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Erinnerungen aus dem alten und neuen Rußland

 

Von C. MARTENS, 1929 veröffentlicht
 

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Teil IX

eine weitere verhandlung

   

     Der Vorsitzende empfing mich sehr grob, und als ich mich nicht verantworten wollte, rief er: „Wissen Sie nicht, daß Ihr Leben in meinen Händen ist?

     „Das hat Pilatus auch einmal zu Jesus gesagt, und er antwortete ihm: Du hättest keine Macht, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre. Dasselbe kann ich Ihnen sagen. Und wenn Sie sich nicht dem Allmächtigen unterwerfen, und Gott die Herrschaft über Ihr Leben geben, wird es Ihnen ergehen wie einst Herodes, — den die Würmer fraßen."

      „Ehe mich die Würmer fressen, werden sie Sie fressen”, schrie er aufgebracht. Dann bat ich, mir die Anklage vorzulesen. Sie hieß: „I. Martens ist ein sehr gefährlicher Mann, der einen großen und falschen Einfluß auf das Volk hat. Dieser Mann hat es verstanden, von allen Organisationen, sogar von Behörden, Zeugnisse zu erlangen, um dieselben zu mißbrauchen und die Masse von der Bahn des Kommunismus zur Religion zu verführen. Als ein Prediger der evangelischen Bewegung Rußlands muß er strenge zur Verantwortung gezogen und bestraft werden.

    Dann fing das Verhör an, das mit Unterbrechungen acht Stunden dauerte. Die alten Fragen wurden wieder gestellt und schließlich meinte der Vorsitzende: „Werden Sie noch Fortsetzung mit Ihrer Propaganda- und Predigttätigkeit machen wollen?" „Ich will nicht nur Fortsetzung machen, sondern bin durch das Gefängnis so gestärkt worden und habe so viel Mut und Freudigkeit gewonnen, daß ich doppelt, ja mit allen Kräften für Jesus, für den ich lebe und zu sterben bereit bin, werben werde. Erlauben Sie mir, daß ich zwei bis drei Tage aus dem Gefängnis hinausgehe, um drei bis sechs Versammlungen in der Stadt zu halten. Bitte kommen Sie und hören Sie zu und überzeugen Sie sich von dem Inhalt meiner Predigten. Ich glaube fest, wenn Sie ein oder zwei Stunden unter dem Schall des Evangeliums sitzen, das ich Ihnen verkündigen werde, dann werden Sie sich diesem großen Herrn aller Welten und Heerscharen zu Füßen werfen und Ihn anbeten. Dies Evangelium vor der Rettermacht Christi schenkt die Hoffnung und Freude des ewigen Lebens und macht die Ärmsten reich und die Bösen gut. Erlauben Sie es mir!"

     Da ich in diesem Sinne ohne Furcht weiter sprach, schrie er: „Das langt zu, daß man Sie verurteilt. Ihre Frechheit und Ihr Fanatismus ist wie eine verheerende Krankheit, dem müssen wir ein Ende machen. Wir haben bereits angefangen, solche Leute wie Sie schadlos zu machen, damit Sie nicht nicht noch mehr Menschen verwirren und anstecken können. Nun versuchen Sie doch, auf mich zeigend und hin- und herlaufend rief er es mir höhnisch zu, „versuchen Sie draußen zu predigen, können Sie das jetzt? Nein, das können Sie nicht und werden es auch nie mehr vermögen. Wir werden mit Ihnen fertig werden und Sie sollen nicht mehr die Religion, dies Opium für das Volk, verbreiten. Sie haben alle Hände voll Blut, Sie haben die Menschen ausgebeutet, um Ihretwillen mußten wir die Revolution anrichten, um frei zu werden, und wir müssen Sie ganz und gar entwaffnen."

     Ich schwieg. Anderthalb Stunden schrie er mich an, dann sagte ich ihm ruhig: „Pilatus und Herodes sind bis heute im Andenken der Menschen geblieben, weil sie Jesus getötet haben. Aber Sein Werk haben sie nicht vernichten können. Christus lebt heute viel stärker unter den Menschen als zu Seiner Erdenzeit. Millionen bekennen heute seinen Namen. Dazu haben Pilatus und Herodes beitragen müssen, und ich sage Ihnen: Mir können Sie auch nicht mehr tun, als Gott zuläßt, aber diese meine Gefangenschaft predigt."

      Wiederum wurde ich unterbrochen: „Dafür haben wir doch Beweise, daß es keine Folgen hat, wenn wir euch hinrichten. Wir haben eine ganze Reihe von euren Anhängern beseitigt und sie schweigen und niemand bekehrt sich."

     „Ja, lieber Mann, Sie wissen eben nicht, was in den Herzen der Menschen vor sich geht. Ich kenne den X. gut, der unschuldig hingerichtet wurde”.

     „Die Regierung richtet unschuldig hin? Also beschuldigen Sie die Räteregierung! Sie sind ein Konterrevolutionär!”

     „Nein, ich verteidige nur meine Überzeugung und die meiner Brüder. Auch ich bin bereit, für Jesus zu sterben. Jene leben und werden ewig leben."

     „Wir werden mit euch Christen aufräumen, das versichere ich Ihnen. Wenn die Welt es bis dahin nicht fertiggebracht hat, wir werden es fertigbringen.

     „Nero war ein Mann voll Blut und Rache gegen das Christentum und hat Tausende hinrichten lassen, verbrannt und vor die Löwen geworfen. Und Ihr seid kein Nero. Unsere Regierung ist eine religiös freie Regierung, sie hat uns die Freiheit gebracht und auf sie berufe ich mich und sage in ihrem Namen, es wird euch nimmer gelingen, das Christentum zu besiegen. Reichtum, Ehre und Menschen kann man vernichten, aber nicht das Evangelium Christi und die Christus angehören."

