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      Wladimir, Tatianas Ehemann erzählt, wie er die Gefangennahme und die Flucht erlebt hat:

     

     Als meine Frau heimkam, war die Haussuchung eine reine Formalität, schon beendigt und ich machte mich für die „Reise“ fertig: zwei paar Unterwäsche, ein Kissen, ein Laken, einige Stück Zucker und mehrere Äpfel; andere Nahrungsmittel waren nicht im Hause.

      „Ich bin fertig,“ sagte ich zu dem GPU-Agenten und dachte bei selbst: „fertig zum Tode.“ Es dauerte lange, bis sie mich wegfuhren. Die Gefängniswagen waren zu sehr beschäftigt.

 

Zelle Nr. 22

      Es war fast ganz dunkel in der Zelle, in die ich geführt wurde. Auf das Geräusch beim Öffnen der Tür erhob sich ein Mann in Unterkleidern von der nahen Bettstatt und wandte sich an den Gefängniswächter, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

      „Genosse, Sie versprachen uns keinen mehr herzubringen: ich kann sie nirgends lassen. In der Zelle Nr. 20 sind weniger als hundert Mann, und hier sind wir schon hundertacht.“

      Wir werden auch zu Nr. 20 hinzufügen,“ erwiderte der Wächter gleichmütig.

      Sobald meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, schaute ich mich in der Zelle um. Es war ein grosses Zimmer mit einem Flächenraum von ungefähr 70 Quadratmeter. Ungefähr 40 Zentimeter vom Fussboden hoch war ein Plattform angebracht, die die ganze Zelle einnahm. Sie war mit schlafenden Gestalten vollgepfropft.

      „In diesem Gange, auf linker Hand, unter den Brettern, der dritte Platz ist nicht belegt. Legen Sie sich dorthin,“ sagte der Mann in den Unterkleidern.

      „Was meinen Sie damit, unter den Brettern?“ fragte ich ihn.

      „Nun, auf der Diele unter den Brettern,“ wiederholte er.

      Ich war erstaunt, auf der Diele eine untere Schicht schlafender menschlicher Körper zu finden.

So begann meine Gefängniserziehung. Für einen Neuling war das vollständig genug.

 

Das Verhör

     Am nächsten Morgen wurde ich zu meinem ersten Verhör gerufen. In einem kleinen Zimmer, so gross wie eine Einzelzelle, fand ich einen kleinen Kontortisch. Eine stark leuchtende Lampe stand auf dem Tisch, deren Licht auf den Stuhl gerichtet war, auf dem der Gefangene sitzen musste.

     „Guten Morgen,“ grüsste mich der untersuchende Beamte, indem er mich beim Namen nannte. „Setzen Sie sich!“ Es war ein junger Mann, ungefähr 30 Jahre alt, hübsch, rotwangig und gut genährt.

     „Nun gut, wir wollen uns unterhalten,“ fing er an. „Warum, glauben Sie wohl, dass man Sie verhaftet hat?“ „Ich habe nicht die kleinste Vorstellung davon. Ich dachte, Sie würden mir die Aufklärung darüber geben.“

     Er ging wieder alle Fragen durch, die ich den Abend vorher bei meiner Gefangennahme beantwortet hatte, und ich antwortete standhaft, ohne ich zu widersprechen, was ich geschrieben hatte – er konnte mich hierin nicht fangen. „Gut, gut! Also ein Mann vom erblichen Adel – und ich, der Mann, der da fragt, bin ein erblicher Proletarier,“ sprach er gedehnt. „Wie ist Ihre Stellung zu der Sowjetregierung?“ „Sympathisch.“

      Er lachte. „Ich werde das nicht in den Fragebogen schreiben. Das ist zu absurd. Sie sind ein Adeliger. Das allein genügt, um Sie zu einem Klassenfeind zu machen, nicht zu sprechen davon, dessen man Sie überführt hat, was uns in allen Einzelheiten bekannt ist. Sie haben die Arbeit der Sowjetregierung kritisiert! Nein!“ Wieder wollen Sie nicht offen sein, auch in solch kleiner Sache wie diese. „Ich will Ihnen nicht verhehlen, dass Ihre Lage sehr ernst ist, aber es tut mir leid um Sie. Seien Sie offen, und wir werden uns einigen. Sie behaupten, dass Sie niemals die Sowjetregierung kritisiert haben. Kritisieren wir, die Kommunisten, die GPU-Arbeiter, nicht die Tätigkeit der Sowjetregierung?“ „Ich weiss nicht. Aber ich habe es nie getan.“

     „Ist es ausserdem möglich, dass Sie nie einen Witz über die Sowjetregierung gemacht haben?“ „Nein, ich liebe keine Witze.“ „Und Sie haben auch niemals welche gehört?“ „Nein, ich habe niemals auf sie gehorcht.“

     Das Gesicht des untersuchenden Beamten wurde grausam und kalt. Diesmal war meine Lüge ganz augenscheinlich: Es gibt keinen einzigen Menschen im Sowjetland, hoch oder niedrig stehend, der nicht solche Witze erzählt. Es ist das einzige Stückchen Redefreiheit, das in Russland übriggeblieben ist, etwas, das durch keine Zensur oder Terror erdrosselt werden kann, trotzdem die Verbreitung solcher Anekdoten als „konterrevolutionäre Agitation“ mit zehn Jahren Konzentrationslager bestraft wird. Nach einigen Stunden schaute der Beamte auf seine Uhr und erklärte mir, ich könne in meine Zelle zurückkehren. Meine erste Untersuchung hatte 14 Stunden gedauert.

