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Teil 7

  

 

     Eine kleine Gruppe hat es geschafft rauszukommen. Sie erinnern sich jetzt, wie sie in Nacht und Nebel aus den Dörfern schleichen mussten, Land und Haus einfach stehen lassen und weg, nur weg, so schnell wie möglich.

 

Lager Hammerstein, den 10. Dezember 1929.

Liebe Geschwister!

     Er, der uns liebt, Jesus Christus, unser Heiland, sei mit Euch und gebe Euch, was Ihr wünschet. Wir befinden uns in Deutschland, sind hier Sonntag morgens angekommen. Ihr werdet wohl schon gehört haben, wie es in Russland in letzter Zeit zugegangen ist, und dass viele Mennoniten nach Moskau fuhren, um von dort ins Ausland zu gelangen. So wurde ich mir auch mit meiner Familie einig, und am 8. November fuhren wir von Hause ab und sind jetzt den dritten Tag hier in Deutschland.

     Was wir in den letzten Tagen erlebt haben, und die Zeit, die wir in Moskau verbracht haben, ist fast nicht zu schildern. Diejenigen, welche zuerst von Hause wegfuhren, konnten noch ihr Vermögen ganz verkaufen, aber bald wurde es von der Regierung verboten, und in den Dörfern wurden Wachposten aufgestellt, damit keiner irgend etwas aus dem Dorfe hinausführe. Wir haben deshalb fast alles zurückgelassen, nur den Erlös von den Sachen, die wir in zwei Tagen unter der Hand für einen Spottpreis verkauften, nahmen wir mit. Weil fast jeder weg wollte, und jeder verkaufte, hatten die Sachen keinen Preis, und man war genötigt, das Vermögen fast alles fortzuschenken. So z.B. verkaufte ich eine Kuh für 15 Rubel, die andere für 45 Rubel, einen Hengst, der nur im Frühlinge 190 Rubel gekostet hatte, für 23 Rubel usw. Und der Handel geschah noch des Nachts, damit die Miliz nichts davon erführe. Wir hatten 500 Rubel, als wir abfuhren; die Wirtschaft aber, Wagen, Pflüge, alles Brennmaterial, Mehl, Möbel und Tonnen – alles ist stehen und liegen geblieben.

     Als wir nach Moskau kamen, hörten wir nichts Gutes: Jede Nacht wurden Verhaftungen vorgenommen. Meistens wurden die Angekommenen zurückgeschickt, und wir warteten auch jeden Tag, dass es uns so ergehen würde. Aber am 25. November kam mit einmal die Nachricht, dass alle hinausfahren könnten. Und so wurde es auch. Nach zwei Tagen ging der erste Zug ab, und heute kam hier schon der sechste an.

     Unsere Geschwister wollten auch nachkommen; als wir von Hause abfuhren, hatten sie schon viel Sachen verkauft. Entweder sind sie nicht abgefahren, oder man hat sie wieder zurückgeschickt, wie so viele andere. Die Familie I. Regehr war bis zur Station B. Krinitza gekommen; da wurde Regehr arretiert und seine Familie zurückgeschickt. Das geschah zwei Tage nach unserer Abfahrt. Die Familien Heinrich Isaak, Joh. Bargen, G. Bargen und viele andere sind von Moskau zurückgeschickt; ebenso auch Onkel F. Klassen, aber seine Familie weilt noch in Moskau.

     Den 4. Dezember abends fuhren wir von Moskau ab und kamen am 5. des Nachts in Sebesh an. Hier wurden unsere Sachen durchsucht, und alle Wertsachen, die man hatte, wurden weggenommen. Ich hatte noch 10 Rubel übrig gehalten, und die nahm man uns ab. Als wir des Nachts auf der Station Zilupe in Lettland ankamen, wurden wir freundlich empfangen; wir bekamen Essen und viel Geschenke, und in Riga und Kowno wurden wir so beschenkt, dass wir noch Schokolade und Verschiedenes haben, auch Kleider wurden ausgeteilt.

     Den 7. des Morgens kamen wir auf der deutschen Grenzstation Eydtkuhnen an, wo der Empfang so gut war, dass er nicht zu beschreiben ist. Wir wurden gereinigt, und die Kleider wurden desinfiziert. Am Abende fuhren wir weiter nach Hammerstein ins Lager. Hier angekommen, mussten wir noch einmal zum Arzt, die Wäsche und vor den sollen wir 4 Wochen in Quarantäne bleiben. Nach Beendigung dieser Zeit können alle diejenigen, welche Verwandte in Kanada haben, dorthin abfahren, die anderen aber sollen bis zum Frühling hier bleiben. . . .

