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Die Mennonitische Rundschau kann als ein Spiegel der mennonitischen Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts angesehen werden. Sie vereinte die Meinungen, die Sorgen und die Nachrichten der grossen mennonitischen Familie in der ganzen Welt, damals grundsätzlich Polen, Russland, Holland, Kanada und die USA. Die Mennoniten der Schweiz zeigten kaum Verbundenheit mit dem damaligen Leidenden.
In der Ausgabe vom 25. Dezember 1929 findet man in der MR folgenden Bericht:
Die Reichshilfe (Wenn immer damals vom "Reich" gesprochen wurde, meinte man Deutschland)
Amtlich wird mitgeteilt: In einer Parteiführerbesprechung, die unter dem Vorsitz des Reichskanzlers stattfand, wurde die Frage einer Hilfsaktion für die bei Moskau gesammelten deutsch-stämmigen Bauern besprochen. Man war sich darüber einig, dass den in großer Notlage befindlichen Kolonisten Hilfe gewährt werden müsse. Die dazu erforderlichen Vorarbeiten sind in Angriff genommen, und neben einer privaten Hilfsaktion sollen Reichsmittel in gewissen, durch die finanzielle Lage des Reiches gebotenen Grenzen bereitgestellt werden. Wie wir hierzu weiter erfahren, wird der Betrag, den die Reichsregierung in einer Vorlage an den Reichstag fordern wird, nicht über drei Millionen Mark hinausgehen. (Einges. von ac. A. Löwen, aus dem Berliner Lokal-Anzeiger.)
1929-12-25
Es folgt ein Brief, er ist anonym, ein Hilfeschrei an seinen Bruder, der schon im Ausland ist:
Zurück geschickt nach Sibirien.
Einen herzlichen Gruß der Liebe zuvor!
Wenn der Hoffnung Blüte fast zur reifen Frucht geworden ist, und dann ein Wurm das Edle so schnell zu Boden bricht, — dann gibt's ein Wechsel ohne gleichen, und seufzend ruft man aus: man wird die Hoffnung nie erreichen!!!
Ach Bruder, unser Schicksal ist hart und fast verzweifelnd! Wir waren eine ziemliche Anzahl in Moskau und warteten nun jeden Augenblick darauf, loszufahren; die meisten hatten ihre Pässe ausgezahlt und auf einmal wurden wir in einer Nacht mit Gewalt in die Autos gepackt und zurück ein jeder in seine Heimat geschickt; per Waggon. Die ganze Sache wegen Geldangelegenheit wie auch häusliche Einrichtung blieben ganz ungeregelt. — Nun, all die Tausenden, die das letzte Geld abgegeben und viele noch geborgt, müssen nun zurück, ohne Heimat, ohne Brot, mit kranken Kindern, ohne Kleider sehr viele. O, Bruder, mein Herz bricht fast über all dem Elend, welches uns nun auf unseren Fersen folgt!
O, Bruder, wenn es möglich gewesen wäre, von Täuschung zu sterben, dann hätte es dort viele Tote gegeben.
O, schreckbar! O, grausam! O, Graus und Elend! Wie viele Gebete waren um Hilfe emporgeschickt, und nun alles vergebens?
Kinder sanken in Masse, Frauen in Umständen bis an der Geburt, Frauen wurden nachts aus dem Bett genommen und mussten sich draußen auf dem Fracht-Auto anschicken.
Ja, Dein Brief, Bruder, hat uns sehr getroffen; aber – wo ist die Rettung? Brüder, betet, betet für uns! Aber nicht allein beten – wir fahren, wenn es nicht noch einmal eine Wendung gibt, in ein namenloses Elend.
Ihr habt eine Vorstellung, wie es um uns steht. Es wurden erst einige verhaftet, um sie zum Zurückfahren zu bewegen; dann mehrere, dann weiter in einer Nacht, ich denke bei Tausend; alle wurden in Verhör genommen. Der Schluss war: "Freimütig zurück!"
Die meisten aber wählten das Gegenteil: lieber unter "Konvoi" in Frachtwagen mit Gewalt zurückgeschickt, als weich werden!
Was uns nun daheim wartet, ist Gott bewusst! - 25% sind gegenwärtig unter normal ernährt; und was gibt es mit uns, die wir alles verkauft haben?
Ich kann Euch hier nicht mehr schreiben, aber sende Euch einen Gruß und bitte um Mitleid und Teilnahme; und wenn Ihr darin beitretet, dass Ihr um unser Elend wisst, so soll es uns schon zur Erleichterung dienen.
