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      Tatiana hat das Verbannungslager ihres Mannes im hohen Norden, Richtung Finnland, gefunden. Ihre Begegnung beschreibt sie so: "Die Bewegungen meines Mannes sind ganz anders geworden, sie sind langsam, gebunden, ungelenkig. Er reicht mir und dem Jungen beide Hände. So standen wir, als wir bei seiner Verhaftung Abschied von ihm nahmen. Ich fühle, wie das Leid, das mir dieses Jahr der grausamen Verfolgung gebracht hat, wieder in mir aufsteigt und alle anderen Gefühle verdrängt. Ich will mich freuen und kann nicht. Ich finde kein Wort. Ich versuche zu lächeln, da sehe ich, dass seine Augen voll Tränen sind, die zwischen seinen schwarzen Wimpern hängen bleiben.

      „Vati, lieber Vati, du sollst nicht weinen“, flüstert der Junge, indem er die Hand des Vaters streichelt. „Du siehst, Vati, wir sind zu dir gekommen, und wir kommen bald wieder. Armer, armer Vati.

     Sie ist in grosser Sorge, wie er dieses noch lange aushalten kann.

     Wir küssen uns und setzen uns an den Tisch.

      „Wann hast du Mittagspause?“ frage ich.

      „Um vier Uhr.

      „Und die Arbeit beginnt um acht?

      „Jawohl.

     „Bekommt ihr bis vier Uhr nichts zu essen?

     „Nein. Oder doch! Wir bringen uns zuweilen etwas mit.

     „Was denn?

     „Von den Liebessachen, die wir bekommen.

     „Und wer keine bekommt?

     „Der bringt Brot mit.

     „Wieviel wird verabfolgt?

     „Vierhundert Gramm.

     Er spricht ruhig und blickt mich freundlich an, ohne sich der Not bewusst zu sein, in der er lebt.

     „Ist das Essen schlechter als im Gefängnis?

     „Schlechter“, antwortet er mit einem zerstreuten Lächeln.

     „Ist es wahr, dass Skorbutfälle vorgekommen sind?

     „Ja, auch Skorbut. Dagegen helfen nur Zwiebeln und Speck. Diese Dinge sind aber wohl mächtig teuer.

     „Nein, gar nicht. Ich habe beides mitgebracht. Und sobald wir wieder zu Hause sind, schicke ich mehr.

     „Nicht notwendig, Liebe — ich habe noch etwas davon.

     „Woher denn?

     „Von deinen Paketen. Ich habe sie gestreckt.

     „Wozu? Das war dumm von dir“, werfe ich gereizt ein.

     „Du brauchst dich nicht aufzuregen“, sagt mein Mann und fasst mich zart bei der Hand. „Ich weiß ja gar nicht, wie und wovon ihr ohne mich lebt. Es wird recht lange dauern, bis ich etwas für euch schaffen kann.

    Wir werden uns schon durchschlagen. Du aber musst hier für deine Gesundheit sorgen... Wann macht ihr Feierabend?

     „Um elf Uhr abends.

     „O Gott!“ Ich starre ihn fassungslos an.

     „Ja, ja, bis elf Uhr abends. Dann geht es schnell in die Kaserne zurück. Um zwölf kommt die Kontrolle. Die anderen, die draußen arbeiten, haben es viel schlimmer“, fügt mein Mann mit derselben ruhigen, sanften Stimme hinzu. „Der Arbeitstag beginnt dort um sechs Uhr früh, und es wird ohne Unterbrechung bis zur völligen Dunkelheit gearbeitet. Das habe ich in der ersten Zeit auch mitgemacht. Ich habe Baumstämme auf meinem Rücken getragen. Aber endlich hat man mich als Fachmann zur GPU-Fischerei abkommandiert. Ich habe festzustellen, in welcher Weise der Fischfang im Weißen Meer ertragreicher gemacht werden könnte. Meine Arbeiten sind nicht unwichtig für den Fünfjahresplan... Nun hat man mich der zweiten Kategorie eingereiht.

     „Was heißt das?

     „Zweite Kategorie? Das heißt, dass mein Gesundheitszustand für schwere Arbeit nicht mehr ausreicht.

     „Was hast du gehabt?

     „Herzanfälle und...