Franz und Liese Bargen. (Eingesandt von P. Bargen-Carlyle.)

Der Bote", Mittwoch, den 1.Januar 1930

     Manche haben den Eindruck, dass die Mennoniten alle am 25. November in den Zug gestiegen sind, um ins Ausland zu gelangen. Hier erfahren wir jetzt, wie der erste Zug am 27.11. abging und dann viele weitere Züge die tausenden Flüchtlinge beförderten.

     Aus einem anderen Bericht weiß ich, dass auch viele mit dem Schiff über Petersburg nach Deutschland kamen.

     Der Schreiber des Briefes ist noch der Meinung, dass es nach Kanada geht. Erst später wurde den Migranten klar, dass Kanada nur ganz Gesunde aufnahm und nur solche, die schon Familienmitglieder dort hatten. Also ganz wenige gelangen ins “gelobte Land”. Wohin mit den anderen? In die Wildnis Brasiliens oder in die Wüste Paraguays.

 

      Eine Zeitung in Deutschland beschreibt das Abenteuer der Flucht der Mennoniten:

 

Die Flucht aus der Hölle

     Sechzigtausend deutsche Russlandbauern, hauptsächlich Mennoniten, auf wilder Wanderung. Das furchtbare Schweigen. Sie lernen wieder atmen. Im Notlager vor Kiel.

     Das Heldenlied der deutschen Russlandbauern, in der Hauptsache Mennoniten.

Kiel, Anfang November.

    Sie haben sehr viel Gottvertrauen im Herzen, und Lumpen haben sie an, die die Frauen täglich putzen und flicken, und eingefallene Wangen, von flackernden Blicken erhellt, und verlaust sind sie überhaupt nicht, trotz monatelangem Herumlungern in den Elendsquartieren von Moskau. Das deutsche Sanitätspersonal war richtig erstaunt, als die Desinfektionsapparate sich in ihrer ganzen Überflüssigkeit erwiesen. Kulturträger sind sie immer noch, nach einem Jahrzehnt Verfolgung und Not. Recht herabgekommen natürlich, wie das armen Teufeln so geht, die mit dem Tod auf du und du waren und die nun wieder atmen lernen müssen.

     Das klingt sehr nach Phrase und Feuilleton: wieder atmen lernen. Es ist aber der Ausdruck, den ein uralter Bauer aus einem weltverlorenen Nest in der Krim fand, als er, zögernd genug, nach Worten suchte, das neue Leben zu preisen, das nun, hier, in den Schuppen der Lagerhausgesellschaft in Kiel, leuchtend angehen soll. Worte finden – das ist aber ein schweres und undankbares Geschäft für einen, der aus der Hölle kommt. Vermittelst Massentransports auf einem erbärmlichen Zwischendeck.

    Im Anfang war das Schweigen. Einen Tag und eine Nacht und wieder einen Tag sind sie schweigend beieinander gehockt, dreihundertvierundzwanzig Männer und Frauen, Greise und Kinder, die alle todmüde vor Hoffnung sind. Ja, es ist ihren Wärtern und Helfern schließlich auf die robustesten Nerven gegangen, dieses Schweigen. Sie wussten nichts damit anzufangen. Auch frischgekochte Suppen eimerweise mit sehr viel Speck und Löffelerbsen vermochten keine angeregte Konversation in Gang zu bringen. Und keiner zeigte sich bereit, Anekdoten aus der Hölle Sowjetrusslands zum Besten zu geben. Nur abends sangen sie fromme Choräle. Morgens auch. Sie verzichteten auf einen kleinen Bummel durch die Stadt. Photographen, Beamte, Neugierige ließen sie mit unbeteiligtem Gleichmut über sich ergehen, wie es sich in zehn Jahren fortgesetzter kommunistischer Kontrolle lernt. Ihre Apathie war erschreckend. Dass sie wieder einatmen lang und tief, ist weiter nicht aufgefallen. Wir wissen ja nicht, dass man, aller Gelehrsamkeit zum Trotz, auch leben kann, ohne zu atmen. Sie aber wissen es.