Bitte veröffentlicht dies doch durch die "Mennonitische Rundschau", um in allen Häusern unserer Glaubensgenossen damit bekannt zu sein.
Obwohl die Last jetzt furchtbar schwer,
So wiegt sie dennoch hin und her
Und möglicherweise schleudert noch ein Stund,
Davon zu unser aller Glück!
(Ach bitte, dass alle deutschen Zeitungen Amerikas es abdrucken möchten. Es ist ja etwas nie Dagewesenes. Auch handelt es sich dort nicht nur um Mennoniten, sondern es finden sich darunter auch Lutheraner und Katholiken. Also unsere Deutschen!
Möchten alle Deutschen in Amerika für die Möglichkeit jener Unglücklichen in Amerika Platz finden lassen.
1929-12-25
Am 2. Dezember 1929 veröffentlicht die amerikanische Zeitung "Chicago Tribune" folgende Nachricht:
Riga, den 2. Dez. 1929
Eingeschlossene Mennoniten wurden bereits in ungeheizten Waggons abtransportiert. Etwa 3000 Mennoniten, davon ein Drittel Kinder, wurden langsam nach Sibirien deportiert, in vollständige Ungewissheit hinein, in eine Gegend, wo das Thermometer gegenwärtig 30 Grad unter Null zeigt.
Die Reise gilt als sicherer Tod. Vor zehn Tagen ging der erste Zug voll Menschenelend und Not dorthin ab, und seit jenem Tage folgte ein Zug nach dem anderen in unbeschreibliches Elend hinein.
Die Sowjetpolizei führt die Anordnungen der Sowjetregierung aus, um Sommerwohnungen der Moskowiter von den Kolonisten zu beschlagnahmen, sehr streng aus.
Diejenigen, die endlich doch hinauskamen, baten bei ihrer Ankunft in Riga die deutschen Beamten, welche sie dort in Empfang nahmen, doch alles zu versuchen, um die, die noch um Moskau warteten, doch auch herauszuholen und zu retten vor der Verbannung.
Eine Gruppe der Herausgekommene umlag den deutschen Hauptvertreter, Dr. Stieve, und bestürmte ihn mit Bitten und Flehen, zu helfen. Nachdem der deutsche Vertreter ihnen geantwortet hatte, sangen die Flüchtlinge ein Danklied, aber es ging nicht: Weinen und Schluchzen ließ die Töne nicht mehr hervorbringen.
Die Flüchtlinge erzählten, dass die Chefs alle, die versuchten zu fliehen, brutal zu Tode quälten. Jeder Kolonist, der versuchte, einen Ausreiseschein zu erhalten, wurde verhaftet.
So befinden sich in dem schrecklichen Butyrka-Gefängnis etwa 1800 Väter, während die armen Mütter und Kinder nach Sibirien und anderen Orten geschickt werden.
Jede Nacht fahren ganze Reihen von Kraftfahrzeugen in die Dörfer, wo die Unglücklichen wohnen, brechen in die Häuser, verhaften die Männer, legen sie in Ketten und Handschellen und führen sie ab in die Gefängnisse.
Die Frauen werden auf die Frachtwagen gebracht, mit ihren Kindern. Oft kommt es vor, dass Gewalt angewandt werden muss. Man bindet die Unglücklichen und schleppt sie wie Kartoffelsäcke hinaus in die kalten Winternächte, begleitet von ihren weinenden und schreienden Kindern.
Auf den Frachtwagen werden sie in ungeheizte Frachtwagen gesteckt und die Reise in die weiten, unwirtlichen Schnee- und Eisfelder nimmt ihren Anfang...
Bemerkungen des Einsenders:
Kannst du, lieber Leser, dir eine Vorstellung machen vom Elend und von der Not, die über unsere Glaubensgenossen gekommen ist?
In den Kolonien? In und um Moskau? In den Zügen nach Sibirien? An den Orten der Ankunft in Sibirien?
Ich habe schon viel Menschenelend und Menschennot gesehen, aber es fällt mir schwer, mich durch die Vorgänge dort durchzufinden.
Wir wollen nicht müde werden im Geben. Wir wollen uns nicht erst durch Berichterstattungen verschiedener Art anregen lassen (obwohl wir diese nicht ablehnen), sondern uns durch die herrliche Weihnachtsbotschaft bewegen lassen, deren Inhalt, wenn kurz zusammengefasst, lautet: Liebe!