     „Und?

     „Die Lunge“, ergänzt mein Mann, gleichsam beschämt.

     „Sie haben es also erreicht“, schäume ich vor Wut. „Habe ich denn etwas anderes erwarten können? Auf diese Weise einen Mann zuzurichten, der früher aus bloßem Scherz Lasten getragen hat, die sonst nur ein kräftiger Landarbeiter bewältigen kann! Wie lange wird er noch durchhalten? Ein Jahr? Zwei Jahre?

     „Jetzt muss ich aber wirklich gehen“, sagt mein Mann traurig. „Abends werde ich vielleicht früher Urlaub bekommen.

     „Gehen wir, Vati! Ich begleite dich“, ruft der Junge.

     Sie gehen. Ich aber bleibe auf demselben Stuhl sitzen. Ich habe nur eine einzige Empfindung: Hass!

Trauriges Beisammensein

      Später bin ich dann in die Stadt gegangen, weil die Wirtin Angst hatte, wenn ich mich nicht polizeilich meldete.

      Ich machte bei den Ämtern dieselben Erfahrungen wie am Vormittag. Mein Herz ist mit Bitterkeit und Ekel angefüllt. Es scheint, dass man die bösesten und grausamsten Individuen ausgesucht hat, um sie als Beamte hinter einen Schalter zu setzen.

      Ich kehre endlich nach Hause zurück, das heißt nach dem Hause, wo ich Unterkunft gefunden habe und an das ich in meiner Todesstunde mit Dankbarkeit denken werde. Ich setze mich auf die Bank am Fenster hin. Ich will alles sehen, was hier noch zu sehen ist, ich will den bitteren Kelch meines Leides und meines Hasses bis zum letzten Tropfen trinken.

     Ein Trupp junger, aber bis zum äußersten erschöpfter Männer geht durch die Straße. Ihre Gesichter sind erdfahl. Ihre Köpfe, Schultern, Arme hängen herab, als ob sie sich unter einer schweren Last beugten; sie haben aber nur halbleere Säcke auf dem Rücken. Sie sind von Wächtern umgeben, die ihre Gewehre auf dem Arm halten.

     „Die werden zu den Arbeiten am Weißen-Meer-Ostseekanal hinausgetrieben“, seufzt die Alte und macht in der Richtung des Trupps rasche Kreuzzeichen. „Gott, rette und erbarme dich unserer Seelen.

     Dann wendet sie sich mir zu: „Ob einer von den armen jungen Leuten am Leben bleiben wird? Jeden Tag werden neue Trupps hinausgetrieben. Es gibt aber dort, so wird erzählt, keine Kasernen, kein Arbeitsgerät; die Erde wird, wie man hört, mit Holzspaten ausgegraben, und sie ist bei der Kälte steinhart. Wer die vorgeschriebene Leistung nicht aufgebracht hat, bleibt ohne Essen. Und das ganze Essen besteht aus einem Pfund Brot und einer Suppe mit verfaultem Fleisch. Wer die Leistung nicht aufgebracht hat, der muss aber auch im Walde bleiben, er wird nicht an das Lagerfeuer herangelassen. Ist die Nacht kalt, so sind die Leute am Morgen erfroren.

     Die Alte stellt das gewaschene Geschirr, Teller, Tassen, Löffel auf das Regal, zieht den weißen Vorhang zu und setzt sich neben mich auf die Bank.

     „Sag mir, liebe Frau, vielleicht weißt du Bescheid, wie kommt es, dass das Leben so schwer geworden ist?

     Ich lächle, weiß aber keine Antwort.

     „Du weißt es also nicht?“ fragte sie.

     „Nein.

     „Natürlich weißt du es nicht. Wen ich auch fragen mag, niemand weiß es. Alte Frauen sagen, der Teufel hätte seine Hand im Spiel. Ich glaube aber nicht, nach meiner Meinung haben die Menschen selbst Schuld daran.

     „Hast recht, Mütterchen. Die Menschen selbst sind schuld.