     Ein rechtes Leben ist das eigentlich nicht mehr. Sich drücken und sich ducken, zehn Jahre lang, zwölf Jahre lang – das war alles. Der Menschheit ganzer Jammer drückt sich in einem Getreidepreis von achtzig bis neunzig Kopeken aus. Vorkriegspreise für die Landwirtschaft, indes das kleine Leben immer unerschwinglicher und immer unerträglicher wurde. Vierhundert Prozent Teuerung errechneten die Statistiker. Die deutschen Bauern in Sowjetrussland rechneten überhaupt nichts mehr. Sie sahen zu, wie einem nach dem anderen Haus und Hof fortgenommen wurde. Steuerrückstände und Nichterfüllung der Lieferpflicht. Auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege werden die bolschewistischen „Getreidefabriken“ errichtet. „Neues Leben blüht aus den Ruinen", heißt es dann im ölig-offiziellen Jargon. Die Toten einer jeden Ruine kehrt man fort.

     Nein, sie sind nicht nach Deutschland gekommen und wollen nicht von hier weiter nach Kanada, um den Blick zurückzuwenden in die Vergangenheit. Das ist gewesen, gewesen und vorbei. Es war also nie. Sie haben die Vergangenheit abgestreift. Keine Anklagen gegen das bolschewistische Regime und vor allem keine Erinnerungen an das Stückchen eigenen Boden, das man einmal hatte. Ein einziger wird sentimental. Vom Hund muss er erzählen, den sie ihn nicht mitnehmen ließen. Der konnte sogar den Stock des Herrn tragen, und Hühner einfangen, rasch aber behutsam, konnte er auch. Rasse? Was ist das eigentlich: Rasse? Der liebste Mensch auf Erden ist dieser Hund gewesen, Samp! Die Erinnerung an ihn ist das einzige unzerreißbare Band mit der alten Heimat, die keine mehr war. Von Unterdrückung, von Verfolgung will der Besucher hören? Ach, da ist nichts Besonderes vorgefallen! Keinerlei Sensation für den gespitzten Bleistift des Reporters. Es war alle Tage das alte Einerlei: Herzklopfen, ob der Kommissar kommt, leise Magenbeschwerden zur Vesperzeit, das wird wohl Hunger gewesen sein, manchmal heimliche Fressorgien: selbstgebackenes Maisbrot, zu dem eine Bäuerin die Gemeinde einlud, und Schnitzel aus Viehfutter, dann Abendschule für die jungen Leute, aber die meisten von ihnen haben es nicht weit gebracht in der Erkenntnis, weil man sich nur schwer auf Karl Marx' gesammelte Werke konzentrieren kann, wenn die Phantasie von Schnitzel aus Viehfutter träumt.

     Nachtarbeit, um das Lieferquantum für den festgesetzten Tag zu erwirtschaften, weil am nächsten Tag schon der Leutnant mit acht Mann da ist, und weil dann die Sozialisierung der Produktionsmittel dieser Erde durch die Enteignung einer kleinen Bauernwirtschaft wieder ein Stückchen gefördert ist. ... Ja, und Sonntag gab es ein bisschen Ruhe in der Kirche. Nur in sehr wenigen glücklichen Gemeinden übrigens. Mit der Kirche im bolschewistischen Idealstaat der Zukunft und stärker der Gegenwart ist das eine eigene Sache. Sie wird nicht verfolgt oder verboten, erzählen die Bauern. Sie wird nur besteuert. So zwar, dass die Steuer das Doppelte der Aufwendungen für religiöse Zwecke beträgt. Aus Kirchen, die zugrunde gesteuert sind, machen sie dann kommunistische Kinderhäuser. Alles ohne Zwang, natürlich.

     Da kam die Revolte im Gotteshaus. Eines Morgens war der Pfarrer verschwunden. Aus Nachbargemeinden kam die Kunde; er wandere von Ort zu Ort, nach Moskau zu. Dort wolle er um eine Ausreisebewilligung ansuchen und den Weg zu Amtsbrüdern in Europa oder Amerika finden. So begann der Zug der Sechzigtausend in den Gemeinden. Ein paar hundert Kilometer weit, in einer anderen [Gemeinde] ist ein deutscher Bauernsohn durchgegangen, einer, der sich ein bisschen Zukunft zimmern wollte. Die Entfernungen sind unvorstellbar groß, und russische und halbasiatische Stämme siedeln zu Millionen zwischen versprengten deutschen Kolonien. Es gibt keine Post, kein Telephon, keine Bahn – dennoch verbreitet sich die Kunde von der Flucht des einen und des anderen. Immer häufiger wird solche Kunde. Hunderte, viele Hunderte, schließlich Tausende finden sich in Moskau zusammen. Hier suchen sie Ausreiseerlaubnis und hier [fängt man] ihren Rädelsführer. Das höchste Strafmaß – so lautet die höfliche Umschreibung für Todesstrafe – ist ihm sicher. Nur, dass er von der Inquisition der G.P.U. nicht gefunden wird.