     Da wurden auch die drei anderen Kommissare unwillig und sagten zum Vorsitzenden: „Brich mit ihm ab, er ist zu frech, und wir haben Material genug. Er soll nur die gestellten Fragen beantworten und das Protokoll unterschreiben. Wir müssen den Vogel wieder einsperren, und er kann die Entscheidung, die schwer genug für ihn sein wird, abwarten.

     Ich wurde weiter gefragt, wodurch die Erweckungen entstanden seien. Nun erzählte ich froh alle meine Erlebnisse auf meinen Missionsreisen, und als ich bis zu dem Ort kam, da mir die Behörde einen großen Saal gab, sprangen alle wie ein Mann auf und riefen: „Was brauchen wir des Zeugnisses mehr. Auch die Behörde hat er bezaubert und in sein Netz gezogen, sogar die Polizei steht ihm zur Verfügung, und wer weiß, wieviel Militär er verführt hat, und eines Tages erhebt er sich gegen uns. In kurzer Zeit hat er Tausenden ehrlicher Sowjetbürger den Kopf verdreht, und sie haben der Ssowjetregierung den Rücken gewandt und sind ihm zugefallen. Was bedürfen wir mehr des Zeugnisses?”

     „Nein”, sagte der Vorsitzende, „wir müssen noch mehr feststellen.” Und er fragte: „Nun, jetzt predigen Sie wohl sehr?" „Ja”, sagte ich, „ich sagte es ja schon, mein Gefängnis predigt. Ich habe Nachricht bekommen, daß für mich gebetet wird, daß der Herr Ihr Herz erweichen möchte und Sie mich freilassen sollen. Auch hat mich sehr erquickt, daß schon sechsundzwanzig Seelen durch meine Gefangennahme bewegt wurden, sich zu Christus zu wenden, die auf andere Weise wohl nicht gekommen wären.

      Da warf er seinen Rock ab, lief hin und her und wußte nicht, was er sagen sollte. Ich saß ja schon im Gefängnis, und dies waren die Folgen davon.

    „Nun, wir werden mit euch fertig werden.” „Niemals”, sagte ich, „dazu seid Ihr nicht imstande. Mich beseitigen heißt mein Leben nehmen, aber das, was ich gepredigt habe, könnt Ihr nicht wegnehmen.

    „Ja, das werden wir!” „Nun, dann nehmen Sie einmal die sechsundzwanzig Seelen, die bekehrt worden sind und stecken Sie diese ein, wie ich es erfahren muß. Sie werden sehen, daß auch durch diese wieder eine ganze Reihe sich zu Christus wenden, und je mehr Ihr ins Gefängnis steckt, desto mehr Menschen lernen glauben an den allmächtigen Gott. Nichts könnt Ihr machen, Ihr seid ganz ohnmächtig dem Wirken Gottes und solchen gegenüber die in Christus Jesus ewiges Leben und Frieden gefunden haben”.

     Da wurde er etwas weicher. „Aber hier im Gefängnis versuchen Sie mal, Menschen zu verdrehen und auf Ihre Seite zu bringen." „Auch das ist geschehen", sagte ich, „und ich freue mich, daß ich schon täglich in unserer Zelle Andachten halten, beten und singen kann. Und einer eurer Kommunisten betet auch schon."

    Wiederum war der Böse losgelassen. „Wer, wer ist das? Sie treiben Propaganda! Sagen Sie uns den Namen!"

     „Ich bin kein Verräter. Sprecht selber mit ihm, und Ihr werdet es erfahren."

     Dann kam er auf die Kinder zu sprechen. „Sie haben auch den Kindern den Kopf verdreht und verwirren wohl auch Ihre eigenen Kinder?" „Meine Kinder sind meine Kinder, und ich erziehe sie in der Furcht Gottes. Die gebe ich und mit mir alle überzeugten Christen nie ab. Wir danken Gott, dem Schöpfer, daß wir sie nicht halb nackend auf den Bahnen und an den Zäunen herumliegen sehen, wir danken dafür, daß unsere Töchter sich nicht auf den Straßen herumtreiben und ein Lasterleben führen, und daß sie eine Ordnung kennen. Ihnen werden wir predigen und nie davon ablassen, sie zu ermahnen und zu lehren."

     Der Vorsitzende wurde sehr erregt und versuchte lange, mir zu beweisen, daß ihre Ideen richtig seien. Dann bat ich um die Erlaubnis, ihn etwas zu fragen: „Sie müssen mich aber auch ausreden lassen." „Ja, das dürfen Sie!" „Sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben?" fragte ich nun. „Können Sie ruhig schlafen? Wie leben Sie in Ihrem eigenen Hause? Ich möchte Sie alle vier fragen, sind Sie sich mit Ihren Frauen immer einig oder streiten Sie sich herum? Aber seid ehrlich. Geht es mit euren Kindern nach eurem Wunsch? Leben sie so, wie Ihr es in eurem Programm habt, oder müßt Ihr eure Kinder auch erziehen? Wissen Sie auch, wie groß die Prostitution in Städten und Dörfern ist? Und wie sieht es unter den Kindern aus? Sie kommen belastet zur Welt, sie stammen von Eltern, die ein sittenloses Leben führten, sie treiben sich auf den Straßen herum und lernen das Schlechteste. Sagen Sie mir aufrichtig, finden Sie das unter wahren Christen? Können Sie mir ein Haus von Gläubigen nennen, wo es so zugeht?"