1929-12-25
Die folgende Nachricht kommt von jemandem, der anfangs November ausreisen konnte, also noch unter "normaleren" Umständen. Sie beschreibt, wie sie in Deutschland empfangen wurde.
In Deutschland eingetroffen
Kiel, 5. Nov.
Wir sind in Deutschland.
Erhielten gegen Abend die Erlaubnis, herauszufahren – 330 Mann – und mussten die Nacht noch im Zug einsteigen. Um 9 Uhr abends hieß es, die Sachen zusammenzupacken. Die Kinder wurden aus dem Schlaf geweckt und zu Fuß im Regen und Rot zur Bahn gebracht, ungefähr 8 Werst.
Das ist der Russe. Von Moskau ging es nach Leningrad, dann wurden sie vom Arzt untersucht und für gesund erklärt. Von da ging es auf dem Schiff nach Kiel, Deutschland. Wir hatten aber noch keine Papiere in Händen, zahlten 800 Dollar ein für 12 Pässe. Nach 3 Tagen kamen sie am Wilhelmshafen in Kiel an, wo sie vom russischen Schiff abgeladen wurden.
Dort erhielten sie Familienpässe. Als sie Leningrad verließen, wurde ihnen jeder Cent, den sie hatten, abgenommen. Sie hatten nicht viel, dass sie mir schreiben konnten. Jemand in Deutschland war so gut und gab meinem Bruder eine Mark und Papier, dass er schreiben konnte.
In Deutschland wurden sie sehr freundlich aufgenommen, gespeist und geholfen. Meine Schwester, deren Sohn auf dem Schiff geboren wurde, wurde gleich vom Schiff mit der Ambulanz zur Frauenklinik gebracht und sie und ihr Baby aufs beste versorgt.
Unserem Gott die Ehre für all seine Hilfe so weit.
Der Bruder schreibt weiter:
"Dass die Leute es kaum verstehen können, dass Russland einst ein Ideal für viele war und jetzt eine Flucht der Bauern aus Russland stattfindet. Sie können es kaum glauben und müssen es sehen.
Sie sind jetzt in Hamburg im Ueberseeheim, bei dem der Herr den Weg weiter öffnet. Vater schreibt, dass sie in Deutschland sehr gut behandelt werden, dürfen beten und singen und können zu den Andachten gehen. Sie sind ganz frei.
Unser Wunsch ist, möge der Herr geben, dass sie bald weiterreisen können.
Wir wissen nicht, was für Zeiten auch hier noch kommen können. Doch jetzt ist es besser hier als in Russland, und die Brüder dort müssen umkommen.
Aganetha Neufeld.
1929-12-25
: Ein Bericht in einer deutschen Zeitung, vom 24. November. Sie spricht davon, dass in Moskau 18 tausend Deutsche auf Auswanderung warten und dass die Sowjetregierung droht, diese nach Sibirien zu schicken, falls Deutschland nicht bald reagiert. Deutschland steckt aber selber in einer der grössten Krisen seiner Geschichte:
Der Stahlhelm, Nr. 47, vom 24. November 1929, Berlin:
Das Schicksal der deutsch-russischen Bauernfamilien hat sich dadurch verschlimmert, dass sie von Kanada keine Einwanderungserlaubnis erhalten und die Sowjetregierung die Ansiedlung von 18.000 Deutschen in Moskau nicht länger dulden will, sondern sie nach Sibirien abschieben will.
Deshalb ist es zu begrüßen, dass aus verschiedenen politischen Kreisen die Aufforderung an die deutsche Reichsregierung ergangen ist, diese deutschen Volks-genossen nach Deutschland zu holen und sie im Osten anzusiedeln.
Die deutsch-russischen Bauern stellen zähe und anspruchslose Siedler dar, die mit denkbar geringen Lebensansprüchen ein hohes Maß kolonialer Eignung, Erfahrung und Zähigkeit verbinden.
Siedlungsfertiges Land ist in Ostpreußen, der Grenzmark Pommern und Schlesien in den Händen des Staates und der Siedlungsgesellschaften genügend vorhanden.
Die vorläufige Unterbringung der Ansiedelnden würde keine Schwierigkeiten machen, und sie könnten, bis ihre Ansiedlung auf den Siedlerstellen möglich ist, an Stelle der noch immer benötigten ausländischen Schnitter, Arbeitsgelegenheit auf dem Lande finden.
