Notdürftigste, um mich und das Kind durchzubringen, und konnte nun daran denken, alle Wege einzuleiten, um eine Zusammenkunft mit meinem Manne zu ermöglichen.

Zusammenkunft

      Dieses Wort hatte im Sowjetreich eine besondere Bedeutung. Zweimal im Jahre darf man um eine Zusammenkunft mit einem Gefangenen oder Verbannten nachsuchen. Die Erlaubnis dazu kann erteilt, kann aber auch verweigert werden. Das entsprechende Gesuch muss an Ort und Stelle eingereicht werden; in unserem Falle also musste es an die Verwaltung der Gefangenenlager im Solowkigebiet gerichtet werden. Es gibt zweierlei Erlaubnisse zu einer Zusammenkunft. Wird nur eine „allgemeine“ Erlaubnis erteilt, so muss die Zusammenkunft in der Kommandantur stattfinden: der Kommandant sitzt am Tisch in der Mitte des Zimmers, und die Personen, denen die Zusammenkunft bewilligt wurde, dürfen sich auf eine Bank am Fenster setzen. Der Kommandant ist berechtigt, in jedem Augenblick in das Gespräch einzugreifen. Eine „persönliche“ Zusammenkunft gilt als ein Glück, nach dem sich die Menschen jahrelang sehnen. Der Sträfling wird für ein paar Tage nach dem Quartier beurlaubt, in dem seine Angehörigen abgestiegen sind. Er muss sich um acht Uhr früh zur Arbeit begeben, von der er erst um 11 Uhr abends zurückkommt. Die restliche Zeit darf er aber mit seinen Angehörigen verbringen.

      Ich hatte also den Entschluss gefasst, nach Kem zu reisen. Hätte man mir etwa gesagt, dass ich meinen vor sieben Jahren verstorbenen Vater sehen könnte, so wäre die Wirkung nicht größer gewesen. Seit unserer Trennung war ein Jahr vergangen. Mein Junge war so aufgeregt, dass wir über unsere Reise fast gar nicht sprechen konnten.

     Eng aneinander geschmiegt, Wange an Wange, studierten wir die Landkarte von Nordrussland. Grüne Flächen bedeuten Wälder, braune Sümpfe, blaue Seen. Hier ist ein schwarzer Punkt. Es ist Kem, die Stadt im eisigen Norden am Weißen Meer. Der Junge presste seine Wange noch dichter an mich, streichelte und küsste mich und freute sich. Und wie immer, wenn eine Gemütsbewegung zu stark für ihn war, versuchte er plötzlich, sie mir zu verbergen und mit sich allein zu bleiben. Es war das erste Anzeichen dieses Zustandes, dass er sich für krank erklärte und den ganzen Tag im Bett blieb. So hatte er nach der Verhaftung des Vaters im Bett gelegen. Er weinte und klagte nicht, gab auch seiner Empörung in keiner Weise Ausdruck: Aber wenn ich erriet, was ihn derart über die Massen bewegte, war er überglücklich.

      „Mutter, wieso weißt du immer alles? Bist du nicht eine Zauberin?

      „Natürlich bin ich es. Ich weiß ja auch immer, ob du deine Zähne geputzt hast oder nicht.

      „Dann weißt du auch, dass wir Vater in Kem finden werden?

      „Ich hoffe es.

      „Wann kommen wir dort an, Mutti?

      „Um drei Uhr nachts.

      „Wo werden wir dort schlafen?

      „Vielleicht nirgends. Es ist ja möglich, dass der Zug Verspätung haben wird.

      „Wird man uns erlauben, Vati zu sehen?

      „Habe keine Ahnung, Liebling. Frage mich nicht mehr. Sind wir erst an Ort und Stelle, werden wir schon sehen, was wir zu machen haben.“ Wir schwiegen, dachten aber beide nur an die Reise. Wir mussten alles für die Reise vorbereiten, vor allem mussten wir Lebensmittel beschaffen. In Kem kann man ohne Lebensmittelkarten nichts kaufen; man muss alles mitbringen. Andernteils aber gibt es auf dem Bahnhof in Kem keine Träger; wir können also nur mitnehmen, was wir selbst zu tragen imstande sind; unsere Kräfte sind jedoch sehr bescheiden. Wir besorgen uns leinene Rucksäcke.

      „Wie werden wir denn ohne Kissen schlafen?

      „Du wirst deine Mütze unter den Kopf legen.

      „Und ohne Decke?

      „Du wirst dich mit meinem Mantel zudecken.