     „Die einen richten die anderen zugrunde. Und weshalb? Gibt es nicht für alle Platz genug? Wir haben Platz genug gehabt. Und Fische auch, Lachse, Dorsche, Maränen. Unsere Fische brachten wir zum Markt, und mit dem Erlös kauften wir Mehl. Ausländischen Kaffee haben wir getrunken, die Norweger brachten ihn hierher. Ein reiches Land war das hier. Die Weiber schmückten sich mit Perlen, Kopfbänder, Hauben, alles war mit Perlen besetzt. Es gibt nämlich einheimische Perlen bei uns; die werden in den Flüssen gefischt!

      „Wird jetzt die Perlenfischerei nicht mehr betrieben?

      „Wieso? Es lohnt sich nicht. Wo soll man jetzt die Perlen verkaufen? Sie werden uns einfach weggenommen. Wer perlenbesetzte Schmuckstücke hatte, musste alles hergeben. Man sagt, sie seien für den Staat beschlagnahmt worden. Wir kennen das. Die Liebsten der GPU-Leute tragen jetzt unsere Perlen.

      Die Alte drückte die Stirn an die Fensterscheiben: „Da schaut mal dorthin, da werden wieder Leute zurückgebracht.

      „Wer wird zurückgebracht, Mütterchen?

     Durch die Straße bewegen sich zwei Fuhrwerke, die mit Segeltuchstücken und leeren Säcken zugedeckt sind. Eines der Segeltuchstücke rutscht bei einem großen Stoß zur Seite, und der Kopf eines Menschen, der anscheinend bewusstlos ist, kommt zum Vorschein. Nebenan liegt ein anderer Menschenkörper.

      „Was ist das, Mütterchen?“ schreie ich auf und greife entsetzt nach der Hand der Alten.

      „Keine Angst, liebe Frau, die leben noch. Es sind Typhuskranke von dem Kanal. Dort gibt es noch kein Krankenhaus, die Kranken werden hierher gebracht. Aber wozu bringt man sie hierher? Sie werden sowieso sterben. Gott bewahre und behüte uns!

       Die Alte bekreuzte sich inbrünstig. Bald darauf kommt mein Junge zurück. Er ist überglücklich: er hat ja seinen Vater wiedergesehen!

      „Mutti, hast du das Essen zurechtgemacht? Was werden wir dem Vater vorsetzen?

      Ich stelle das Essen auf den Tisch: Butter, Schinken, kaltes, gebratenes Huhn, Weißbrot, Käse. Was das gekostet? Ein Meissner Porzellan-Service aus dem 18. Jahrhundert...

      Als mein Mann am Abend von der Arbeit wiederkam, um nun bis zum Sonnenaufgang bei uns zu bleiben, war der Druck gewichen. Die Freude überwand die Schwere des erlebten Leides. Wir saßen alle drei an Tisch und aßen zusammen. Dieser schlichte Tatbestand schien aber schier unglaublich zu sein. Der Tod hatte so lange zwischen uns gestanden.

      „Willst du noch Brot?

      „Flügel oder Bein?

      „Bitte, noch ein Glas Tee!

      „Schinken?

      „Nimm doch Butter!

      Wer nicht von seinen Liebsten getrennt war, wird die Bedeutung all dieser alltäglichen Worte nie verstehen. Wie soll ich verständlich machen, was es heißt, ein Stück Brot zusammen zu essen?

      Der Junge freute sich ausgelassen über die leckeren Speisen. So etwas hatte er seit unserer Katastrophe nicht einmal erblickt.

     Mein Mann war zerstreut und aß wenig. Er freute sich, dass der Junge mit solchem Behagen zugriff. Er selbst hörte bald mit dem Essen auf.

     ...ich bin satt!

      „Satt? Von dem bisschen? Was ist mit dir, Vati?

      „Es war zu viel... Butter, Schinken, Huhn – ich habe mir das Essen abgewöhnen müssen.

      „Hast du sehr gehungert?“ fragte der Junge.

     „Ja, sehr. In der letzten Zeit war es besser. Ich wurde von der GPU beauftragt, die Fischfangverhältnisse im Weißen Meer genau zu erforschen. Die ganze Westküste des Weißen Meeres habe ich durchforscht und dabei viel beobachtet... Es ist sonderbar; mögen die Lebensbedingungen noch so unerträglich sein, der Kopf arbeitet weiter. Ich möchte die Ergebnisse meiner Forschung veröffentlichen. Aber die GPU wird es mir nicht erlauben, solange ich die Jahre nicht abgebüsst habe.