Auf diese Weise würde nicht nur eine Pflicht gegenüber notleidenden deutschen Volkstum im Ausland erfüllt, sondern gleichzeitig eine wertvolle Verstärkung des deutschen Walles im Osten erreicht, die angesichts der Expansionspolitik der Polen besonders dringend und wichtig ist.
1929-12-25
Eine Nothilfeorganisation versucht die Mennoniten Kanadas darauf aufmerksam zu machen, dass sie vielleicht werden viele Flüchtlinge in ihren Heimen aufnehmen müssen.
Ein dringender Hilferuf
Es wird den meisten Lesern unserer Gemeinde-Blätter bereits bekannt sein, dass viele unserer Glaubensgeschwister in Russland in größter Armut und Not leben. Besonders die, die in Moskau sind und auf die Gelegenheit warten, nach Amerika auswandern zu dürfen.
Man erwartet, dass sie durch die deutsche Regierung Pässe erhalten werden, um nach Kanada auszuwandern, aber wohl nicht eher, bis sie sozusagen ganz entblößt sind von der russischen Regierung.
Es scheint, die C.P.R. ist noch immer bereit, sie herüberzubringen auf Kredit, auch sind laut Bericht einige Provinzen Kanadas bereit, ein gewisses Quota pro Woche aufzunehmen unter der Bedingung, dass ihre Verwandten und Glaubensgenossen hier in Amerika für ihre Unterkunft, Kleidung und Nahrung sorgen werden, bis sie selbst ihren Lebensunterhalt verdienen können, sodass sie der kanadischen Regierung in keiner Weise zur Last fallen; das mag auch von uns Mennoniten in den Vereinigten Staaten ein ziemlich großes Opfer fordern, aber hat uns der liebe Gott nicht vielleicht gerade um dieser armen Geschwister willen, zu seiner Zeit in dieses Land geführt und uns hier so reichlich gesegnet, damit wir ihnen just in ihrer großen Not hilfreich entgegen kommen können?
Die Emergency Relief Behörde hat auf ihrer Sitzung am 19. November alle Konferenz-Gemeinden dringend gebeten, Gelder zu sammeln für unsere armen Glaubensgeschwister.
Die Art und Weise des Geldsammelns wird jeder Gemeinde überlassen.
Bitte, schickt alles Geld an Br. E. J. Claassen, Newton, Kansas, und denkt daran: "Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb."
Eure im Dienste des Herrn,
Emergency Relief Board, von J. C. Mueller, Sekr., Bundesbote.
1930-01-01
Ins Elend zurück
Im Nachfolgenden bringen wir einen Brief im Auszug, der in seiner Schlichtheit doch eine erschütternde Sprache redet. Der Absender ist eine Frau. Vieles ist nur angedeutet, aber wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, der kann sich ein Bild von dem Kummer und Herzeleid der armen Flüchtlinge machen. Müssen wir sie aber nicht auch zugleich bewundern um ihre Seelenstärke, dass sie trotz aller Not und Drangsal doch nicht verzagen und den Glauben an Gott nicht verlieren? (Die Schriftleitung des Boten.)
Man gab uns die besten Hoffnungen, sogar die G.P.U. (die russische Geheimpolizei) erlaubte hinauszufahren. Mein Bruder war noch am letzten Tage beim deutschen Konsul, und auch der sagte, dass wir fahren sollten, und in der Nacht, die darauf folgte, wurden wir gewaltsam aus unseren Wohnungen geschleppt und sofort in die Schwefeldöschen eingeladen (gemeint sind die Frachtwaggone). In unserem Hause war auch ein an Asthma leidender Mann. Doch das half ihm nichts; trotz allem Bitten und Weinen musste er mit. Und jetzt sind wir schon fünf Tage auf der Rückreise.
Wie es weiter werden wird, das weiß niemand von uns. Alles hatten wir verkauft und für die Pässe eingezahlt. Für sechs Gruppen waren die Pässe auch schon fertig, und die fünfte und achte Gruppe hatten das Geld für die Pässe auch schon eingezahlt, und jetzt unterwindet sich Rußland, uns heimlich des Nachts zurückzuschicken. Wird das den Sowjets geschenkt bleiben? Wir hörten, dass Deutschland 12.000 Mennoniten Einlass gewähre zum Winter, damit sie dann später nach Kanada fahren könnten. Das sollte vom 25. November geschehen. Dann hörten wir aber auch, dass unsere Regierung sich vorgenommen habe, uns bis zu dem Datum fortzuschaffen. Wir wollten es nicht glauben, und nun ist es doch Tatsache geworden.