      Als ich in meine Zelle zurückkehrte, brachte mir ein Gefangener etwas kalte Suppe und etwas Grütze, die sich in eine leimige Masse verwandelt hatte. Ich konnte sie nicht essen.

     Am zweiten Tage meiner Haft wurde ich wieder zum Verhör gerufen, ehe die Essenzeit herausgegeben war, und ich hatte nur Zeit, einen Apfel zu essen.

     Der Untersuchungsbeamte prüfte mich aufmerksam, um zu erfahren, ob ich Merkmale einer schlaflosen Nacht zeigen würde.

     „Nun, haben Sie nachgedacht? Sind Sie bereit, heute die Wahrheit zu sagen?“ „Gestern habe ich nur die Wahrheit gesagt.“

     „Ich hoffe, dass Sie bald willfähriger werden. Wir haben die mittelalterlichen Methoden aufgegeben: wir hängen keinen bei den Beinen auf oder schneiden Riemen aus dem Rücken, aber wir haben andere Mittel, nicht weniger wirksame, und wir wissen, wie wir die Wahrheit erzwingen können.“

     Er sprach langsam und schaute mir direkt in die Augen, jedes Wort mit Geschmack und mit augenscheinlichem Vergnügen betonend und seinen Effekt beobachtend.

     „Kannten Sie Schtscherbakow? Er war ein starker Mann, aber ich brach ihn und zwang ihn zu bekennen.“

     Aber obzwar ich in drei Tagen fast gar nichts gegessen hatte, war ich doch in gutem Kampfzustande. Er fragte mich wegen des Ankaufs eines Schiffes im Auslande, um mich sagen zu machen, dass hier eine „Schädlingsarbeit“ vorliege, weil der Preis übermässig hoch war und das Schiff selbst nichts taugte. Wir sprachen und stritten, aber ich gab nicht die Antwort, die er haben wollte.

     Trotz der drückenden Schwäche, der seelischen und körperlichen, die mich überkam, versuchte ich ihm das Rätsel des Fischereigewerbes in Murmansk klar zu machen und die enorme Ausstattung, die nötig sein würde, um die Entwürfe des Fünfjahresplanes zu erfüllen.

     „Und daher gestehen Sie zu, dass Sie die Tunlichkeit des Fünfjahresplanes bezweifeln?“ sagte er mit einem selbstzufriedenen Lächeln.

     Was sollte man sagen? Ich wusste, wie jedermann, dass der Plan ein Unding war, dass er nicht ausgeführt werden konnte. Allein auf den blossen Verdacht hin, solche Gedanken gehabt zu haben, waren 48 Mann erschossen worden.

     Als ich in die Zelle zurückkehrte, schlief schon alles. Ein Gefangener erwachte und riet mir, etwas zu essen. Aber ich liess mich auf meine Strohmatratze fallen und schlief ein, sobald mein Kopf das Kissen berührte.

 

Wer sitzt in Russland im Gefängnis?

     Den dritten Tag war ich schon im Gefängnis und fing an mit der Gefängnisroutine bekannt zu werden. In einer Zelle, die für 22 Gefangene eingerichtet war, waren 108 Mann eingepfercht. Um das Leben der Häftlinge in U.S.S.R., deren Fälle untersucht werden, zu verstehen, muss man sich zuerst genau vorstellen, dass die Kost zuallererst darauf berechnet ist, den Gefangenen seelisch und körperlich müde zu machen und seine Widerstandskraft zu brechen, um so die Arbeit von ihm, ein „freiwilliges Geständnis“ zu erlangen, zu erleichtern. Die Zelle stinkt nicht nur durch ihren Schmutz und Ungeziefer, oder noch mehr als alles andere durch die Überfüllung, welche es unmöglich macht, in Ruhe zu essen und zu schlafen und keine Minute Ruhe gewährt. Die Gefängniskost dient demselben Zweck, den Nervösen müde zu machen: sie ist offensichtlich vitaminarm und enthält bald rote Bohnen, bald Weichgrütze. Ausserdem sind mehr als dreissig Untersuchungsbeamte notwendig, um die Stunden (?) zu finden, die dorthin geschickt werden, um die Zeugnisse zu unterschreiben. Das Hauptziel ist jedoch, die Gefangenen zu ermutigen, hochrangige Geständnisse zu machen.