     Nach dem Essen schlummerte der Junge auf seinem Stuhl immer wieder ein.

     Der Vater breitete seinen Mantel aus, deckte ihn mit einem Laken zu, legte dazu ein von unserer Wirtin entliehenes Kissen, deckte dann den Jungen mit meinem rosafarbenen Hausrock zu und küsste ihn. Der Junge war entzückt. So herrlich hatte er noch nie gelegen, so warm und weich.

      Ich holte aus dem Rucksack meine Geschenke hervor: Eine Pfeife, Pantoffeln, ein Nachthemd. Mein Mann blickte alle diese Gegenstände so unverwandt an, als ob es ganz außergewöhnliche Dinge wären, die er nicht sein Eigen zu nennen wagte.

      „Ich möchte gern rauchen, die neue Pfeife...“ sagte er verlegen. Er stopfte sie mit gutem Tabak, den ich ebenfalls mitgebracht hatte, und steckte ihn an. Er geriet vor Freude in einige Verwirrung und sagte nachdenklich:

      „Diese kleinen Dinger bilden eine Welt, die für mich hoffnungslos verloren war. Wenn ich mir vorstelle, dass ich mir jetzt ein Nachthemd anziehen, dass ich mich in ein Bett legen werde! Es ist nicht auszudenken! In der Zelle des Petersburger Untersuchungsgefängnisses waren hundert bis hundertzehn Mann auf einer Fläche von siebzig Quadratmeter zusammengepfercht. Wir legten uns in zwei Schichten schlafen, die einen auf dem Fußboden, die anderen auf Pritschen über den Drunterliegenden. Hier schlafen wir in unserer Kaserne auf Pritschen. Jeder soll angeblich über ein halbes Meter Pritsche verfügen, in Wirklichkeit aber ist es so eng, dass man nur auf der Seite und nicht auf dem Rücken liegen kann. Dabei wird in unserer Baracke fast nie geheizt!

      Mein Mann wurde blass. Er schwieg. Er hielt seine Pfeife in der Hand, vergass aber zu rauchen. Er stierte vor sich hin.

     „Ich habe eine wahnsinnige Idee gefasst“, sagte er plötzlich.

     Ich hob den Kopf bei dem Klang dieser gedämpften, zitternden Stimme.

     „Ich will fliehen. Ich habe mir alles überlegt. Gib mir ein Stückchen Papier und einen Bleistift.

     Er zeichnete auf dem Papier in größter Hast und dennoch sicher und klar die Westküste des Weißen Meeres mit ihren Einbuchtungen, die Binnenseen, den vom Westen her zuströmenden Fluss, die Eisenbahnlinie mit einer Anzahl von Stationen.

     „Ihr kommt im Sommer hierher“ – er bezeichnete die Stellung mit einem Punkt. „Ich werde es so einrichten, dass ich dienstlich dorthin entsandt werde. Wenn ich in meinem Brief in irgendeinem Zusammenhange vom Süden spreche, so bedeutet das, dass die Sache futsch ist. Schreibe ich aber vom Norden, so steht unsere Sache gut. Es ist möglich, dass man mich nach diesem Ort schickt“ – mein Mann zeigte einen Punkt auf der Kartenskizze –, „dann werdet ihr es etwas schwer haben. In diesem Falle müsst ihr auf der nächstliegenden Station aussteigen und etwa zehn Kilometer zu Fuss zurücklegen. Ihr müsst dabei vollkommen marschfähig sein und in euren Rucksäcken alles mitbringen, was zu einer Flucht notwendig ist.

      „Wie werden wir den Weg finden?

      Mit Entsetzen malte ich mir aus, wie gefährlich dieser Plan war und wie leicht er misslingen konnte.

      „Der Weg ist sehr leicht zu finden. Er geht von der Bahnstation ab. Der Zug kommt in der Nacht an, aber die Nächte sind im Juli noch hell genug.

     „Wo treffen wir uns?“ fragte ich mit gekünstelter Ruhe. Ich sah, dass mein Mann sich in einer furchtbaren Aufregung befand.