Das Traurige ist noch, dass so viele Familien auseinander gerissen sind. In den ersten Wochen lebten wir sehr ruhig in Moskau. Doch in der letzten Zeit wurden viele Menschen arretiert. Ohne ein Recht zu haben, nahm man sie fort, und immer des Nachts. Ich glaube, wir sind fünfmal nacheinander des Nachts geweckt worden. Einmal durchsuchten sie unsere Papiere. Dann sagten sie und meldeten, dass wir unser Geld zurückholen könnten, das wir für die Pässe eingezahlt hatten, da Kanada uns nicht annehmen würde. Aber wir glaubten ihnen nicht, und keiner ging von den Tausenden. Alles dieses schafften die bösen Geister des Nachts. Dann wieder verlangten sie, dass die Männer mitkämen, und die, welche mitgingen, sind bis jetzt noch nicht zurückgekehrt. Ihre Frauen und Kinder aber haben sie mit Gewalt in die Waggone geschleppt. Einige von ihnen haben sich gewehrt, die wurden gebunden und hinaufgeworfen.
Eine Frau nahm man aus dem Wochenbett, und sie ist auch schon gestorben. Ich persönlich ließ es auch darauf ankommen. Als mich einer anfasste, stieß ich ihn zurück und sagte, ich könne auch allein gehen. Ich glaubte und hoffte bis auf den letzten Augenblick auf Rettung. Doch es half nichts....
Wenn man uns schon nicht hinausließ, so hätte man uns doch in Ruhe lassen können. Unsere Wohnungen hatten wir bezahlt, Brot und Zucker bekamen wir auf Karten, und so hätten wir gelebt. Doch jetzt wird das Elend schrecklich groß werden. Viele von uns Deutschen haben nicht selbst ihr Hab und Gut verkauft. Sie wurden so hoch besteuert, dass sie die Abgaben nicht bezahlen konnten. Da hat die Regierung ihnen alles weggenommen und sie von Haus und Hof getrieben. Irgendwie hatten diese Leute sich ein wenig Geld verschafft und waren nach Moskau gekommen; ihre letzte Hoffnung war Kanada. Und jetzt müssen sie zurück. Wohin? Wovon leben? Das wissen sie nicht.
Unsere Lage ist sehr traurig. Und doch glaube ich, dass sich Gott unser annimmt, es kann doch nicht sein Wille sein, dass wir in diesem Babel umkommen, wenn wir es auch nicht anders verdient haben.
Das Schrecklichste von allem ist, dass man uns zwingen wird, in die Kommune einzutreten; es sollen keine selbstständigen Wirtschaften mehr sein. Und da hinein wollen wir nicht, denn dann haben wir keinen Sonntag mehr und von Gottesdienst ist keine Rede....
Viele Frauen, deren Männer arretiert sind, befinden sich auf dem Rückweg und sind ohne Geld. Sie wissen nicht, wohin man sie schickt. Wir wollen nicht mutlos werden. Betet für uns, denn hier müssen wir früher oder später untergeben.
Ich habe den Brief nicht datiert, auch nicht den Ort vermerkt, wo er geschrieben ist. So viel wisst, er ist auf dem Rückzuge geschrieben. Entschuldigt meinen vielleicht verworrenen Brief, es wird noch mal anders werden.
Sollten wir dem lieben Gott vorgegriffen haben, indem wir nach Moskau gingen? Vielleicht bringt er jetzt das ganze Volk hinaus.
— Bote.
1930-01-01
Völkerbund und Rußlanddeutsche.
Inzwischen haben sich die Dinge so entwickelt, dass anscheinend auf eine Auswanderung in sehr großem Umfange, wie sie zuerst erwartet werden musste, wenigstens vorläufig nicht mehr zu rechnen ist.
Damit entfällt zurzeit auch die Notwendigkeit zu einer internationalen Hilfsmaßnahme großen Stils.
Die deutschen Behörden, die die Unterstützung der Auswanderer immer als eine Angelegenheit betrachtet haben, die in erster Linie das deutsche Volk angeht, setzen daher ihre Arbeiten zunächst in den bisher eingeschlagenen Bahnen fort, die dahin zielen, den Auswanderern neue Heimatstätten in Kanada und Brasilien zu ermöglichen, einen Teil von ihnen vielleicht auch in Deutschland anzusiedeln.
Eine Umsiedlung nach Syrien dürfte nicht ernstlich in Betracht kommen.