     Was zuerst in die Augen fiel, war die aussergewöhnliche Masse der Gefangenen, ihre farblosen Gesichter, herabhängenden Bärte und Haare und schäbigen Kleider. Und doch waren die meisten in diesen Zellen nicht nur Intellektuelle, sondern die vordersten Spezialisten in ihrem Fach: anerkannte Namen und Persönlichkeiten. Da waren z. B. zwei Professoren der Leningrader Universität, einige Professoren und Instrukteure der technischen und ingenieurwissenschaftlichen Schulen, viele Ingenieure der verschiedenen ???-, Bahnangestellte und Flieger, Militärsoffiziere, Seeoffiziere und schliesslich Geistliche. 

      Auch Jungen waren in den Zellen. Zwei von ihnen, die die Welt sehen wollten, wie sie dieselbe aus Büchern erkannt hatten, hatten den klassischen Weg als blinde Passagiere auf einem Auslandsdampfer gewählt. Solche Versuche werden immer mit fünf bis zehn Jahren Gefängnis bestraft. Die Begründung, welche die GPU hat, ist folgende: Jeder Versuch, das Land zu verlassen, muss Spionage sein, denn wenn er erfolgreich ist, wird der Flüchtling, auch wenn er ein Kind ist, erzählen, was in U.S.S.R. vorgeht, und die Ausländer dürfen es nicht wissen.

     Während meines Weilens in dem Gefängnis auf der Schpalernaja waren in jeder Zelle immer von 10 bis 15 Personen, deren Fälle mit der Religion verwickelt waren. Die Verfolgung der Geistlichkeit, die mit den ersten Tagen seit der Ergreifung der Gewalt durch die Sowjets begann, dauerte fort trotz der weit ausposaunten Behauptungen von vollständiger Religionsfreiheit, welche die Sowjetunion dadurch zu beweisen sich bemühte, dass sie erleuchteten Ausländern, wie z. B. Bernhard Shaw, eine Kirche zeigte, die noch nicht zerstört war. Die Bürger der U.S.S.R. wussten sehr gut, dass die Geistlichen immer wieder festgenommen wurden. In unserer Zelle war ein Mann, dessen zwei Söhne, im Alter von 15 und 16 Jahren, auch in unserm Gefängnis sassen, während seine Frau in der Frauenabteilung sass. Ihr einziges Verbrechen bestand darin, dass sie Kirchengänger waren, aber ihre Lage war hoffnungslos, weil die Jungen unter Druck des Untersuchungsbeamten eine Erklärung unterzeichnet hatten, dass sie zu einer Organisation, d. h. zur Kirche, gehörten. Solches Zeugnis war mehr als genug, um sie zum Konzentrationslager zu verurteilen, denn in der U.S.S.R. wird jede „Organisation“ als konterrevolutionär betrachtet.

      Die Armen, welche von andern Ländern durch das Gerücht angelockt werden, dass in U.S.S.R. keine „Krisis“ sei, und die sich dahin auf Arbeit begeben, bezahlen oft teuer für ihre Leichtgläubigkeit. Unter denen, mit denen ich im Gefängnis zusammentraf, war ein Japaner, ein Österreicher, einige Mongolen und Tschechen, viele Finnländer, Esten, Letten, Polen und Deutsche.

     Die meisten gefangenen Ausländer waren Kommunisten oder Leute mit extrem radikalen Ideen, welche im Glauben an die Errungenschaften der proletarischen Revolution nach Russland gekommen waren, um dort Schutz vor der, nach ihrer Meinung, im eigenen Lande herrschenden Unterdrückung zu suchen.

     Unter diesen Ausländern war ein Abgeordneter des estnischen Parlaments, ein Kommunist. Er floh aus Estland, weil er Repressalien wegen seiner kommunistischen Ideen fürchtete, und landete direkt in der „Schpalernaja“. Der merkwürdige Teil der Geschichte war, dass er vor seiner Flucht aus Estland als Mitglied einer Delegation ausländischer Kommunisten gesetzlich nach U.S.S.R. gekommen war und genau die Zelle, in der er jetzt sass, als ein geehrter und distinguierter Gast besichtigt hatte. Er konnte sich nun selbst überzeugen, wie sehr die Gefängniswirklichkeit sich von dem unterschied, was man ihm gezeigt hatte.

Wie „Geständnisse“ erlangt werden.

      Die GPU hat viele Methoden, um aus ihren unschuldigen Opfern Geständnisse herauszupressen. Eines Tages wurde ich der „Stehprobe“ unterworfen. In unserer Zelle waren einige Männer, die sie hatten machen müssen. Einer, ein Graveur P., über 50 Jahre alt und stark gebaut, musste sechseinhalb Tage stehen. Er bekam weder zu essen und zu trinken, noch war ihm das Schlafen erlaubt. Er wurde nur einmal des Tages in den Abort geführt; aber er „bekannte“ nicht. Nach dieser Prüfung war er nicht imstande zu seiner Zelle zurückzugehen, und der Wächter schleppte ihn die Stufen hinauf. Der Ingenieur L., 60 Jahre alt, musste 42 Tage stehen und unterzeichnete schliesslich das „Geständnis“. „Nun, es ist interessant, sich selbst zu prüfen,“ dachte ich, als ich im Korridor vor der Tür des Untersuchungszimmers stand. Aber ich brauchte dort nur zwei Stunden zu stehen, und als ich dann doch verstockt blieb, wurde ich in die Zelle zurückgeführt mit der Drohung, dass ich hingerichtet werden würde. Die meisten Gefangenen werden mit der Hinrichtung bedroht, und eine grosse Anzahl wird in Einzelzellen gehalten und ihnen wird jegliche Verbindung mit der Aussenwelt abgeschnitten, jegliche Leibesbewegung und alle Bücher über ein Jahr lang entzogen.