     „Von diesem Dorf hier. An dieser Stelle gibt es einen Scheideweg mitten im Walde. Kommt ihr vor mir, so legt ihr euch ins Gebüsch oder versteckt euch hinter irgendeinem Stein. Ich werde mich aber bemühen, schon vor euch einzutreffen. Noch vor Sonnenaufgang muss das Dorf von uns umgangen werden.

     „Wie soll der Tag unserer Reise festgesetzt werden?

     „Ich werde im Brief irgendeine Zahl anführen. Das wird das Datum bedeuten, an dem ihr zur Stelle sein müsst. Den Monat brauche ich nicht zu nennen. Nur der Juli kommt in Frage. Das Wetter ist am besten, außerdem gibt es Pilze und Beeren. Das alles kommt nur für den äussersten Fall in Frage. Ich werde mir aber alle Mühe geben, um die Erlaubnis zu einer Zusammenkunft in Kandalakscha zu erwirken. Dann ist alles viel einfacher. Auf alle Fälle musst du mir einen anderen Anzug, einen Hut und ein Rasiermesser mitbringen. Im Steckbrief werden sie nämlich meine Lederjacke und meinen schwarzen Bart als besondere Kennzeichen angeben. Diese Kennzeichen müssen aber verschwinden.

       Ich nickte zu allem. Ich war kaum imstande, hier und da eine Frage einzuwerfen.

      „Sollen wir ihn über diesen Plan unterrichten?“ fragte mein Mann mit einem Blick auf den Jungen, der mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen schlief.

      „Nein, dazu ist er noch zu klein. Das ginge über seine Kraft.

      Wie schnell vergingen die Tage! Wie wenige Tage waren es!

      Ich habe in Kem viel gesehen. Das Konzentrationslager mit den Verbannten aus allen Gegenden des Sowjetreiches. Ich sah die alte Domkirche, einen Blockbau, der von langen Wintern und ewiger Feuchtigkeit grau und morsch geworden war. Im Innern war sie dunkel und schlicht, die Wände zeigten unverkleidet die mächtigen Baumstämme, und nur der hohe Altarschrein strahlte von den Gestalten der Apostel und Heiligen. Niemand pflegte die Kirche; man war froh, wenn sie zerfiel.

      Mein Mann durfte uns nach dem Bahnhof bringen – eine seltene Gnade.

      Auf dem Bahnhof herrscht die uns wohlbekannte Dunkelheit. Der Zug hat Verspätung. Noch eine Viertelstunde, und alles ist zu Ende!

      Er steht noch mit uns auf dem dunklen Bahnsteig. Vierzehn Minuten. Der Zeiger rückt vor, dreizehn Minuten. Sollte ich in dreizehn Minuten sterben, so würde ich Worte finden, um Abschied zu nehmen. Jetzt aber habe ich alle Worte verloren. Zwölf Minuten.

      Ein GPU-Mann steht an der Laterne und prüft mit scharfen Blicken die Vorübergehenden. Zehn Minuten.

      Mein Mann hält mich an beiden Händen fest und sagt mir ein paar Worte. Ich kann aber seine Worte nicht verstehen. – Neun Minuten.

      Ich kann nichts mehr sehen, Tränen verschleiern meine Augen, ich kann nichts sehen, nichts hören. Im Gefängnis habe ich mich beherrscht. Hier aber – Nein, ich kann nicht mehr.

      „Was ist los, Liebste? Was ist mit dir?

      „Nichts!“ stammle ich durch die Zähne. Ich ersticke im Schluchzen. „Es ist unser letzter Abschied. Wir werden nicht hier bleiben...

     Ich weiß nur eines: dass der Zug gleich abfährt.

     „Vati, leb wohl!“ höre ich die Stimme des Jungen, die von Tränen bebt.

     „Lebt wohl! Im Sommer sind wir wieder beisammen. Für immer!

Die Flucht

      Ich kehrte von meiner Reise in erregtem Gemütszustand zurück. Ich musste alle Vorbereitungen zur Flucht treffen. Unsere Sachen mussten verkauft werden, und für den Erlös musste ich die Feldausrüstung kaufen: hohe Stiefel, wollenes Unterzeug, Rucksäcke, Lebensmittel. Mein Mann hatte mir gesagt, Zucker und Speck seien die Hauptsache. Ich musste ausserdem Reis beschaffen, etwas Zwieback backen. Wir werden eine Woche, vielleicht zehn Tage unterwegs sein.