    „Ja, ja, das können wir, wir wissen eine ganze Reihe. „Nein”, sagte ich, „die Ihr aufzählt, sind aus der Gemeinde wegen ihres unsittlichen Lebens ausgeschlossen. Es sind unaufrichtige Menschen, die sich den Gottlosen zuwenden und kein Gewissen besitzen. Darum haben sie auch keine Macht über ihre Kinder. Aber unter den wirklich gläubigen Russen finden Sie das nicht. Wenn der Staat nur solche Männer hätte, brauchte man keine Polizei und hätte Frieden im ganzen Reiche."

     „Ihr raubt den Kindern die Freiheit und sperrt sie in einen Käfig ein. Durch unsere Gesetze haben wir sie endlich befreit. Die Kinder haben nun das Recht, selbst über sich zu bestimmen und sich von den Eltern nicht mißhandeln zu lassen, der Staat reicht ihnen die Hand dazu."

    Wir sprachen noch länger darüber, bis das Protokoll fertig war, das ich unterschreiben sollte. Unter dem harten Druck schrieb ich: "Die und die Sätze entsprechen nicht der Wahrheit, sie sind geschrieben, um mich zu beschuldigen, und ich unterschreibe nur deshalb, weil ich es tun muß." Dieses Protokoll zerriß der Vorsitzende und ließ ein neues anfertigen. Auch dieses zerriß er, und das dritte warf er zur Seite. Dann ließ er mich wieder einsperren. Seine Kollegen aber waren nachdenklich geworden, und ich merkte, daß sie auf meine Seite traten und mich liebgewannen. Nur einige Tage blieb ich noch in meiner alten Zelle, dann wurde ich in die Diebeszelle gebracht. Man verschlechterte wohl meinen Aufenthalt, um mich gefügig zu machen.

 

IN DER DIEBESZELLE

    Meine neuen Zellengenossen waren sehr roh. Die meisten saßen wegen Diebstahl oder ähnlicher Verbrechen, und ihr Handwerk übten sie auch hinter den Gefängnismauern weiter aus. Nichts war ihnen heilig, nicht einmal das Leben der Mitgefangenen.

     Die Szenen, die ich erlebte, waren grauenhaft und haben einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Mir selbst tat zwar niemand ein Leid an, denn auch hier gewann ich ihre Herzen durch meinen Gruß und mein Eingehen auf ihr Leben, und alle nahmen mich in ihren Schutz. Auch wurde eines Tages ein „Bekannter”  in die Zelle gebracht, der scheinbar eine Autorität unter den Dieben war und viel zu sagen hatte, denn er trat sehr sicher und selbstbewußt auf, sprach mit diesem und jenem und führte das große Wort. Als er meine Stimme hörte, kam er auf mich zu, drehte mich ins Licht und rief:

     „Sind Sie das? Wie kommen Sie hierher?

     Er schüttelte mir herzhaft die Hand, und als ich nicht gleich wußte, woher er mich kannte, fragte er:

     „Sie sind doch der Mann, der mich am Rostower Bahnhof freiließ, als wir Ihnen die Koffer stahlen?

      „Ja, der bin ich!

     In der Hungersnot hatte ich mit meinem Schwager eine Reise gemacht und wir trugen vier Koffer bei uns. In R. war der Bahnhof sehr voll, und in dem furchtbaren Gedränge überfiel uns mitten in der Menschenmenge in Gegenwart der Polizei eine Diebesbande, riß uns die Sachen aus der Hand und suchte das Weite. Ich lief einem Dieb nach, er verschwand hinter dem Waggon, ich kroch unten durch und erfaßte ihn noch so fest am Kragen, daß er sich nicht losreißen konnte. Der Gefangene bat:

     „Lassen Sie mich los, ich werden Ihnen noch einen sehr guten Dienst tun. Und wenn Sie mich nicht freilassen, nützt es Ihnen auch nichts, denn die Sachen bekommen Sie nicht wieder."

    Nun stand der Dieb im Gefängnis vor mir und sagte: „So, jetzt kann ich Ihnen meinen Dank abstatten. Wenn Sie in ein anderes Gefängnis kommen, werde ich dafür sorgen, daß die Verbrecher Ihnen nichts tun.

     Und er wurde weich und bat mich sehr um Verzeihung. Sein Versprechen hat er gehalten, solange er lebte, denn die Gefangenen haben untereinander eine geheime Verbindung und vermitteln ihren Kameraden Nachrichten. Wie sie es machen, weiß ich nicht, jedenfalls gelingt es ihnen.

     Das Zusammentreffen mit diesem Dieb war wohl nicht umsonst.

     In der Zelle waren noch zwei Geistliche und ein Chlyst (Anhänger einer in Rußland weit verbreiteten Geheimsekte innerhalb der orthodoxen Kirche), die sich an meinen Unterhaltungen mit den Dieben ärgerten. Besonders ein Abt, der Vorsteher eines bedeutenden russischen Klosters, wurde mein Feind und suchte im geheimen die Diebe gegen mich aufzuhetzen. Aber was der Mensch sät, das muß er ernten, das erlebte auch dieser Mönch. Was er mir wünschte, traf ihn. Es war mir gelungen, durch Gläubige am Ort mit Eßwaren, welche man mir brachte, auch ein Neues Testament zu bekommen.