1930-01-01
Ein Bischof der Lutheraner in Russland, durfte zwar nicht zum Weltkongress nach Dänemark, hat aber eine Botschaft geschickt, die dort verlesen wird.
Nur heraus aus Rußland!
Der lutherische Bischof D. M. aus Moskau war am Erscheinen zum Weltkongress in Kopenhagen verhindert. In einer dort vorliegenden Predigt von ihm heißt es wie folgt:
"Die Glaubensgenossen in Rußland sind gegenwärtig auf den Zustand angelangt, dass sie jede Hoffnung auf eine günstige Wendung der wirtschaftlichen Lage aufgegeben haben und allgemein von dem einen Wunsch erfüllt sind, ihre bisherige Heimat zu verlassen.
Die Frage 'wohin?' hat dabei eine untergeordnete Bedeutung, denn alles Bestreben geht nur dahin, aus Rußland herauszukommen.
Aber bisher ist es unseren Glaubensgenossen nur in ganz vereinzelten Fällen gelungen, ihre bisherige Heimat zu verlassen.
Nur die an Zahl geringste Gruppe unter den Lutheranern in Rußland, die zwei bis dreitausend zählenden schwedischen Ackerbauer am Dnjeprufer, haben die Erlaubnis zur Auswanderung erhalten.
Sie sind im Begriff, ihre bisherige Heimat zu verlassen und haben in diesem Frühjahr ihre Felder nicht mehr bestellt. Sie werden von ihren Nachbarn darum beneidet.
Diese würden ebenso gern zum Wanderschaft greifen und hier den Besitz, den sie in 150jähriger fleißiger Arbeit erworben, im Stich lassen.
Die deutschen Kolonisten, die mindestens dreiviertel Millionen Seelen zählen, würden sich keinen Augenblick bedenken, auszuwandern, wenn sie nur die Möglichkeit dazu hätten.
1930-01-01
Hier entdecken wir, dass die Sowjets Bibelgruppen gründen, um somit Argumente zu finden, um die Gläubigen zu bekämpfen. Aber dann ...
Deutsche antireligiöse Bibelzirkel in der Ukraine
Die Atheisten-Zelle der Halbstädter medizinischen professionellen Schule organisierte einen antireligiösen Bibelzirkel, der sich damit beschäftigte, "an Hand der Bibel die hauptsächlichsten Widersprüche und sonstigen Schwächen derselben zu studieren", zwecks Auswertung der so gewonnenen Kenntnisse für den antireligiösen Kampf.
Die genaue Kenntnis der Bibel ist als ein nicht zu unterschätzender Stützpfeiler der gottlosen Weltanschauung anzusehen.
Der Gottlose muss lernen, seinen Gegner auch auf das Feld der Bibel zu verfolgen und ihn auch hier zu schlagen. Die Bibel bietet herrliche Gelegenheit dazu.
Die Kreisverwaltung des Atheistenverbandes beschloss, diesen Zirkel wieder aufzulösen, "da die Teilnehmer durch die Beschäftigung mit der Bibel leicht wieder zur Religion zurückgeführt werden könnten."
(Quelle: "Deutsche Post a. d. Dnieper")
1930-01-01
Eine Frau schreibt einen Brief über die Hoffnung aus Russland rauszukommen, aber wie es scheinbar nicht gelingen will. Dann entdecken ihre Kinder einen Drohbrief im Stall.
Rußland, den 1. Dez. 1929,
Einen herzlichen Gruß zuvor mit dem Wunsch, daß diese Zeilen Euch bei guter Gesundheit antreffen mögen.
Bei uns ist der Gesundheitszustand wie gewöhnlich. Vor zwei Wochen glaubten wir, bald in Amerika zu sein, doch sind wir wieder getäuscht. Hier entstand plötzlich ein Fieber, überall wurden Vorbereitungen in aller Hast getroffen, um nach Moskau zu fahren. Der Weg ist offen, hieß es, und niemand wusste etwas Genaues.
Was möglich war, wurde für einen Spottpreis verkauft, und was nicht verkauft werden konnte, wurde einfach stehen gelassen, um nur schnell weg zu kommen. Viele verließen ihr Heim, das Vieh blieb im Stall stehen, wenn nur so viel da war, bis Moskau zu kommen, dann war man fertig zur Reise.
Von hier ist niemand abgefahren, aber viele waren fertig zur Abreise, da gab man auf den Bahnhöfen keine Billete mehr, die Leute wurden aufgehalten und mit Gewalt zurückgeschickt.