     Sie haben keinen Rädelsführer und keinen Anführer. Hier, auf deutschem Boden, in voller Freiheit und Sicherheit wiederholen sie es. Und gerade das ist der überwältigende Eindruck: dass es ein nicht organisiertes Massenfliehen ist. Jeder für sich. Und Gott für alle, setzen gläubige Mennoniten hinzu. Sie erzählen, dass Katholiken und Lutheraner genau so auf der Flucht seien. Es ist keine religiöse Angelegenheit allein, sondern eine urmenschliche. Ein Phänomen, dieser Zug der sechzigtausend deutschen Bauern, so viele, meinen sie, sind jetzt auf der Wanderung, von denen die Geschichte einmal sprechen wird.

     In den Elendsquartieren von Moskau lagern sie, Tag und Nacht und Woche und Monat. Vorsprachen bei den Behörden. Darauf Zwangsverschickung, Zwangsinternierung, Zwangsmaßnahmen. Alles vergeblich. Im Lager von Kiel ist keiner, keine Frau, kein Greis, der sich nicht williger hätte erschießen lassen, als dass er zurückgekehrt wäre in die Hölle. Endlich vor Kalinin. Sie zittern heute noch, wenn sie seinen Namen aussprechen. Die Vision dieses Gewaltigen, der immer noch als Bauer herumgeht, in Stulpenstiefeln und fleckigem Kittel, verfolgt sie heute noch. Was wissen sie davon, dass Stulpenstiefel und fleckiger Kittel genau so Kostüm sein können, wie Generaluniform und Diplomatenfrack. Nichts wissen sie davon. Kalinin also empfing die Bauernschaft. „Eine müde Handbewegung hat er gemacht", sagte mir einer, der dabei war, „und dann hat er gemeint: Wenn ihr gehen wollt, — wir halten euch nicht! Bekümmert war der große Kalinin. ... Dann haben sie jedem von uns zweihundert Rubel abgenommen, wer das Geld nicht hatte, musste zurückbleiben (denn so bekümmert, dass er auf die zweihundert Rubel verzichtet hätte, scheint der große Kalinin doch nicht gewesen zu sein) — und hier sind wir nun.“

     Dreihundert sind hier, sechstausend warten in Moskau, sechzigtausend sind auf wilder Wanderung, zwei Millionen halten immer noch den breiten Rücken her, auf den die Schicksalsschläge niederprasseln. Das ist das Heldenlied der deutschen Russlandbauern.

René Kraus. (Aus „Der Mittag".)

„Der Bote", Mittwoch, den 4. Dezember 1929

 

 

     Rückblickend erzählt Der Bote wie eine damals berühmte Persönlichkeit, Prof. Nansen, norwegischer Polarforscher, Politiker und Menschenrechtskämpfer Ende 1929 an die russische Obrigkeit schrieb und sich für die Flüchtlinge einsetzte:

      “Als die Flüchtlinge vor Moskau lagen und von der russischen Regierung keine Auslandspässe bekamen, richtete Prof. Nansen ein Schreiben an den Kommissar für auswärtige Angelegenheiten Litwinow, in welchem er andeutete, dass das Verhalten der russischen Regierung zu der Auswanderung der deutschen Kolonisten aus Russland einen bösen Schein auf die Regierung werfe. Litwinow antwortete darauf, dass die Regierung sich verpflichtet fühle, ihre Bürger vor Ausbeutungen seitens der ausländischen Transportgesellschaften und Kapitalisten zu schützen.