     Häufig droht der Untersuchungsbeamte: „Ich werde Sie in der Läusezelle verfaulen lassen!“ Eines Tages kehrte in unsere Zelle ein alter Juwelier zurück, der vier Tage weg war. Er war in der Läusezelle gewesen. Nach seiner Aussage sind in der Zelle zwei bis dreihundert Personen eingepfercht und müssen dort eng aneinandergepresst stehen. Dazu kommt noch die Qual einer beständigen hohen Temperatur. Jedermann ist mit Läusen bedeckt, und ein Kampf mit ihnen ist unmöglich. In der Zelle ist keine Toilette. Die Gefangenen werden zu dritt unter starker Bewachung hinausgeführt. Männer und Frauen werden zugleich in denselben Abort geführt. Das geht so fort, Tag und Nacht. Die Unterkleidung derjenigen, die einige Tage in der Zelle verbracht haben, ist total verdorben und abgetragen, ihr ganzer Körper ist mit Läusebissen und einem Hautausschlag bedeckt. Die ganze Zelle kann vom Korridor aus übersehen werden. Den Leuten wird diese Zelle gezeigt, ehe sie zur Untersuchung geführt werden, und später, unter Drohung dorthin eingeworfen zu werden, geben sie all ihr Geld, Juwelen – irgendwas ab, um sich vor der Zelle zu retten. Die „nasse Zelle“ war ein anderes Zwangsmittel. Hier war der Fussboden mit Wasser überschwemmt, und das einzige Möbelstück war eine schmale Planke, auf der man eben sitzen, aber nicht liegen konnte. Dort gab es keine sanitären Bequemlichkeiten, und die Gefangenen durften sie unter keinen Umständen oder aus irgendeinem Grunde verlassen. Ihre Füsse mussten fortwährend in dem schmutzigen, faulen, mit Kot gefüllten Wasser stecken. Davon entstanden Geschwüre. Ich kannte einen Gefangenen, der ein falsches Bekenntnis ablegte, nachdem er sechs Tage in dieser „nassen Zelle“ gewesen war. Als ich die „GPU“-Fälle überblickte, welche ich im Gefängnis antraf, kam ich zu dem Schluss, dass ein „Geständnis“ dem Gefangenen keinen Vorteil gibt, weder während der Untersuchung noch später. Nur der Mann selbst, der da weiss, was für Qualen der Untersuchungsrichter für ihn erfunden hat, kann seinen Fall beurteilen. Wie kann man z. B. einen Professor der Schwäche beschuldigen, dass er sich ergab, wenn ihm durch das Pförtchen in der „heissen Zelle“ sein Weib und Tochter gezeigt wurden, wie sie nach Luft schnappten, auf dem Fussboden liegend und ihren Mund an eine Spalte unter der eisernen Tür pressend, um frische Luft einzusaugen?

 

Das Urteil

     Anstatt mich irgendeiner der oben beschriebenen gewaltsamen Methoden zu unterwerfen, hatte der Untersuchungsrichter die Gewohnheit, einmal nur nach zehn Tagen nach mir zu schicken und mich im Untersuchungszimmer vier bis fünf Stunden zu halten. Es war mir ein Rätsel, warum er so lange zögerte.

     Der dritte Monat verging, der vierte begann. Ich hatte mir eine Ausrüstung verschiedener verbotener, aber sehr nützlicher Gegenstände besorgt: eine kleine Gabel, die ein Geschenk eines Zellengenossen war, der deportiert worden war; ein Endchen Strick, um Ratten und Mäuse zu fangen; eine Biege, die nur in einem speziell zubereiteten Gemüse hatte, und ein Schachbrett aus altem Material verfertigt. Ich hatte mich an mein langes Haar gewöhnt und erlernte die Kunst, mich mit einem Stück Zinn oder Glas zu rasieren. Es schien, als ob die Zeit an einem schrecklichen Tage stillgestanden sei.

     Eines Morgens sandte der Untersuchungsrichter nach mir. Er sass hinter seinem Tisch und drückte seinen Bart grimmig. „Wenn Sie bei Ihrer Haltung beharren, bin ich genötigt, spezielle Massnahmen zu treffen. Ihre Frau wird arretiert und solange in Haft gehalten werden, bis Sie ein offenes Geständnis unterschrieben haben.“

     „Ich habe Ihnen gesagt, dass ich nichts zu bekennen habe. Ich respektiere die Erforschungsmacht der GPU zu sehr, als dass ich falsche Aussagen gemacht hätte.“ Ich wusste, dass diese Antwort ihn wütend machen würde. Darauf konnte er mir keine Antwort geben.