      Ich begann mit dem Verkauf unserer Sachen. Nach etwa zwei Wochen besaß ich ungefähr dreihundert Rubel. Ich kaufte für hundertfünfzig Rubel ein Paar gebrauchter Stiefel, für hundert Rubel eine wollene Jacke.

     Der Fluchtplan meines Mannes war genau überlegt. Er baute sich auf die Manie der Bolschewisten, fantastische Projekte zu entwerfen, auf. Mein Mann hatte im Weißen Meer eine Fischsorte festgestellt, die sehr fetthaltig war – zumindest könnte sie als Futter für Rinder in Betracht kommen. Wichtig für den Fünfjahresplan! Er war nun aufgefordert worden, eine Aufstellung zu machen: mit wieviel Tonnen Fischereiertrag auf soundso viel Quadratkilometer kann man rechnen? Aus einem Chiffre-Brief, den er mir sandte, erfuhr ich nun, dass er angesucht hatte, seine Beobachtungen und Anstellungen in Kandalakscha, einem einsamen Küstenort, machen zu dürfen, und dass sein Gesuch bewilligt worden war. Und so änderte sich auch der Fluchtplan, sehr zu unsern Gunsten: unsere nächste Zusammenkunft, die für Ende Juli angesetzt war, konnte nun in Kandalakscha stattfinden. Um wieviel leichter würde es sein, von dort gemeinsam aufzubrechen.

      Es ist ein kurioses Gefühl: ich stehe vor einer verzweifelten Tat und weiß mit Sicherheit, dass ein Verdacht gegen mich die Erschießung von uns beiden herbeiführen muss. Und doch kaufe ich seelenruhig die Fahrkarte, packe die gekauften Sachen in Koffer, und im Nu ist die Zeit um. Ehe ich mich dessen richtig versehe, sitze ich mit meinem Jungen im Eisenbahnwagen und trete die uns bereits wohlbekannte Reise an. Verbannte verrichten, genau so wie damals, Erdarbeiten an dem Eisenbahndamm. Frauen von Verbannten fahren zu einer Zusammenkunft mit ihren Ehemännern und blicken misstrauisch die anderen Reisenden an. Ich fühle mich aber diesmal nicht eins mit ihnen. Meine Fahrt geht weiter als die ihrige, und eine fröhlich aufregende Mutwilligkeit bemächtigt sich meiner.

      Mein Mann war noch blasser als früher und sah krank aus.

      „Was ist los mit dir?“ frage ich.

      „Ach, es ist nichts. Ich habe mir ein bisschen den Rücken verlegt. Ich musste ein nasses Schleppnetz, das wohl an drei Zentner schwer war, den Hang hinaufschleppen. Unterwegs glitt ich aus und fiel. Als ich von dem Netz befreit wurde, konnte ich nicht mehr aufstehen. Jetzt geht es mir aber wieder leidlich.

      Ich starrte ihn bloß an. Antworten konnte ich nicht.

      „Die Sache klappt ausgezeichnet“, sagte er. „Ich habe die Erlaubnis zu einer Zusammenkunft für zehn Tage in der Tasche. In einem Bauernhaus, direkt an der Küste, habe ich ein Zimmer für uns gemietet. Wir fahren sofort hin.

      Er führte uns zu einem Boot und setzte sich an die Ruder. Das Rudern fiel ihm augenscheinlich sehr schwer. Sein Gesicht war mit Schweiß bedeckt.

      Er bringt uns nach dem gemieteten Bauernhäuschen.

      Alles ist äußerst ärmlich. Wir sehen kein blankes Geschirr und keine Federkissen. Das Haus wird von der Großmutter und den Enkelkindern betreut, die Mutter ist tot. Sie schlafen auf dem Fußboden. Die Familie lebt hauptsächlich von Fischen, wenn der Großvater welche fängt.

      In dieser Hütte des Elends bereiten wir unser Vorhaben vor.

      Am Tage vorher hatte es geregnet, abends aber schlug der Wind um, und der Himmel klärte sich auf. Die Männer im Dorfe rüsteten sich zu der Arbeit des nächsten Tages. Morgen fliehen wir also.