      Dank den Bemühungen einiger Brüder in Ontario ist die Hoffnung vorhanden, dass noch eine stattliche Zahl der Flüchtlinge aus Deutschland in Ontario wird einwandern dürfen. Es sind noch etwa 600 mennonitische Flüchtlinge in Deutschland, die nach Canada kommen wollen und auch Aussicht dazu haben, für deren Unterkunft daselbst die Board Garantie leistet, und zwar eine Mark pro Seele und Tag. Dank der Opferwilligkeit verschiedener Hilfsorganisationen diesseits und jenseits des Wassers können die Versprechungen eingelöst werden. B. Unruh ist von der Board beauftragt worden, soviel Flüchtlinge als nur möglich in Deutschland zu halten, bis sie nach Canada kommen können.

"Der Bote", Mittwoch, den 1. Oktober 1930

     Diese Nachricht erscheint im Boten Ende 1930. Die meisten Flüchtlinge sind schon entweder nach Paraguay oder nach Brasilien gefahren. 600 aber sind noch immer in Deutschland und hegen die Hoffnung in Kanada Einlass zu bekommen.

     Das wird letzten Endes nicht klappen und sie müssen dann doch nach Brasilien. Das sind größtenteils jene, die auf Stoltzplateau landen, auf einen schlechteren Boden, in der Jahreszeit zu spät, um noch richtig pflanzen zu können, was die ganze Sache verschlimmerte. Das sind auch die ersten, die Santa Catarina verlassen und nach Curitiba ziehen und in Vila Guaíra und Boqueirão ihre neue Heimat gründen.

 

     Auszug aus einem Briefe von Heinrich Martins, des Leiters der ersten Gruppe, die in Deutschland, Kiel, landete.

Mölln, den 29. Dez. 1929.

      Am 24. Oktober 1929 erhielten wir, d. h. eine kleine Gesellschaft von uns, von Kalinin im großen Wartezimmer des W.Z.J.K. das „Ja"-Wort. Darauf traten Männer hervor, die die ganze Masse gruppierten; überhaupt waren in 7 Gruppen 1800 Familien mit 6000 Seelen. Das Aufstellen der Listen, das Sammeln der Dokumente und Photographien wurde Tag und Nacht getan, ebenso das Geld für die Pässe eingetragen (220 Rubel pro erwachsene Person). Wer das Geld nicht hatte, für den blieb die „Frage" einstweilen offen. Hals über Kopf wurden dann die ersten 56 Familien aus der ersten Gruppe noch 12 Uhr nachts (vom 28. auf den 29. Oktober) in 6 Waggone geladen, die anderen sollten am nächsten Morgen nachkommen, aber die meisten von diesen sind nicht über die Grenze gekommen. Um 10 Uhr abends am 28. Oktober erging der Befehl, sich zur Station Perlowka zu begeben. Wie auf einer furchtbaren Flucht nach Kriegsausbruch wurde zusammengerafft und in finsterer, regnerischer Nacht mit den Sachen und den kleinen Kindern zu der 2–8 Werst entfernten Bahnstation geeilt. Uns persönlich war es unmöglich, eine größere Kiste mit unsern besten Sachen mitzunehmen, und Gegenstände von historischem Werte und teure Andenken an die frühere Heimat und an Familien sind uns auf diese Art verloren gegangen. Pässe wurden uns keine gegeben; wir sahen nur Familienausweise auf ganz einfachem Papier, die uns aber nur erst in Kiel bei der Landung von einem deutschen Polizeibeamten eingehändigt wurden.

     Nach vierzigstündiger Fahrt (die normale Zeit ist 10–12 Stunden) kamen wir am 30. Oktober abends in Leningrad an und wurden eiligst in das Emigrantenhaus gebracht. Die ganze Nacht hindurch wurden wir gequält mit Baden, Desinfektionen, ärztlichen Besichtigungen; die G.P.U. presste unter verschiedenen Drohungen das letzte Geld heraus, Zollrevision des Gepäcks, kein Essen, auch keinen Schluck warmen Wassers für die Kinder. ... 12 Uhr tags am 31. Oktober wurden wir aufs Schiff „Dsershinski" gebracht, nachdem vorher noch viele Familien eine gründliche Durchsuchung aller Kleider, Taschen, Schuhen etc. über sich ergehen lassen mussten. Unter ihnen war auch meine Familie. Ich wurde eingesperrt in einer besonderen Stube gehalten, nachdem man mir alle Notizen, irgendwelche Adressen, einige Dollar, Ausweis über Gemeindezugehörigkeit, ein paar Stempelmarken usw. abgenommen hatte. Die Geburtsscheine der ganzen Familie habe ich nur mit großer Mühe ausgebettelt, wie ein kleiner Junge. Gottes Wille war es, dass man mich endlich freiließ. Alle waren schon auf dem Schiffe, meine Frau hatte schon am Ufer mit großer Angst auf mich gewartet. Wie „ein Brand aus dem Feuer" bin ich gerettet, und ich kann Gott nicht genug dafür danken. Ähnliches und noch viel Schwereres haben alle diejenigen erfahren, die irgendwie „führend" auftraten.