     Er sandte mich in meine Zelle zurück. Ich war in Verzweiflung. Ich hatte mich mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass ich sterben werde, aber hielt fest an dem Glauben, dass meine Frau und mein kleiner Sohn verschont bleiben würden. Nun ging alles in Stücke.

      Nach drei Tagen sandte der Untersuchungsrichter nach mir. „Gestern habe ich Ihre Frau verhaftet. Sie ist nun im Gefängnis auf der Schpalernaja.“

     Ich war still. Nur durch verstellte Gleichgültigkeit konnte ich ihr jetzt helfen.

     „Sie wissen doch, dass wir nicht sehr rücksichtsvoll mit denen sind?“ fing er an. „Nun, aber was kann ich damit machen?“ erwiderte ich.

     „Gehen Sie in Ihre Zelle zurück und überlegen Sie die Lage sorgfältig,“ sagte er, indem er einen Bogen Papier und einen Bleistift in die Hand nahm. „Schreiben Sie Ihr Geständnis nieder, und Ihre Frau wird unverzüglich befreit werden.“

     „Ich werde Ihr Papier nicht nehmen,“ heulte ich. „Was ist das für eine schreckliche Komödie? Schiessen Sie mich gleich! Ich bin von all dem müde, verstehen Sie? Schiessen Sie!“ „Nicht so rasch. Wir haben keine Eile. Ich gebe Ihnen drei Tage zum Nachdenken.“

     Es war noch nicht ein Monat vorbei, am 10. April, als er wieder nach mir sandte und nur kundgab, dass die Untersuchung meines Falles abgeschlossen sei. „Sie werden jetzt gehen und umsonst in Ihrem Murmansk arbeiten.“ Dann besann er sich und fügte hinzu: „Es sei denn, dass das Gericht beschlossen habe, Sie zu erschiessen.“ Es war zum erstenmal seit meiner Verhaftung vor einem halben Jahre, dass ich erfuhr, dass ich auch nicht erschossen werden könnte. Ich wurde in meine Zelle zurückgesandt und erwartete mein Urteil vollständig gleichgültig. Was ging es mich an? Meine einzige Sorge war meine Frau.

      Am 25. April trat der Gefängnisaufseher in meine Zelle, rief meinen Namen auf und las: „Auszug aus dem Protokoll der GPU-Sitzung vom 13. April 1931. Fall Nr. 2631 des W. W. Tschernawin. Urteil: Verschickung auf fünf Jahre in ein Konzentrationslager.“ Ich schrieb ein Telegramm, dass ich an meinen Sohn adressierte: „Wurde verurteilt. Wirke um eine Zusammenkunft,“ und gab es dem Aufseher. Ich war jetzt ein Sträfling – nicht mehr ein Bürger. Meine Genossen gratulierten mir. „Nur fünf Jahre Konzentrationslager! Sicherlich werden sie jetzt Deine Frau loslassen?“ Aber würden sie auch?

 

Ein Besuch von meinem Sohne

     Die Vorbereitungen zu unserm Abschub wurden eilig betrieben. Wenigstens hundert der Unsrigen wurden in Reih und Glied gestellt, um in die Badeanstalt geführt zu werden. Und gerade als wir losgehen wollten, kam der Aufseher mit einer Namenliste. Er rief 20 auf, mein Name war darunter. Eine Minute später, und wir wären in die Badeanstalt gegangen, und ich hätte meinen Sohn verfehlt.

     Wir zitterten vor Aufregung, als wir in ein grosses Zimmer geführt wurden, vor uns stand eine Stahlgitterwand. Ein Meter von dieser Wand entfernt war die zweite und dahinter standen die Besucher. Es gab ein fürchterliches Gedränge, alle waren verzweifelt bemüht, ihre Lieben herauszufinden. Alle wussten, dass nach zehn Minuten sie von ihnen getrennt werden würden, vielleicht für immer. Die Erregung und der Lärm machten eine Unterhaltung fast unmöglich. Die angestrengten und brechenden Stimmen der Frauen, das Schreien der Kinder – es war wie ein einziger erschreckender Schrei der Qual und des Abschiedes.