      Er jammerte nicht. Er fürchtete keine Entbehrung, keine Strapaze, war zu jedem Opfer bereit. Die Aufregung aber machte ihn müde. Vor der Abreise legte er sich hin und schlief so fest ein, dass ich ihn nur schwer wieder auf die Beine bringen konnte. Der Zug fuhr um ein Uhr nachts. Als ich ihn weckte, konnte er nichts verstehen und fiel immer wieder wie ein Sack um.

      „Steh auf, Liebling! Wir müssen zur Bahn!

      „Die Haltestelle kommt bald“, antwortete er mir schlaftrunken.

      „Wir werden nicht mehr zum Zug zurechtkommen, schnell, schnell! Es ist drei Uhr.

      „Nein, es ist elf Uhr. Aber wir müssen schon aufbrechen, um zu Vati zu fahren.

      „Zu Vati? Fahren wir!“ Er sperrte endlich die Augen auf, zog seinen Mantel an und nahm den Sack auf den Rücken.

      Zitternd vor Aufregung und nächtlicher Kälte brachen wir auf. Droschken gibt es wenige, Taxameter sind nicht aufzutreiben und außerdem fantastisch teuer, für uns jedenfalls unerschwinglich. Ich hatte mir zwar durch den Verkauf unserer Einrichtung etwas Geld verschafft, aber es reichte bei weitem nicht. Es war mir zum Beispiel nicht möglich gewesen, für den Jungen Überschuhe zu kaufen, und die alten waren ganz zerrissen. Auch Handschuhe hatte er nicht, ich konnte ihm nur zwei verschiedenfarbige Fausthandschuhe beschaffen, einen grauen und einen braunen. Aber was macht das aus! Die Hauptsache ist, dass wir nach Kem kommen und den Vater sehen!

Ankunft in Kem

      Kem. Wir stehen auf einem ungedeckten, hölzernen Bahnsteig; vor uns ein Blockhaus. Wir sind endlich, endlich nach einer furchtbaren Reise, die wir mit Elenden, Weinenden, Verdammten, Hungernden, Todgeweihten verbrachten, angekommen. Was wollen wir aber nun beginnen? Es ist tiefe Nacht. Drei Uhr vorbei. Es ist stockfinster. Schnee liegt nicht mehr, Erde und Himmel sind pechschwarz. Der Bahnsteig ist durch ein paar Laternen beleuchtet. Mein Junge blickt ängstlich drein.

      „Gehen wir in den Wartesaal“, sage ich. „Dort ist es wärmer.“

      Die Tür zum Wartesaal ist immer in Bewegung und knarrt laut. Die einen gehen hinein, die anderen hinaus. Wir treten über die Schwelle und bleiben betroffen stehen. Wir werden von hinten geschoben und müssen weiter.

      Der ganze Raum ist mit Menschen, die auf ihren Säcken und Truhen sitzen oder liegen, angefüllt. Die Luft ist verpestet. Die Leute, die hinter uns hereinkommen, steigen über die Schlafenden unbekümmert hinweg. Zwei Männer, die in Streit geraten sind beschimpfen einander und sind im Begriff, mit Fäusten aufeinander loszugehen. Wir werden immer weiter geschoben und steigen ebenso wie die anderen über schlafende Menschen. So kommen wir in einen großen Raum, der als Bahnhofswirtschaft dient. Ein paar schmutzige, ungedeckte Tische, neben ihnen halb zerbrochene Stühle. An einer Stelle steht ein Schanktisch, auf dem zwei Teller zu sehen sind. Der Büffetraum ist weniger überfüllt, denn hier muss man etwas bestellen. Wer nichts bestellt, wird hinausgeworfen. Eine verschlafene, zerzauste, dicke Kellnerin schenkt aus einem unförmigen Kessel eine braune Flüssigkeit ein, die aus gebranntem Hafer zubereitet und als Kaffee bezeichnet wird. Die Gläser, die mit dieser Flüssigkeit gefüllt werden, sind trübe und schlüpfrig. Untertassen gibt es nicht. Zucker wird nicht verabfolgt. Ich bestelle zwei Glas von diesem sogenannten Kaffee, der wenigstens heiß ist. Der Junge zittert vor Kälte wie ein Hund. Zwischen den Tischen bewegen sich Soldaten, Zivilisten von verdächtigem Aussehen und GPU-Leute in langen Mänteln oder kurzen Lederjacken.

       Eine Frau setzt sich an unseren Tisch. Sie ist kräftig gebaut, gesund und hat einen guten Pelz an.

       „Sie besuchen einen Verbannten?“ fragt sie leise, wobei sie sich über den Tisch herüberlehnt.

       „Ja.