      Etwa drei Wochen nach unserer Abfahrt stieg die Zahl der Flüchtlinge bei Moskau bis auf 13.000. Die Zahl nahm zu. Kanada verwehrte die Einreisegenehmigung. Die Sowjetregierung fing an, nach vorhergegangener Drohung und möglichster Hemmung der Bewegung nach Moskau, die Leute gewaltmäßig zurückzuschicken unter Begleitung von Gewaltakten: man soll unterschreiben, dass man freiwillig zurückgehe; sie werden in Einzelstuben abgesperrt und bei heißem Ofen gebacken, dass die Haut fast verbrennt, um „freiwillige" Unterschrift zu erpressen. Über 300 Mann sind arretiert und eingesteckt, einige nach Solowki geschickt. Frauen und Familien sind vielfach gebunden, auf Lastautos geladen und dann zurückgeschickt worden.

     Bei diesen Gewaltmaßregeln sind Kindern Arme und Beine gebrochen, schwangere Frauen kamen auf dem Pflaster oder im Auto nieder und kamen dort mit den Kleinen ums Leben oder wurden geistesgestört. Viele Familien sind auseinandergerissen: der Mann ist herübergekommen, die Frau nach Sibirien geschickt, die Angehörigen nach dem Kaukasus, Kinder gingen verloren usw. Ich kann in diesem Briefe nicht alles schreiben, nur andeuten. Von den Karassanern wurde Ältester Hermann Rempel zurückgeschickt, alle Schellenbergs, Peter Wall, alle Topalower, Minlertschiker. Zwei Brüder Dick aus Kodagai sind hier. Sie wurden zweimal arretiert, zurückgeschickt, bezahlten zweimal die Pässe, und endlich glückte es ihnen. Jede Familie hat eigentlich ihre eigene Geschichte. Die Krimer K.f.K. sitzt fest, Ält. Jakob Rempel-Grünfeld sitzt in Moskau, Alexander Ediger war inzwischen wieder frei. Peter Fr. Fröse ist zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Hermann Dyck und K. Reimer sind arretiert.

     Die Ursachen der Bewegung sind kurz: die Proletarisierung des Bauernstandes und die furchtbare Religionsbedrängnis. Wir haben hingehalten und ausgehalten, uns zu vielem gefügt, aber als es hieß, den Glauben verleugnen und sich von den Familien entsagen, da war die Grenze des „Menschenmöglichen" erreicht, wir ließen alles stehen und liegen und hatten nur den einen Wunsch: noch einmal lebend über die Grenze in ein Land zu kommen, wo wir frei unseres Glaubens leben können. Und wir durften es lernen, was es heißt: Gott vertrauen, wo alles Sichtbare, Fühlbare, Empfindbare um uns unzuverlässig war.

     Und wir sind der festen Zuversicht, dass dieser große Gott, der uns mit so mächtigem Arm aus diesem großen Elend geführt, ja errettet hat, dass Er für uns ein neues, bescheidenes Plätzchen in der weiten, großen Welt schon anweisen wird, ob in Kanada oder Brasilien — heute wissen wir's noch nicht. Kanadas Grenzen sind gegenwärtig für uns gesperrt, und wir haben kein Recht zu fordern, wir bitten aber nur Gott und Menschen, liebe Brüder und Schwestern, helft uns möglichst bald eine neue Heimat finden und gründen, am liebsten in Kanada bei Verwandten und guten Bekannten; wenn aber nicht, dann in Brasilien, in den Urwäldern, bei Blumenau, in der Provinz Santa Catarina — SüdBrasilien, wohin uns auch Deutschland gern behilflich sein möchte, weil Kanada doch wohl verschlossen bleiben wird.