     In der Mitte des Chaos sah ich meinen Sohn. Er stand dicht am Gitter, sich mit aller Macht an ihm festhaltend, mir zuwinkend und mit einer braven Stimme zurufend. Fast rasend versuchte ich einen Gefangenen beiseite zu schieben, und eine Sekunde lang drehte er sich zu mir um, mit einem von Tränen überströmten Gesicht, die Hände krampfhaft am Gitter festhaltend. „Mutter ist im Gefängnis,“ gellte meines Sohnes Stimme durch das Getöse und den Lärm der Menschenstimmen. „Man lässt mich nicht zu ihr. Sie hat mir einmal einen Brief geschrieben.“ „Wirst die Mutter verschickt? Ich bin mit dir, ich werde so gross,“ entgegnete er; sein Gesicht verzog sich, und grosse Tränen traten ihm aus den Augen und rannten die Wangen hinab. „Hast du etwas Geld bekommen? Wovon lebst du?“ fragte ich. „Ich habe unsere Kamera verkauft.“ „Verkaufe, was du kannst. Sende, was du kannst, der Mutter. Wir schicken nichts. Jetzt horch mal aufmerksam her: Ich gehe nach Sibirien, verstehst du? auf fünf Jahre. Und merke dir: Ich habe kein Geständnis unterschrieben. Ich habe mich nicht ergeben.“ Ich schrie laut und wurde zu meinem Erstaunen inne, dass meine Stimme brach, dass Tränen über meine Wangen liefen. Die Besuchszeit war zu Ende. Wir wurden aus dem Zimmer getrieben. „Grüsse die Mutter! Gib acht auf sie! Auf Wiedersehen!“

 

Der Empfang in Solowki

     Am Abend des 2. Mai, nach sechstägiger Fahrt unter solchen Beschwerden, die auch das Vieh schwer überstanden haben würde, kamen wir auf der Insel Popow, dem zentralen Verteilungspunkt des Konzentrationslagers auf den Solowezki-Inseln, an. Über dem Tor zwischen den hölzernen Wachttürmen waren an einem Bogen folgende zwei Plakate angebracht: „Hoch lebe der 1. Mai, der Feiertag der Arbeiter der ganzen Welt!“ und „Willkommen!“

     Zu unserer ersten Mahlzeit brachte man zwei Eimer herein: einer enthielt „Hirsegrütze Kascha“, dünn und wässerig, und der andere „heisses Wasser“, das fast kalt war. Die Ration eines Mannes war etwas mehr als eine halbe Tasse voll.

     „Was ist das? – aber das ist ja der Tod! Ist es möglich, dass ein Mensch davon leben kann?“ erschallten die Ausrufe von allen Seiten. Nach einigen Minuten erschien der Kommandeur der Kompagnie. „Achtung! Wer beklagt sich über das Essen?“ rief er laut. „Ich werde keine Massenkundgebungen zu lassen! Ich werde die Schuldigen unverzüglich dem Untersuchungsdepartment übergeben. Dort ist die Unterhaltung kurz: Isolierung oder Tod.“ Er sah uns an, dann drehte er sich um und ging hastig.

     In der Reise hatten sich bei mir Symptome von Skorbut, Zahnfleischbluten und steifen Gelenken gezeigt; es musste etwas getan werden. Ein Nachbar und ich kauften zusammen ein Kilogramm verstockter geräucherter Heringe. Nach diesem Kauf blieben mir zwei Rubel übrig, und mein Nachbar, früher ein wohlhabender Petersburger Ingenieur, behielt noch drei und einen halben Rubel – unter günstigen Verhältnissen könnte dieses noch für zwei Mahlzeiten reichen. Vor uns stand der Hunger. Und in demselben Moment reifte in mir der Gedanke, dass ich nach Finnland entfliehen würde.

      Nach zwei Wochen Quarantäne wurden wir in eine Baracke übergeführt, in der dieselben Zustände herrschten. Schmutz, Kälte, Überfüllung und Bettwanzen mit dem Unterschied, dass sie ein ungeheuer grosses Plakat trug: „Arbeit ohne Schönheit und Kunst ist Barbarismus!“ – das Resultat der Wirksamkeit der „Kultur- und Aufklärungs-Departments“. Die Bauern versuchten in ihrer Unwissenheit dieses fremde Motto zu entziffern. „Barbarismus? Was bedeutet das, Genosse? Vielleicht wissen Sie es?“ fragten sie. Nun wurde uns erlaubt, innerhalb des Lagers zu spazieren und uns mit den Sträflingen der anderen Abteilungen zu treffen, unter denen neue waren, wie wir selbst, und auch alte Veteranen, die schon einige Jahre im Lager zugebracht hatten. Diese letzteren waren meistens Bauern, die in Holzfällereien gearbeitet hatten und plötzlich von dort fortgenommen wurden, wegen einer zu erwartenden amerikanischen Kommission, die gekommen war zu untersuchen, ob in den Holzfällereien wirklich Zwangsarbeit herrsche.