     Für mich war es ein entsetzlicher Tag. Bei bestem Willen war es nicht möglich, alles, was ich mitnehmen musste, in drei Rucksäcken zu verstauen. Ich musste Lebensmittel für eine zehntägige Fußwanderung, Wäsche, etwas warmes Unterzeug mitnehmen. Am Abend war ich noch immer nicht fertig, und in der Nacht musste ich alles aufs Neue packen.

      Wir verhängten die Fenster, um von keinem Menschen gesehen zu werden. Die Rucksäcke wurden immer größer.

      „Wir müssen etwas herausnehmen“, sagte mein Mann.

      „Etwa Zucker?

      „Nein, Zucker ist das Wichtigste. Hast du Salz mit?

      „Hier hast du Salz. Ich habe keine Ahnung, wieviel Salz drei Menschen für zehn Tage brauchen.

      „Für Streichhölzer, Zucker und Salz musst du Säcke aus Wachstuch machen.

      Stundenlang packten wir unsere Sachen ein, um sie dann wieder auszupacken. Es war die Aufregung, die unsere Arbeit so unsachlich und verwirrt machte. Ich war wie im Nebel. Mein Mann bekam starke Schmerzen im Rücken, so dass wir uns hinlegen mussten, ohne unsere Vorbereitungen beendet zu haben.

      „Soll ich dem Jungen Bescheid sagen?“ fragte der Vater.

      „Später, wenn wir unterwegs sind.

      „Aber was wollen wir antworten, wenn er uns fragt, warum wir die Rucksäcke mitnehmen?

      „Wir sagen ihm, dass wir einen Ausflug machen und im Freien übernachten wollen. Dasselbe werde ich unserer Wirtin sagen.

      Wir packten abermals. Wir machten alles verkehrt.

      Es war schon Mittag.

      „Wo ist der Kompass?

      „Ich habe ihn auf den Tisch gelegt.

      „Er ist nicht da.

      Ein dummes, abergläubisches Angstgefühl durchdrang mich. Ich wusste genau, dass ich den Kompass noch eben in der Hand gehabt hatte. Für einen Verbannten ist ein Kompass das gefährlichste Ding der Welt. Wird er bei ihm gefunden, so wird der Verbannte ohne weiteres erschossen. Aber andernteils: ohne Kompass ist eine Flucht unmöglich.

      Wir suchten und suchten, der Verzweiflung nahe.

      Ich hob endlich die Mütze meines Mannes auf, die er auf den Tisch gelegt hatte. Dort lag der Kompass. Und abermals vertraute ihn mein Mann mir an.

      Ich nahm den Kompass. Taschen hatte ich nicht. Mein Kopf war aber nach Bäuerinnenart mit einem Tuch umwickelt. Ich legte den Kompass in einen Zipfel des Tuches und band ihn mit einem Knoten ein. Welch böser Geist hatte mich dazu verleitet?!

      Jetzt war alles fertig. Es war höchste Zeit, dieses letzte Dach über unseren Köpfen zu verlassen.

      Mein Mann nahm mich bei den Händen und küsste mich. Wir waren beide erregt und glücklich.

      Wir gingen hinaus und verschlossen hinter uns die Tür, wie wir es mit unseren Wirtsleuten vereinbart hatten. Das Dorf war leer. Es war zwei Uhr nachmittag. Alle Bauern waren im Walde oder beim Fischfang. Nur kleine Kinder tummelten sich auf der Landstrasse, und ein altersschwacher Greis saß vor einem Haus.

      „Endlich!“ sagte vorwurfsvoll der Junge. „Der Wind hat sich gedreht.

      Wir setzten uns in ein Boot. Der Vater ruderte, der Junge steuerte. In den letzten Tagen hatte ihn der Vater gelehrt, das Steuer zu handhaben, er steuerte aber sehr ungeschickt. Der widrige Wind hielt uns auf, die Ebbe trieb das Wasser gegen uns. Das Boot bewegte sich nur sehr langsam fort. Der Junge war in ausgelassener Stimmung, schwatzte und trieb Unsinn. Das brachte den Vater auf. Er wurde nervös.