     Die Deutsche Regierung und das Deutsche Volk haben sehr viel an uns getan und tun es noch heute, wofür wir ihnen zu tiefem Dank verpflichtet sind. Aber lange kann das auch nicht so gehen, weil Deutschland selbst schwer mit ökonomischen und finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, und es wird Zeit, dass wir irgendwo „unterkommen".

     Wenn wir auch vieles verloren haben, so haben wir doch in einem viel gewonnen, wie ich schon erwähnte: am Glauben und Gottvertrauen, und daran wollen wir festhalten. Wir bitten aber alle Gemeinden, alle lieben Geschwister im Herrn, für uns weiter zu beten, ganz besonders aber für die in Russland Zurückgebliebenen, von denen viele ihr Gottvertrauen mit dem Leben, im besten Falle mit Einbuße ihrer Freiheit bezahlen müssen.

     Die Zukunft liegt dunkel vor uns. Die Verhältnisse in Deutschland und das Ausbleiben der Einreiseerlaubnis nach Kanada zwingen viele Familien, sich freiwillig als Emigranten nach Süd-Brasilien in die Listen eintragen zu lassen. Und die Deutsche Regierung beabsichtigt den ersten Transport Ende Januar des kommenden Jahres einzuschiffen und nach Brasilien zu bringen, indem sie die Reise bezahlt und für den Unterhalt im Laufe einiger Monate aufkommt. Nun, wie Gott will, . .

„Der Bote", Mittwoch, den 29. Januar 1930

     Heinrich Martins, der Schreiber des obigen Textes, wird später Leiter der ersten Gruppe nach Brasilien sein. Schon in Moskau kann man seine Leitungsfähigkeiten erkennen.

     Wer auswandern wollte, musste in eine Liste eingetragen werden, die den russischen Beamten weitergereicht wurde. Selbstverständlich war der darum besorgt, wozu man diese Listen denn tatsächlich verwenden würde. Ausserdem mussten Ausweise vorgelegt werden, Photographien und 220 Rubel pro Person zahlen, was sehr viel war, denn manche Familien waren mit nur 500 Rubeln nach Moskau gekommen. Wie die es gemacht haben, um Miete zu zahlen, Nahrungsmitteln und noch den Preis für die Pässe gleicht in manchen Fällen wohl einem Wunder.

     Als es zur Abfahrt ging, sind of “Gegenstände von historischem Werte und teure Andenken an die frühere Heimat und an Familien verloren gegangen.”

     Diese Gruppe ist mit dem Schiff gefahren. Boshafte Beamte hatten scheinbar den größten Spass daran, diesen Menschen das Leben schwer zu machen. Oder war es einfach totale Unwissenheit? Martins erzählt, dass er “wie ein kleiner Junge sich die Geburtsscheine der ganzen Familie ausbetteln” musste.

     Mit Recht stellt er fest: “Jede Familie hat eigentlich ihre eigene Geschichte.

     Er bekennt, dass die Mennoniten am liebsten nach Kanada ziehen wollen. Da gibt es ein ähnliches Klima wie in Russland, politische Stabilität und was den meisten am kostbarsten ist: Glaubensfreiheit und viele Verwandte. Dahin wollen sie unbedingt.

 

    Wir erkennen durch diesen Bericht, dass die Ausgewanderten Briefverkehr mit den Zurückgebliebenen in Russland pflegen und darum auch viel über ihr Leid erfahren.

 

Warum wir aus Russland flüchteten

      Wer schon etliche Jahre in geregelten Verhältnissen gelebt hat, kann sich gar nicht mehr in die Lage unserer deutschen und besonders unserer mennonitischen Brüder hineindenken. Wir, die wir erst den dritten Monat aus der Hölle befreit sind, können uns, so schreibt man uns jetzt von dort, auch schon nicht mehr recht vorstellen, wie es nun daselbst hergeht. Die Gemeinheiten der Sowjetregierung denen gegenüber, die einstmals bemittelt waren, spottet aller Beschreibung. Wer noch die Machnozeit in Erinnerung hat, kann sich ein Bild der jetzigen Zustände machen, es ist nur der Unterschied da, was damals unorganisiert geschah, geschieht jetzt organisiert, und dass man jetzt nicht ohne weiteres die Menschen erschießen darf. Alles andere dürfen sich die örtlichen Banditen erlauben, und von ihrem Recht machen sie den weitesten Gebrauch.