      Diese Bauern schilderten uns lebhaft die Panik und die Eile, mit der diese Liquidation vor sich ging. Ein spezieller Bote kam eilig zu den entfernten Lagern geritten, die inmitten der wilden Wälder lagen, übergab seine Botschaft dem Aufseher und sprengte weiter zum nächsten Lager. Es kam der Befehl, sogleich die Arbeit einzustellen, die Baracken abzubrechen und alles niederzureissen, was nur zu zerstören ging. Alles, was brennbar war, wurde dem Feuer übergeben. Ein spezieller Agent der GPU machte eine Inspektionsreise, um sich zu vergewissern, dass keine Spuren zurückgeblieben seien, welche andeuten könnten, dass Sträflinge und nicht freie Arbeiter hier gearbeitet hätten. Wenn ein Eisenbahnzug in der Ferne erschien, mussten die Sträflinge sich in den Sumpf legen oder im Schnee sich versteckt halten, bis der Zug vorbei war; die GPU hatte Angst, dass jemand aus dem Zugfenster gesehen werden könnte. Von Sklavenarbeit und Grossgeschäft.

      Heute versucht die GPU nicht mehr, das Vorhandensein der Zwangsarbeit zu verhehlen. Durch den kolossalen Zustrom von Sträflingen im Jahre 1930, infolge des Fehlschlages der „Kolonisation“, waren die Lager angefüllt mit Hunderttausenden Schädlingen, Kulaken und Unterkulaken. Es war der Sowjetregierung gänzlich unmöglich, solche Massen Sträflinge in isolierten Plätzen zu verstecken. Die „unerwünschte“ Öffentlichkeit fand ihren Weg über die Grenze, und die ausländische Stimme gegen die Zwangsarbeit in den Holzfällereien machte es schwierig, das Holz für ausländische Valuta zu verkaufen, die so unentbehrlich für die GPU war. Deshalb wurde diesen Lagern das Aussehen von Korrektionsanstalten für gefährliche Verbrecher gegeben und ihre erzieherische Bedeutung weit ausposaunt. Bis zum Jahre 1930 waren die Massnahmen für die Zwangsarbeit einfach: den Sträflingen wurde eine Aufgabe zuerteilt, und wenn sie nicht ausgefüllt war, mussten sie hungern, wurden geschlagen, gequält, getötet. Jetzt hat man eingesehen, dass die Tötung der Sträflinge geschäftlich nicht vorteilhaft ist. Warum die Arbeitskraft zerstören, die oft hoch qualifiziert ist, wenn man sie profitabel machen kann? Die industriellen Unternehmungen der GPU, die auf die Sklavenarbeit der Sträflinge aufgebaut waren, wuchsen von Jahr zu Jahr und wurden zu einem Faktor von entscheidender Wichtigkeit in dem allgemeinen wirtschaftlichen Betriebe der U.S.S.R. Es ist durchaus wahrscheinlich, zum Beispiel, dass die Holzoperationen der GPU diejenigen der freien „Holztrusts“ übertrafen. Der Wegebau war so ziemlich ganz in die Hände der GPU übergegangen.

     Die GPU in der U.S.S.R. ist nicht einfach eine staatliche Institution, sie ist faktisch ein Staat im Staate. Die GPU hat ihre eigenen Truppen, ihre eigene Kriegsflotte, ihr eigenes Territorium, wo die Sowjetmacht und Gesetze keine Wirkung haben. Sie hat ihr eigenes Geld, verbietet ihren Untergebenen Sowjetgeld zu gebrauchen und nimmt solches in ihren Läden nicht an.

 

Der Empfang in Solowki

     Als ich die Fischerei-Abteilung studierte, der ich natürlich als Sträfling-Spezialist zugeteilt war, frappierten mich einige eigenartige Merkmale, die ich entdeckte. Das angelegte Kapital war gering, die Produktionskosten ungewöhnlich niedrig, und die Profite ungeheuer. Bei einem Fang von 1400 Tonnen gewann das Unternehmen im Jahre 1930 einen Reingewinn von einer Million Rubel.

     In diesem Unternehmen sind keine wirklichen Bauten von kapitalem Werte. Eine Mechanisation der Arbeit fehlte gänzlich; alles wurde mit Händen gemacht. Eine Herabsetzung des investierten Kapitals spielte folglich fast keine Rolle beim Kostenüberschlag. Sklavenarbeit ist folglich das angelegte Kapital in den Unternehmungen der GPU; sie ersetzt die kostspielige Ausstattung und die Maschinen. Die Sträflinge-Sklaven brauchen keine Pflege, sie können in ungeheizten Baracken leben, die sie selbst gebaut haben. Sie arbeiten gleich gut, ob sie verdorbenes gesalzenes Pferde- oder Kamelfleisch essen. Und schliesslich ist der Sklave eine Universalmaschine; heute gräbt er einen Kanal, morgen fällt er Bäume, und den nächsten Tag fängt er Fische. Überdies ist der Zuschuss unbegrenzt. Das einzige Erfordernis ist eine wirksame Organisation, um ihn zur Arbeit zu zwingen. Das ist die „Spezialität“ der GPU.