      Daraus las ich den Gefangenen jeden Tag einen Abschnitt vor und erklärte ihn. Der Mönch widersprach aber wo er konnte, und das ärgerte meine Freunde, die Diebe. Eines Abends merkte ich allerlei geheime Vorbereitungen. Ich legte mich bald hin und schlief ein. Plötzlich erwachte ich durch ein sonderbares Poltern und Getöse. Ein Gefangener stellte sich wahnsinnig, tobte und schrie, spuckte und ging zu den Lagern und schleppte die Gefangenen weg. Auch seine Kameraden holte er, damit niemand denken sollte, daß er sich nur tobsüchtig stellte. Schließlich kam er auch zu dem Geistlichen und dem Chlyst und trug sie von ihrem Bretterlager fort. Mit brüllender Stimme befahl er ihnen, sich ganz auszuziehen. Die anderen Diebe gesellten sich dazu. Dann schrie er sie an:

     „Du hast meine Hosen gestohlen, du hast mein Hemd gestohlen, her damit!" Die anderen beteiligten sich auch an dem grausamen Spiel und wurden sehr grob. Wer sich weigerte, die Befehle auszuführen, wurde fürchterlich geschlagen. Dann befahl der Tobsüchtige den Geistlichen, sich hinzusetzen, sie mußten singen, und wenn sie es nicht taten, wie es ihm paßte, schlug er mit der Faust unter ihr Kinn, daß sie sich die Zunge blutig bissen. „Gott erbarme dich", schallte es jämmerlich dreistimmig durch den Saal. Dann mußten sie sich bekreuzen, für jeden beten, springen und tanzen.

      Mir taten die armen Geistlichen leid, aber ich durfte mich nicht rühren. Sie mußten außerdem so tun, als ob sie Kinder beerdigen, taufen, Sünden vergeben, Beichte entgegennehmen, und wenn sie es nicht gut machten, ließ er sie die Zeremonien wiederholen.

     Eines Tages wurde der Kommunist aus dem Geschäftszimmer der G.P.U., der immer bei meinen Vorträgen zugegen war, von dem Bevollmächtigten des Vorsitzenden in unsere Zelle hineingesetzt, und nach einiger Zeit kam auch der zweite. Als ich sie fragte, was das zu bedeuten habe, sagte sie mir:

     „Wir haben alles mögliche getan, um Sie zu befreien und in der Kommission für Sie gesprochen, dadurch sind wir in den Verdacht gekommen und auch eingesteckt worden”. So saßen hier vier Kommunisten in unserer Zelle, aber jeder durfte nur einige Stunden in der Abteilung bleiben, denn die Gefahr war für sie zu groß, die Diebe schonten ihre Feinde nicht. Einen schrecklichen Beweis dafür hatte ich selbst eines Tages miterleben müssen.

     In unserem Räume saß gerade ein Kosak, der in der Stanitza X, Dorfvorsteher gewesen war, als eine große Zahl von Kosakenangehörigen hingerichtet wurde. Ein zweiter Kosak aus diesem Dorfe wurde eines Tages hereingebracht und erkannte den Schuldner der Greueltaten, denn er hatte die Dorfbewohner verraten. Er erzählte es mir leise und ging auch zu den Dieben und sagte es ihnen. Abends ging ein Gefangener zu dem Kommunisten und schrie ihn an:

     „Warum hast du mich verraten?"

     Der schaute ihn erstaunt an und meinte:

     „Ich kenne dich überhaupt nicht!"

     „Wie", sagte der Dieb, „du kennst mich nicht? Du hast mich verraten und weißt das nicht?"

     Und der zweite kam hinzu und sagte: „Du hast mich verraten", und der dritte rief: „Deinetwegen sind meine Verwandten erschossen worden."

     So dachten sie sich Verschiedenes aus, womit sie ihn beschuldigten. Der Dorfbewohner verteidigte sich eifrig und wurde böse. Da gaben sie ihm einen Stoß, er wollte sich wehren, aber vergebens.

     Mein Lager befand sich neben dem Fenster im Hof, der von einer hohen Mauer umgeben war. Meine Kameraden im Gefängnis kannten mich bald alle, da ich ja in mancher Zelle gesessen hatte. Abends klopfte es leise ans Fenster:

     „Genosse, haben Sie vielleicht einen Brief, den ich besorgen soll?”

     Im Dunkel sah ich einen Schatten, ein Rotgardist stand vor dem Gitter. Mir war die Frage nicht ganz geheuer. Sollte das eine neue Falle sein. Zaghaft nahm ich Bleistift und Papier, das er mir zureichte, und schrieb einige Zeilen und gab sie ihm. Und siehe, er brachte mir Antwort. Nun schrieb ich oft Briefe von hier aus und erhielt Bestätigungen, daß sie ankamen. Mein Bote hat sie treu besorgt und mir die Antworten überbracht. Es war mir eine große Freude, auf diese Weise auch von meinen Angehörigen und den Gläubigen Nachricht zu erhalten.

 

IN DER HAUPTSTADT DES KAUKASUS

    Die G.P.U. erreichte mit mir nicht, was sie wollte, ich berief mich immer auf die Gesetze, und sie fanden keine Ursache, mich zu verurteilen. Da versuchten sie es auf andere Weise, ihr Ziel zu erreichen, und gingen sehr entschieden darauf los.

     „Wir werden Sie freilassen, denn Sie sind unschuldig, wir haben Sie gut geprüft, Sie sind kein Heuchler”, sagten sie, als ich das nächste Mal zum Verhör erschien. „Das gefällt uns, daß Sie uns so ehrlich die Wahrheit sagen."

     Und sie fingen an, mich zu loben und boten mir alle Rechte an, die ein Sowjetbürger haben kann, wenn ich mich in ihren Dienst stellen würde.

     "Wir versprechen Ihnen ein gutes Gehalt" sagte der Vorsitzende.

     „Nein, darauf kann ich nicht eingehen", erwiderte ich.

     „Allerdings, das dürfen Sie auch nicht, weil Sie ein Prediger sind, das ist kein Platz für Sie. Aber erstatten Sie uns Bericht über alle Prediger, teilen Sie uns mit, wer aus den Gemeinden ausgeschlossen oder in dieselben aufgenommen wird, schreiben Sie uns ihr Vorleben und ihren Stand auf, was sie besessen haben, wie ihr Einfluß gewesen ist, ob sie sich geändert haben. Dafür bezahlen wir Ihnen ein gutes Gehalt."