     Fast in jedem Dorf befindet sich eine Anzahl verkommener Individuen, die jetzt die Funktionen der Machnobanden übernommen haben. In Grünfeld sind das folgende Personen: Der Anführer ist ein zugelaufener Preuße, Eduard Groß. Er fällt durch seine langen schlottrigen Beine und seinen kleinen Kopf, der in keinem Verhältnis zu der ihm innewohnenden Dummheit und Niedertracht steht, auf; er ist zugleich auch Vorsitzender des Dorfrates und „hält die richtige Linie", wie die Kreisadministration von ihm zeugt. Seine ihm fast ebenbürtigen Helfershelfer sind Peter Fast, Johann Klassen, Heinrich Janzen, Gerhard Löwen, Johann Kämpen u.a. Diesen reihen sich russische Plünderer an, die es irgendwie fertig bringen, im Dorf einen Dienst zu bekommen, etwa als Wächter bei einem Staatsunternehmen (Mühle, Fabrik) und dann vom ersten Tage an vollberechtigte Bürger des Dorfes sind. Dass es nur etlicher solcher Kreaturen bedarf, um einem das Leben zu verleiden, ist wohl erklärlich, als auch, dass man unter solchen Umständen froh ist, wenn man mit heiler Haut davon kommt.

      Ein zweiter Grund unserer Flucht war der materielle Ruin unserer Wirtschaften, verbunden mit der vollständigen Aussichtslosigkeit der weiteren Existenzmöglichkeiten, selbst als Tagelöhner. Die meisten Mennoniten haben den sonderbaren Charakterzug der Erwerbsfreudigkeit und auch der Freude am Erworbenen, die sich zuweilen nicht mehr mit dem Wort Sparsamkeit decken lässt, wie auch des entschlossenen Verzichtens auf alle sauer erworbenen Güter, wenn sie darum leiden sollen. Nicht das Verlieren des Vermögens, sondern vielmehr die absichtliche Ausschaltung des Wiedererwerbs war sozusagen der zweite Grund unserer Flucht.

     Als dritten Grund möchte ich die Unduldsamkeit der sogenannten Sowjetregierung in Glaubenssachen nennen. Die Marxisten (nicht nur die Kommunisten, diese letzteren zähle ich zu den Banditen) sind oft geneigt, vieles, was in Russland getan wird, mit Phrasen wie Internationalismus, Atheismus, Religionslosigkeit usw. zu erklären, während die rechte Benennung für das Verfahren der Machthaber gegen die Kirche „Banditismus" wäre. Die erwähnten Herren wissen nicht, dass Russland eine Staatsreligion, genannt Kommunismus, hat, die an Unduldsamkeit die frühere griechisch-orthodoxe Kirche weit übertrifft. Prediger werden arretiert, Kirchen werden geschlossen, Gläubigen wird das Wahlrecht entzogen usw.

     Zu allen angezählten Ursachen kommt noch die Vergewaltigung des Gewissens der Kinder in den Schulen. Das Vorgehen der Regierung, die Kinder in einem, dem Geiste der Familie fremden Sinne zu erziehen, wird immer rücksichtsloser. Im verflossenen Schuljahr konnten sich gläubige Lehrer noch bis kurz vor Schluss der Schule halten, heute verlangt man vom Lehrer antireligiöse Propaganda. Wer sich in diesem Punkte nicht fügen sollte, würde unbedingt räumen müssen. Die Kinder leiden sehr unter diesem zweifachen Erziehungssystem. Wo die Eltern eine Autorität sind, da verachtet das Kind den Lehrer und glaubt nicht einmal die Wahrheit; wo hingegen die Kinder gläubiger Eltern der Agitation des Lehrers Gehör schenken, muss es entschieden gegen die Anerkennung der Eltern gerichtet sein. In beiden Fällen aber verliert das Kind.

     Vieles, was dort vorgeht, ist ja aus Briefen und Zeitungen bekannt. Im „Boten", den ich in letzter Zeit erhalte, sind die Zustände sonnenklar beleuchtet worden, wie z.B. in dem Artikel „Die Massenflucht der deutsch-russischen Bauern etc." von Prof. Unruh, nur dass sich die Ereignisse überholen, und was heute noch fast unmöglich scheint, ist morgen an der Tagesordnung.

L. H. Prenzlau. Rosthern, Saskatchewan, Mittwoch, den 16. April 1930

Fortsetzung folgt​​​​​​​

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