 

Vorbereitungen zur Flucht

      Doch ich kehre zu meinem eigenen Problem zurück. Als ich der Fischereiabteilung zugeteilt wurde, entschloss ich mich, um Forschungsarbeit zu bitten, was Fahrten auf dem Meere und längs der Küste erforderte, die mir eine gewisse Bewegungsfreiheit gewährten und eine Flucht erleichterten. Deshalb schlug ich dem Chef der Lagerabteilung vor, mich vor Anfang des Winters abzukommandieren, um alle Fischereianlagen zu inspizieren und Bericht zu erstatten, zu gleicher Zeit auch einen Plan einer neuen Organisation auszuarbeiten für neue Arbeiten, wie z. B. die Verwertung der Fischabfälle. Ich dachte, eine neue Erweiterung des Geschäftes würde sie verlocken. Und ich hatte Recht. Mein Programm wurde durchberaten und herablassend genehmigt.

     Als ich von meiner ersten kurzen Besichtigungsreise zurückkehrte, erhielt ich ein Telegramm. Ich nahm es, schwer meine Erregung bekämpfend. Was konnte geschehen sein? „Kehre heim nach Hause zurück“, unterschrieben von meiner Frau.

     Es gab noch Glück in der U.S.S.R. Am zweiten November erhielt ich einen Brief von meiner Frau – sie hatte beschlossen, in den Norden zu kommen und zu versuchen, mich zu sehen. Ich wusste, dass es schwer halten würde, aber meine Arbeit hatte einen guten Eindruck gemacht. Ich beschloss, mir dieses zunutze zu machen, und reichte ein Gesuch ein um eine Zusammenkunft mit meiner Frau und meinem Sohne. Ich hatte mich nicht getäuscht, meine Vorgesetzten waren mit meiner Arbeit zufrieden, und sie erlaubten mir eine Zusammenkunft von fünf Tagen.

      Meine Frau kam mit unserm Sohn. Ich werde unser Zusammensein nicht beschreiben, da dieses meine Frau in ihrem Buche getan hat. Wir beschlossen, zusammen zu entfliehen und setzten das Datum auf das Ende des nächsten Sommers fest. Wir bestimmten auch den Platz, von dem die Flucht losgehen sollte, und den genauen Ort, wo wir uns treffen wollten. Meine Frau und der Sohn sollten an dem Ort an einem vorher festgesetzten Tage ankommen. Ich wollte dann entfliehen, sie dort treffen und sie dann zu der Grenze führen. Wir vereinbarten eine Geheimschrift für unsere Briefe, da alle Briefe vom Zensor der GPU gelesen wurden.

     Das Glück fuhr fort, mir in dem Konzentrationslager hold zu sein. Ich wurde „verkauft“ (um den Ausdruck zu gebrauchen, den die Sträflinge gewöhnlich anwandten, um diese Handlung der GPU zu beschreiben), d. h. ich wurde auf drei Monate als spezieller Lektor für eine Gruppe Studenten, als professionelle Fischer, angestellt. Das bedeutete, dass ich drei Monate lang unter mehr oder weniger anständigen Verhältnissen leben würde und Kraft für die Flucht sammeln könnte. Für diese Arbeit bekam die GPU fünf Rubel für jede Vorlesung, von denen, laut Regeln des Lagers, zehn Prozent für den Sträfling gehen sollten. Ich habe nie eine Kopeke erhalten. Vor mir lag nun die Aufgabe, ich auf eines der vielen Projekte des neuen Unternehmens zu konzentrieren, welches mir eine Arbeit im Norden zu einer günstigen Zeit sichern sollte. Ich beunruhigte mich nicht sonderlich wegen der technischen Seite dieser Projekte, sondern kümmerte mich um den Eindruck, die sie auf die GPU machen könnten – die Quintessenz des Bolschewismus. Die Tatsache, dass ich in den Norden gesandt werden wollte, in eine schwach besiedelte Gegend, die verhältnismässig nahe an der Grenze lag, würde natürlich Verdacht erregen; deshalb arbeitete ich ein Schema für das ganze Jahr aus, das eine Arbeit im Norden, im Süden und auch im offenen Meere vorsah. Dieser Trick gelang vollkommen.

      Meine Frau hat die Geschichte unserer Flucht erzählt, wie wir sie im kleinen Ruderboot anfingen, das ich selbst geflickt hatte; wie wir, ohne Kompass und Karte, über die wilden Berge, durch Wälder und über Sümpfe wanderten, nach Finnland und in die Freiheit. Wie hart meine eigenen Erfahrungen auch scheinen mögen, sie waren weniger schlimm als diejenigen der Mehrzahl der Gebildeten Russlands. Viele von denen, welche gequält und hingerichtet wurden, waren älter als ich und von grösserer Bedeutung für die Wissenschaft. Mein Urteil – fünf Jahre Zwangsarbeit – war weit leichter als die gewöhnlichen Strafen. Der Glaube der Russen an die Gerechtigkeit in der Welt mag kindisch scheinen, aber diese Gefangenen und ihre Familien, und die Witwen und die vaterlosen Kinder der hingerichteten „Schädlinge“ glauben noch – unterdessen –, dass die Welt nicht weiss, was mit ihnen passiert ist. Sie können es nicht glauben, dass eine christliche Zivilisation solche Grausamkeiten mit Wissen weiter zulassen wird.


Ende

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