Wie es weiter werden wird, ist nicht zu wissen, möchte uns doch geholfen werden. Wir haben so sehr nach Briefen ausgeschaut, ob vielleicht von dort Genaueres zu erfahren sei, aber kein Brief kommt, ist mir so wunderlich.
Man sagt, die Prediger in Moskau sind eingesperrt, viele waren ja schon dort. Auch hier sind schon manche hinter Schloss und Riegel. Hier wird mit aller Macht gegen die Auswanderung gearbeitet. Man fordert Unterschriften, dass man nicht hinaus will, dann schiebt man die Schuld auf die Prediger und Kulaken, die, sagt man bereden das Volk, sie sollen doch hinaus von hier und doch sind das Lügen, es ist garnicht nötig zu überreden, die meisten wollen weg von hier, sogar viele die man eigentlich möchte hier lassen.
In den Zeitungen schreibt man, wer da sagt, in Sowjetrußland werde die Religion vernichtet, der lügt und doch befiehlt man uns, sonntags zu arbeiten, die Kinder müssen sonntags zur Schule.
Wenn ein Lehrer zur Andacht gebt, wird er aus der Schule hinausgeworfen, so könnte ich vieles aufreihen. Wenn sie selbst nicht Furcht hätten, würden sie viel schärfer vorgehen.
Wir haben uns wieder großen Schaden zugefügt, haben alles Getreide weggefahren, an die Regierung verkauft, sehr billig, so auch die Schweine und nun kommen wir wieder nicht weg, es ist beinahe nicht zu tragen.
Hatten in diesem Jahre Brot genug bis zur frischen Ernte, nun ist alles weg. Mehl ist noch zu kaufen, aber sehr teuer. Weizenmehl, auf der Windmühle gemahlen, kostet 6-8 Rubel pro Pud, 80-prozentiges 12 Rubel, Gerstenmehl 4 Rubel pro Pud.
Vorigen Sonnabend abends um 8 Uhr gingen die Kinder in den Stall und fanden über der Tür in einer Ritze einen Brief stecken, brachten ihn mir, ich lese auf dem Kuvert meinen Namen, oben über "eilig" unten "persönliches". Ich öffnete, fing zu lesen und erschrak, ein Drohbrief.
Man forderte von mir 250 Rubel Geld zur Nacht auf den Wagen legen und den Wagen ziemlich weit vom Gebäude aufstellen. Sie beschwören mich mit dem Tode, wenn ich das nicht tun werde, meine ganze Familie wollen sie ermorden, drohen schrecklich, wenn ich es der Miliz bei mir haben werde. Der Brief war auf Ukrainisch geschrieben.
Ich habe es nicht gemeldet, aber auch das Geld nicht hingelegt. Was noch kommen wird, wissen wir nicht. Wir leben in Furcht. Eine Woche ist seitdem verflossen, haben noch nicht eine Nacht alle geschlafen.
Meine Familie will weg von hier, aber wohin? Wenn wir wüssten, ob wir im Frühjahr nach Amerika könnten, würden wir bald von hier weg sein.
Unser Leben ist in Gottes Hand, das glauben wir. Aber hier sind so böse Menschen, die fähig sind, alles auszuführen, womit sie drohen. Bei uns wurde bereits ernsthaft gebetet in diesen Tagen.
In Liebe,
1930-01-01
Hammerstein ist eines der Lager in Deutschland, wo die Flüchtlinge empfangen werden. Zwei Briefe erzählen, dass nur ein Drittel der Flüchtlinge in Moskau hat rauskönnen, die anderen wurden gewaltsam zurückgeschickt. Welche Sorgen haben Leute jetzt im Lager in Deutschland?
Hammerstein, Deutschland,
den 6. Dezember 1929,
Liebe Eltern und Geschwister.
Wir wollen heute mal etwas schreiben, haben aber keine Postmarken und keine Umschläge und kein Geld. Wir brauchen hier jetzt wohl auch kein Geld als zum Briefeschreiben, denn wir werden hier sehr gut verpflegt. Wir bekommen täglich zu essen (gute Suppen, weißes Brot, Butter, Wrenge (Jam), Kaffee, Tee). Wir wohnen in einer guten, großen Stube mit noch 2 Familien (insgesamt 19 Personen in der Stube). Es geht sonst auch ganz gut, nur wir möchten weiter, zu Euch.