     Auch hierauf erwiderte ich:

    „Nein, ich bin kein Verräter, daß ich meine Brüder in Ihre Hand gebe."

    Und der Kampf war wieder da. Nach allen Versuchen brachten sie einen Haufen Geld, legten es vor mich hin und sagten:

     „Das dürfen Sie auch nicht tun, aber reisen Sie für uns, agitieren Sie und loben Sie unsere Regierung in Ihren Predigten. Das Geld geben wir Ihnen zu Ihrer Unterstützung und für Ihre Reisen und Versammlungen. Wir geben Ihnen unumschränkte Vollmacht, daß alles Ihnen zu Diensten steht und Sie so frei Gottesdienste halten können, wie kein anderer, wenn Sie für uns sprechen."

    „Wir predigen nicht von der Sowjetregierung, nicht von Kaiser und Königen, wir predigen von Jesus Christus. Wir verkündigen den Menschen nicht Wohlergehen auf Erden und Reichtümer, sondern das Heil der Seele und ein ewiges Leben."

    Da sie sahen, daß mit mir nichts anzufangen war, wurde ich in einen Raum gebracht, den ich nicht beschreiben kann. Ich mußte unter Todesstrafe versprechen, daß ich keinem Menschen davon sagen würde, sonst brächten sie mich unbarmherzig ums Leben. Ich habe in Rußland auch niemandem etwas davon erzählt, selbst meine Angehörigen haben es nicht erfahren. Acht Stunden verbrachte ich in einer stinkenden Hölle, und als ich herausgelassen wurde, war ich dem Wahnsinn nahe. Meine Gedanken fingen an, sich zu verwirren, und ich konnte nicht allein die Treppe hinaufgehen. Man führte mich in meine Zelle, und dort lag ich auf meinem Lager und schüttelte mich vor Grauen und Ekel. Das waren die dunkelsten Stunden, die ich während der Zeit meiner Gefangenschaft erlebte. Ich war der Verzweiflung nahe. Aber Gott in Seiner Gnade ließ mich nicht an Seiner Liebe irre werden. Er brachte mich gnädig durch diese dunklen Stunden hindurch und erquickte meine Seele durch Seine wunderbare Nähe, so daß ich sie überwand und wieder Freude am Leben und an meinem Dienst im Gefängnis behielt. Ihm sei Lob und Dank dafür.

    Dann machte man Daumenabdrücke, und ich wurde aus der G.P.U. ins Stadtgefängnis geführt, um von dort weiter in eine größere Stadt des Kaukasus gebracht zu werden. Ich mußte warten, bis mehrere Gefangene zusammen kamen, um mit einem Güterzuge dorthin zu kommen. Im Stadtgefängnis war es etwas freier, ich durfte auch Besuch empfangen, und da es den Geschwistern gelang, soviel Geld aufzubringen, daß ich meine Reise und die Fahrt für meine Wache selbst bezahlen konnte, ließ man mich allein als Arrestant fahren. Ich erhielt einen sehr freundlichen Begleiter, der mich sogar bei Gläubigen für eine Nacht wohnen ließ, damit ich nach Hause schreiben konnte.

     Dann reisten wir nach X. Auch hier machte der Begleitmann es möglich, daß ich eine Nacht bei Gläubigen verbringen konnte.

     Meine Sache stand sehr ernst, denn bei der höheren Instanz waren die Behörden sehr scharf. Man mußte so vorsichtig sein, jedes Wort wurde auf die Wagschale gelegt. Das erste Verhör verlief gut. In der Zelle ging es sehr streng zu, sie war scharf bewacht und ganz abgeschlossen von der Außenwelt. Nur das Essen, das Freunde uns brachten, ließ man herein. In der Zelle wohnten elf Personen, alles studierte Männer, Ärzte, Juristen, und auch der gewesene Charkower Vizegouverneur. Als ich eintrat, sagte ich:

     „Guten Tag, Kameraden!" Alle legten die Löffel weg — denn sie aßen gerade ihre Suppe aus Blechschüsseln — und schauten mich an. Ich reichte den Anwesenden die Hand und fragte nach ihrem Ergehen.

     Die Gefangenen standen alle unter politischer Anklage. Sie gaben mir gleich einen Löffel, und ich setzte mich zu ihnen und unterhielt mich während des Essens mit meinen Nachbarn. Plötzlich stand ein Gefangener auf und rief:

      „Was, sind Sie ein Bruder, sind Sie ein Bruder?"

      „Nun, wer bis du denn?" fragte ich.

      „Ich bin um meiner christlichen Überzeugung willen im Gefängnis. Ich habe das Gewehr abgelegt. Sie wollten es mir mit Gewalt aufzwingen, aber ich sagte: Dann schieße ich Sie zu allererst tot, denn es ist vor Gott einerlei, wen ich töte, ob einen Kommissar oder einen Feind. Jesus hat gesagt: Stecke dein Schwert in deine Scheide, und ich habe es beiseitegelegt. Darum bin ich verhaftet worden."

      Hier verlebte ich eine schöne Zeit, wir hatten sehr angeregte Unterhaltungen mit den Männern und viel Gelegenheit, von Jesus zu zeugen. Für mich war es eine Erholung, nach Monaten unter fluchenden rohen Dieben gebildete Menschen als Umgang zu haben.

      Unsere Zelle war sauber und hell, wir hatten auch Betten, zwar ohne Matratzen, nur mit Strohsäcken, aber man lag nicht so hart wie auf den Bretterpritschen. Das einzige Unangenehme waren die vielen Wanzen, die uns nachts furchtbar quälten.