     Ich nahm dem Jungen das Steuerruder aus der Hand, handhabte es aber noch schlechter als er. Ich wurde deswegen bald vom Vater, bald von dem Jungen zurechtgewiesen.

     Das ärgerte mich. Aber ich schwieg. Nur einmal machte ich eine scharfe Bewegung mit dem Kopf und ich sah, wie der Kompass, der zusammen mit der Karte in einen Zipfel meines Kopftuchs eingewickelt war, im tiefen dunklen Wasser versank.

     „Ja, was denn?“ fragte mein Mann verwirrt. Er wollte seinen Augen nicht trauen.

     „Der Kompass und die Karte...“ antwortete ich. Mir stockte der Atem in der Kehle.

     „Schicksal!“ sagte er traurig.

     „Was hast du, Mutti? Es ist doch kein Unglück, dass du den Kompass verloren hast. Wir werden einen neuen kaufen und ihn Vati schicken.

     Ich antwortete ihm nicht. Mir wurde schlecht. Ich gab das Steuerruder dem Jungen und setzte mich auf den Boden des Bootes. Mir schwindelte, und vor meinen Augen schimmerte das grünliche, in der Tiefe dunkle Wasser, in dem die kleine Metalldose versunken war. Was die Durchführung unseres Fluchtplanes gesichert, was uns die Möglichkeit gegeben hätte, die Richtung nach dem Westen, nach der finnischen Grenze, einzuhalten, lag auf dem dunklen Meeresgrund.

     Sollten wir nicht besser zurückkehren? Unsere Flucht konnte noch von keinem Menschen bemerkt worden sein.

     Wir bewegten uns langsam vorwärts. Der Wind versteifte sich. Der Junge war nicht mehr übermütig. Ich befand mich in einem Zustand der Verzweiflung, wie ich sie nie erlebt hatte, weder vorher noch nachher. Ich hatte einen einzigen Wunsch: zu sterben.

     „Ich werde noch zwei bis drei Stunden schuften müssen, falls sich der Wind nicht gegen Abend legt“, sagte mein Mann.

     Vier Stunden hatte er schon gerudert. Seine Hände waren mit Blasen bedeckt. Auf der einen Hand löste sich die Haut ganz ab. Das Herz war übermüdet. Atemnot stellte sich ein. An einem Küstenvorsprung machten wir halt, um zu sehen, ob in der Tiefe der Bucht, an der Stelle, wo wir unsere Flucht beginnen wollten, nicht Menschen wären. Wir konnten nichts Verdächtiges entdecken. Der Wind legte sich. Der Tag ging dem Abend entgegen.

     „Was nun?“ fragte mein Mann. „Sollen wir nicht umkehren?

     „Entscheide selbst. Wenn du die Flucht ohne Kompass und Karte für möglich hältst, so bin ich zu allem bereit...

     „Wenn nur die Sonne scheint, bin ich imstande, die Richtung mit Hilfe meiner Uhr zu bestimmen. Es wird vielleicht einen oder zwei Tage länger dauern, nach Finnland kommen wir aber trotzdem.

     „Dann los!

     Die letzte Strecke unserer Bootsfahrt schien leichter zu sein. Unsere erste Etappe war überstanden. Wir befanden uns am Ende der Bucht. Ein Flusstal wurde sichtbar. Mein Mann ruderte mit solcher Kraftanstrengung, als ob die Verfolger schon hinter uns wären. Wir hatten nur einen Wunsch: so schnell wie möglich die Küste zu erreichen und im Walde zu verschwinden.

      Endlich, endlich legte mein Mann an einer Stelle an, wo ein Waldpfad begann. Dort wurde das Segel und ein Korb mit Speiseresten zurückgelassen. Alles war einigermaßen versteckt, aber doch recht sichtbar. Dann brachte er uns an eine andere Stelle, wo ein zweiter Waldpfad seinen Anfang nahm. Er selbst fuhr zu einem dritten Pfad, stieg dort aus und band das Boot sorgfältig an. Er kannte sich in dieser Gegend so gut aus, als wäre er schon oft dagewesen: und doch beruhte diese stupende Kenntnis hauptsächlich auf den arglosen Berichten der Bauern und Fischer, die er immer wieder – im scheinbar zufälligen Gespräch – ausgeforscht hatte.

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