       Meinen Reisezweck zu verleugnen oder zu verschweigen hat keinen Sinn. Ich bin aber einigermassen ratlos, was ich jetzt beginnen soll. Die Wirklichkeit, die ich vorfinde, entspricht gar nicht den Schilderungen, die man mir gemacht hat. Die Frauen, denen ich meine Kenntnisse verdanke, waren im Sommer in Kem gewesen, in der Jahreszeit der Hellen Nächte. Ich bin daher froh, dass ich die Frau ausfragen kann, und knüpfe selbst ein Gespräch an, dem mein Sohn erschrocken und argwöhnisch zuhört.

       „Bitte, wollen Sie mir vielleicht sagen, wann der Autobus von hier abfährt?

       „Der Autobus? Um acht oder um neun, ich weiß es nicht genau. Er fährt übrigens jetzt überhaupt nicht.

      „Wieso?

      „Beschädigt. Das kommt sehr oft vor. Ist er mal repariert, so fährt er ein paar Tage. Dann setzt er wieder aus.

      „Wie weit ist es noch der Stadt?

      „Zwei Kilometer. Der Weg ist sehr schmutzig, außerdem sehr beschwerlich. Wollen Sie bis zum Morgen warten?

       „Ich weiß nicht. Man hat mir gesagt, es gäbe einen Autobus.

       „Nein, nein. Man muss zu Fuß gehen. Das ist nicht so schlimm. Die Landstraße ist breit; man kann sich nicht verirren. Sie ist bloß kotig und finster.

       Die Frau spricht sehr schnell, auch verstehe ich ihren Dialekt nur mit Mühe.

       „Zum erstenmal?“ fragt sie mich im Flüsterton.

       „Zum erstenmal.

       „Haben Sie die Sprecherlaubnis?

       „Was für eine Erlaubnis?

       „Ich meine die Erlaubnis der Zusammenkunft. Die Verwaltung der Gefangenenlager ist nach Medweshja Gora übergeführt worden. Dort muss man auch die Sprecherlaubnis holen. Erst muss man dorthin fahren und dann hierher zurückkehren.

       Alle meine Pläne stürzen zusammen. Ich habe nur einen zehntägigen Urlaub bekommen, und ein Teil ist bereits verstrichen. Ich hoffte, sofort nach meiner Ankunft das Gesuch einreichen und den Bescheid vielleicht am selben Abend erhalten zu können. Jetzt aber weiß ich nicht, was ich machen soll. Medweshja Gora liegt vor Kem. Ich hätte dort aussteigen können, dann hätte ich aber einen Tag verloren. Wenn ich jetzt zurückfahre, verliere ich sogar zwei oder drei Tage! Und was soll ich mit dem Jungen machen? Ihn mitnehmen – das würde viel Geld kosten. Den Jungen hierlassen? Aber wo und bei wem?

       „Ist die Verwaltung schon seit langem verlegt?“ frage ich, obgleich mir das eigentlich ganz gleichgültig ist.

       „Es ist eine oder zwei Wochen her.

       „Gibt es hier einen Gasthof?

       „Ja, es gibt einen. Es ist aber schwer, dort ein Bett aufzutreiben. Außerdem ist es teuer: Zwei Rubel fünfzig für das Bett in dem gemeinsamen Zimmer. In dem Einzelzimmer, in dem drei Betten stehen, kostet das Bett vier Rubel.

      Ehe ich mir alles überlegen konnte, was ich von der Frau erfahren hatte, erschien ein GPU-Mann an der Schwelle des Büffetraumes. Er warf der Kellnerin am Ausschank einen ausdrucksvollen Blick zu.

Bitte, aufbrechen!“ schrie sie wie besessen. „Ich mache Schluss.

       „Was ist denn los?“ fragte ich. Ich gab mir alle Mühe, meine Sachen so schnell wie möglich aufzuladen.

      „Es ist angeordnet“, antwortete mir ein junger Mann von verdächtigem Aussehen höflich. Die Kellnerin war nicht mehr zu erblicken. Ich erfuhr, dass das Büffet nach Ankunft des Zuges nur für eine halbe Stunde aufgemacht wird.

      Wir standen wieder draußen in der tiefen Dunkelheit. Auf dem Bahnsteig kein Mensch. Der Zug war schon fort. Die Bahngeleise waren leer, und der Platz schien noch verödeter zu sein. Im Warteraum zu bleiben, war unmöglich. Dort erwarteten uns Schmutz, Gestank und Läuse. Auf dem Bahnsteig aber war es kalt und feucht. Es war vier Uhr. Bis zum Morgengrauen hatten wir noch etwa drei Stunden zu warten. Wir setzten uns auf eine Bank und legten unsere Rucksäcke ab.

​​​​

bottom of page