     Zwei Monate verbrachte ich in diesem Gefängnis und wurde aus einer Zelle in die andere gebracht, damit ich nicht propagieren könne. In einer Nacht um halb zwölf rief man mich ins Geschäftszimmer.

     „Es ist etwas los!" riefen alle Zellengenossen, als sich die Tür öffnete und ein Tschekist erschien, „in dieser Nacht werden wir womöglich hingerichtet."

    Große Aufregung herrschte in der Zelle. Als ich dann aufgerufen und herausgeholt wurde, wollten alle Abschied von mir nehmen im Bewußtsein, daß ich nicht mehr zurückkommen würde, aber ich war ganz ruhig und fest überzeugt, daß es nicht zum Tode ging. In Begleitung von zwei Wachen wurde ich in einen sehr schönen Saal gebracht. Die Tschekisten saßen um einen Tisch, der Gehilfe des Vorsitzenden war ein Priester im langen Gewand mit langen Haaren.

     Das Verhör war gut vorbereitet, sie hatten ein Konzept ausgearbeitet, nach dem sie die Fragen stellten. Ich sagte zum Vorsitzenden:

     „Genosse Vorsitzender, ich würde Sie bitten, mich nicht nach einem Konzept zu fragen. Ich beschäftige mich nicht mit Politik, fragen Sie mich auf religiösem Gebiet, denn wegen religiöser Tätigkeit bin ich angeklagt worden. Da werde ich Ihnen keine Antwort schuldig bleiben."

     So sehr sie auch mit Drohen auf mich eindrangen, erwiderte ich nur:

     „Es tut mir leid, liebe Bürger, daß ihr um meinetwillen so spät aufsitzt, denn ich bin kein Verbrecher und predige nur, was ich euch auch sage: Bekehrt euch zu Gott! Dann braucht ihr nicht des Nachts aufzusitzen und Menschen verhören." Obgleich alle sehr höhnisch lächelten, ließen sie mich doch ausreden.

    Da ich aber auf keinerlei Weise auf ihre Fragen einging, gab der Vorsitzende dem Bevollmächtigten einen Wink, mich auf religiösem Gebiet zu verhören. Der Priester holte eine große russische Bibel und fragte mich, ob ich alles glaube, was in ihr geschrieben stehe.

Ja, ich glaube alles, vom ersten bis zum letzten Blatt, denn viel von dem, was in ihr steht, habe ich selbst durchlebt.

    „Aber sie widerspricht sich doch, und die Menschen können nicht so leben, wie die Bibel lehrt.

     „O”, sagte ich, „die leben genau so, wie es dort beschrieben steht, sie leben in Sünde und Schande, und Gott sucht sie aus ihrem Elend zu erlösen. Denn sie handelt von Gott und der Sünde in der Welt.

    „Nein”, sagte er, „die Bibel widerspricht sich.

     „Nicht die Bibel widerspricht sich, sondern das Leben der Menschen widerspricht der Bibel.”

    „Nun, ich werde Sie gleich überführen”, meinte der Priester. „Was glauben Sie, hat Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen?

    „Ob es nach unserer Zeitrechnung sieben Tage oder sieben Millionen sind, das ist mir gleich und macht mir keinerlei Kopfschmerzen, denn ich habe einen Gott, vor dem tausend Jahre wie ein Tag sind.”

    „Also glauben Sie auch wie wir.”

    „Nein, nicht wie Sie, sondern wie die Bibel lehrt.”

    „Also diese Frage ist gelöst”, sagte der Priester, „Sie glauben auch nicht an die sieben Tage.

    Dann fragte er: „Aber dieser Gott widerspricht sich ja, er hat nicht gut rechnen können und hat wohl nicht gewußt, daß es Kommunisten geben würde, die besser rechnen können als er und die ihn korrigieren würden. Gott sprach doch: Es werde Licht, und es ward Licht.

Und dann steht geschrieben: Nach vier Tagen schuf er Sonne, Mond und Sterne. Das widerspricht sich ja ganz und gar. Wo sind denn die vier Tage gewesen? Licht kann man doch nicht in Licht schaffen."

     Ich sagte: „Das ist sehr einfach. Gott selbst war das Licht, und Er gab der Erde Gesetze durch Sonne, Mond und Sterne.

    Bei diesem Gebiete blieben wir längere Zeit stehen, und dann fragte er:

    „Wo war denn dieser Gott vor Grundlegung dieser Welt und des ganzen Weltalls?

     Ich stellte die Gegenfrage: „Glauben Sie nicht an Gott?"

     „Nein, durchaus nicht."

     „Also gibt es keinen Schöpfer?"

     „Nein!"

     „Gut, ehe ich Ihnen antworte, wo Gott war, frage ich Sie: Wo waren Sie denn, wo kommt der Mensch her? Irgendwoher müssen wir doch stammen!"

     Es gab ein langes Gespräch, aber der Vorsitzende brach ab, da er merkte, daß sein Kollege nicht fertig wurde.

     Der Priester stellte dann andere Fragen:

     „Woher hat Kain seine Frau genommen? Wie konnte Josua Sonne, Mond und Sterne anhalten? Wie konnte Jona in den drei Tagen im Bauche des Walfisches leben?" und andere.

„Um die Fragen nicht einzeln durchzunehmen, wünschen Sie vielleicht, daß ich auf alle zugleich antworte?" fragte ich.

     „Ja, ja, das ist gut, damit es schneller geht, beantworten Sie nur auf einmal."