Es ist ein Wunder, dass wir alle glücklich hierhergelangt sind. Wie viele sind in Moskau arretiert und sitzen noch. Ungefähr zwei Drittel von denen, die in Moskau herum wohnten und um den Auslandspark anhielten, sind gewaltsam zurückgeschickt worden. Wie leicht hätten wir darunter sein können und dann wären wir verloren.
Hüberts wollten zuletzt auch, aber zu spät. Jakob kam mit 3 Kindern glücklich bei uns im Klasjma an, aber Lena (meine älteste Schwester) mit den übrigen Kindern, die nachkommen wollten, wurden unterwegs aufgehalten und zurückgeschickt. Hätten sie uns gehorcht und wären eher gekommen, so wären sie vielleicht auch hier, aber Jakob kann sich schwer entschließen. Jakob Neufelds wohnten auch schon in Klasjma und kommen vielleicht, wenn Gott hilft, morgen oder übermorgen hier an.
Franz Görtzen bittet zu fragen, was Ihr für ihn geschickt habt, ob Einreiseerlaubnis oder vielleicht auch Schiffskarte. Bitte antwortet gleich!
Sitzen schon den vierten Tag im Lager Hammerstein, essen und schlafen nur. Es ist nur schwer zu sitzen ohne Arbeit, nichts zu lesen, aber wir schicken uns gerne. Sind doch sehr froh, dass wir nicht mehr in Rußland sind, doch wenn Ihr etwas tun könnt, um uns schneller hinüberzuhelfen, so bitte tut es. Wir möchten so schnell wie möglich zu Euch.
Es ist ja so, je näher man dem Ziel ist, desto ungeduldiger wird man. Ich bange mich jetzt noch viel mehr wie zu Hause. Haben in Moskau eine sehr ernste und schwere Zeit durchgemacht. Aber Gott sei Dank, wir dürfen uns nun nicht mehr ängstigen.
Es tut mir nur furchtbar leid um Lena und die lieben Kinder. Betet viel, ja ohne Unterlass für sie, und wir wollen es auch tun. Papa, Deinen Brief erhielten wir in Moskau noch gerade, ehe wir in den Zug einstiegen. Freuten uns sehr dazu.
Aber hier möchte ich schon garnicht Briefe bekommen, nur weiter – so schnell wie möglich. Um zwei Wochen haben wir wieder Weihnachten. Noch einmal werden wir sie doch wohl getrennt feiern. Könnten wir dann wenigstens schon auf der Reise sein.
Wir sind hier mit den Konrads aus der Krim in einer Stube. Der alte Onkel ist fast ganz taub. Er kennt Dich gut und spricht mit viel Liebe von Dir, Papa. Wie er inne wurde, dass ich Eure Tochter bin, meinte er, nun sind wir ihm noch viel näher gekommen, und bestellt Euch sehr zu grüßen.
Gestern kamen hier 550, heute 650 Emigranten an, und morgen kommen 750 und dann 800 übermorgen. Und alle die nimmt Deutschland vorläufig auf und versorgt sie aufs Beste. Das ist doch was Grosses und was nur Gott ihnen vergelten kann.
Nur das Essen ist uns noch etwas ungewohnt. Wir sind Borscht gewöhnt, und den gibt's hier nicht. Aber das Essen ist sehr nahrhaft, das wir hier bekommen.
Nun Gott schenke uns ein baldiges Wiedersehen. Die, da Schiffskarten haben, kommen zuerst weg.
Eure Kinder und Großkinder.
1930-01-01
Hammerstein, Deutschland,
Liebe Geschwister,
Vor etlichen Tagen war Benjamin Unruh hier und sagte, jeder solle sich melden, der eine Schiffsfahrt benötige und eine Liste aufstellen. Demnach kommen die das erste weg. Gerne wären wir auch darunter.
Papa sagte, ich solle Euch bitten, ob Ihr uns nicht so schnell wie möglich die Schiffskarte schicken könnt. Ihr habt die vielleicht auch schon früher geschickt, aber die Russkapa hat uns nichts wissen lassen.
Wenn ja, dann schickt uns bitte die Nummer davon. Kornelius hat seine schon lange erhalten; die kommen vielleicht bald weg.
Nun, Ihr werdet ja Euer Möglichstes tun für uns. Wir fanden sehr freundliche Aufnahme. Gleich von der Grenze an wurden wir sehr beschenkt mit Eßwaren und Süßigkeiten.
Euch alles Beste wünschend, verbleibe ich
Eure Schwester Martha.
Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.
1930-01-01