     In diesem Augenblick wurde der Vorsitzende der Tscheka so erregt, daß er aufsprang und den Kollegen anschrie:

    „Du bist so dumm und töricht, siehst du nicht, daß dieser Vogel, der durch alle Messingstäbe gekrochen und noch immer derselbe geblieben ist, auf jede Frage schon eine Antwort bereit hat? Er wird dich so in die Enge treiben, daß du nicht froh sein wirst."

      Und mit böser Stimme befahl er: „Hinaus mit ihm, werft ihn ins äußerste Loch hinein!"

Und so wurde ich in ein wirkliches Loch gebracht, wo ich nicht liegen, nicht sitzen und nicht stehen konnte. Fest zwischen Wand und Tür geklemmt, hockte ich halb sitzend, aber nicht lange, vielleicht eine Stunde, denn sonst wäre ich erstickt. Gegen Morgen betrat ich wieder wohlgemut meine Zelle.

     „Nun", sagte ich, „ihr seid wohl ganz mutlos. Ich habe fast die ganze Zeit mit ihnen gestritten."

    „Wie hatten Sie nur den Mut, wir warteten alle zitternd, ob man uns auch holen würde."

Ich fragte, ob sie für mich gebetet hätten. Der junge russische Bruder antwortete: „Ja, das haben wir getan!"

    In die G.P.U. wurde keine Bibel hineingelassen, bei der Durchsuchung nahm man alle Bücher, Papier und Bleistifte weg. Aber von den Gläubigen aus der Stadt, die mir Essen schickten, bekam ich eines Tages auch eine russische Bibel. Das war für uns eine große Freude. Aber in unserer Zelle war auch ein Spion, davon hatten wir keine Ahnung. Das pflegt man oft zu machen. In einer Zelle werden viele für eine Woche zusammengelassen, dann schickt man einen Spion, einen Kommunisten, als Verhafteten hinein, der muß aufpassen, was die Gefangenen sprechen und tun und alles berichten. Und oft bekommt man nur auf diese Weise heraus, was man will, denn da er auch als Sträfling sitzt, gewinnt man Vertrauen. Die Behörde findet auf diese Weise alle Geheimnisse heraus, und mancher wurde durch die Spione überführt und verurteilt, ohne daß er erfuhr, warum.

     An unseren Andachten beteiligten sich schon fast alle Zellenbewohner. Ein Kommunist wurde sehr bewegt, dadurch kam es vor den Vorsitzenden, daß ich eine Bibel habe. Das brachte wieder große Aufregung, und ich mußte wieder zum Verhör. Da sie aber nichts von mir erfahren konnten, merkte ich, daß ich zum letzten Male vor ihnen stand. Man photographierte mich in den nächsten Wochen in allen möglichen Stellungen, mit Bart, ohne Bart, dann mußte ich wieder warten, bis die Haare gewachsen waren. In der letzten Zeit von zwei Monaten kam ich in den verschiedensten Gesichtszügen auf die Platte, die alle in das Archiv wanderten. Aus einer Zelle brachte man mich in die andere und dann wieder in meine alte. Man ließ mich nicht, wie die anderen Gefangenen, zu einer Beschäftigung hinaus. Eines Tages kam der Gefängniskommandant und fragte, ob ich das Buch hätte, das mir verboten wäre zu besitzen.

     „Was für ein Buch?" fragte, ich.

     „Was für eins? Das wissen Sie sehr gut. Sie nennen es Bibel. Geben Sie es mir."

     „Nein, das Wort Gottes gebe ich nicht!"

     „Der Vorsitzende hat es befohlen!" schrie er und stieß mich roh um.

     „Diesem Befehl folge ich nicht, die Bibel gebe ich nicht her. Sie können stehen, so lange Sie wollen."

    Fluchend ging der Kommandant hinaus, und nach kurzer Zeit erschienen zwei Tschekisten und befahlen aufs strengste, die Bibel abzugeben. Auch diesmal erwiderte ich:

    „Ich habe euch gesagt, die Bibel gebe ich nicht, sie gehört mir. Ihr lebt nicht danach, aber ich tue es. Ich gebe sie auf keinen Fall, und wenn die höchste Obrigkeit es befiehlt."

     „Nun, dann nehmen wir sie Ihnen gewaltmäßig ab", und mit einem Satz sprang ein Tschekist auf mich zu, packte die Bibel in meiner Hand und riß sie in zwei Teile auseinander. So raubte man mir das beste Kleinod, das ich besaß, aber das, was es mir gegeben hatte, konnten sie mir nicht nehmen.

     Dieselbe Bibel bekam ich nach zwei Jahren durchs Gericht zurück, sie war wieder zusammengeklebt.

    Kurz nach diesen Vorgängen wurde einer nach dem anderen aus der Zelle herausgeholt. Wo alle geblieben sind, weiß ich bis heute nicht. Den russischen Bruder brachte man ins Hauptgefängnis. Merkwürdig, im Gefängnis wußten immer alle, was in den einzelnen Zellen vorging, wer verschwand, wer hinzukam. Die Sträflinge hatten sehr geschickt ein Telephon durch alle Zellen angelegt, und in der Nacht wurden die Tagesneuigkeiten durchgesprochen.

Noch längere Zeit blieb ich in dieser Zelle, bis der Bart gewachsen war, und eines Morgens kam der Befehl, daß ich mich zum Weitertransport bereit halten sollte. Ich erfuhr, daß man mich in das berüchtigte Solowetzkijkloster schicken wollte, aus dem nur wenige wieder lebendig herauskamen. Vorher aber sollte ich noch ins große Gefängnis gebracht werden.

 

Teil X

in der räuberhöhle

   

    Auf den Straßen hasteten die Menschen. Die Klingeln der Elektrischen warnten die allzu Sorglosen. Mitten durch das freie, tosende Leben der Stadt wurde ich — ein Gefangener — getrieben, von drei Rotgardisten mit aufgepflanztem Seitengewehr begleitet, — ein Schauspiel für die neugierige Menge.

    Kinder liefen hinter uns her, zeigten mit den Fingern auf mich und spotteten. Mühsam schleppte ich meine wenigen Habseligkeiten durch die Straßen. Nachdem wir das Straßengewirr durchquert hatten, kamen wir auf den Marktplatz; auf dem buntes Leben und Treiben herrschte. Frauen und Mädchen in farbigen Röcken und gestickten Hemdärmeln, das Kopftuch am Halse zu einer Schleife gebunden, kreischten und lachten. Langbärtige Bäuerlein standen an ihren Wagen und holten bedächtig Eier und Butter aus dem Stroh hervor. Dienstmädchen und einfache Arbeiterfrauen feilschten eifrig mit den sie immer übervorteilenden Handelsjuden, die in ihren Verschlägen alles, aber auch alles anboten, Heringe neben Seife, Schuhbänder und Knöpfe, Spitzen und Seide. Alles schrie, lachte und schimpfte durcheinander. Der Sack drückte meine müden Schultern, und die Beine erlahmten, lange Haft und Entbehrungen hatten meinen Körper kraftlos gemacht. Doch wehe, wenn ich meine Schritte verlangsamte. Roh stießen die Rotgardisten mich vorwärts.

     Sonderbare Gedanken stiegen im Herzen hoch, als ich wie ein Verbrecher durch die Menschenmenge geführt wurde. Vorübergehende blieben stehen, sahen dem sonderbaren Aufzuge nach und schüttelten die Köpfe. Mitleidige Marktfrauen zeigten drohend auf die Rotgardisten und warfen mir Gurken und Brot vor die Füße, aber aufheben durfte ich nichts. Flüche tönten uns nach, einige Weiber liefen herbei und drückten mir die Waren in den Arm. Endlich — es schienen mir Stunden verflossen zu sein, obwohl wir nur sieben Kilometer gegangen waren — tauchte in der Ferne, abseits von freundlichen, hübschen Häusern, einsam und drohend ein fünfstöckiges, düsteres Gebäude auf.

     Es war von einer hohen Steinmauer umgeben, durch die nur ein einziges großes Steintor führte. Unzählige kleine Fenster spähten wie nachtschwarze hohle Totenaugen nach neuen Opfern aus. Über dem düsteren Gebäude aber lachte der blaue Himmel. Die Brautbirken hatten zu beiden Seiten des Weges ihre duftigen Schleier umgehangen und wiegten leise wie im Tanz und Spiel ihre schwankenden Zweige. Die Vögel in den Lüften zwitscherten, und girrende Tauben auf dem Dache schmiegten zärtlich die Köpfchen aneinander. Tief, tief atmete ich die so lange, so sehr entbehrte reine Luft ein und ließ all den Freiheitszauber in mein Herz hinein, ehe der gähnende Schlund des Gefängnisses sich öffnete und eiserne Panzer ihn erdrückten.

     Vor dem Tore traf ich viele Schicksalsgenossen, auch abgehetzt, in moderriechenden Gefängniskleidern, mit ihrem Sack auf dem Rücken, denen lange Haft tiefe Schatten des Leides in ihre Angesichter gezeichnet hatte. Die Schlüssel rasselten, das Tor knarrte, aber immer nur einer wurde hineingelassen.

     Wir anderen Wartenden lagerten uns am Wegesrand im spärlichen Gras und ruhten ein wenig, bis die eiserne Hand sich auch nach uns ausstreckte und uns packte.

     Im Geschäftszimmer wurden wir so gründlich untersucht, als wenn man etwas aus dem G.P.U.Gefängnis hätte mitbringen können. Dann schritt ich mit zwei anderen Gefangenen die Treppe hinunter.

     Die harten Schritte dröhnten auf den Steinstufen grollend und dumpf durch die langen Korridore. Die Türen der Zellen waren verschlossen, aber hinter ihnen tobten und schrien die Gefangenen. Ein Gewirr von Stimmen, Gemurmel und Fluchen ließ vermuten, daß sehr, sehr viele hinter den Steinmauern saßen. Mehrere Zellen lernte ich kennen, aber überall gewann ich durch das Wort Gottes Einfluß auf die Gefangenen. Dann warf man mich in die Räuberhöhle. Mit dieser hatte es folgende Bewandtnis: Vor einiger Zeit hatte man eine große Räuberbande gefangen genommen, die im Kaukasus die Dörfer geplündert und viele unschuldige Menschen hingemordet hatte. Da sie aber hartnäckig leugneten, hatte man die Vollstreckung des Todesurteiles aufgeschoben und sie in eine scheußliche Zelle des Gefängnisses geworfen, um sie zum Geständnis zu bringen. Zugleich benutzte die Tscheka diese Zelle noch zu einem anderen Zweck. Gefangene, die man nicht gern öffentlich erschießen wollte und doch gern beiseitegebracht hätte, warf man in diesen Keller. Selten kam so ein Gefangener wieder gesund aus dieser Höhle heraus.

     Die Zellentür öffnete sich, und ich hatte mit einem anderen Gefangenen kaum die Schwelle überschritten, als eine Horde wilder, zerlumpter Männer mit langen Barten, struppigen Haaren und schwarzen, russigen Gesichtern über uns herfiel.

     „Untersucht ihn!" brüllten sie mir entgegen. Der Gefängniswärter stand lachend an der Tür und wartete, wie die Sache ablaufen würde.

    „Kameraden", sagte ich, „laßt mich in Ruhe. Ich bin ein alter Arrestant, ich kenne alles. Wißt ihr denn nicht, daß es einen Gott gibt, denkt ihr nicht daran, was Er zu eurem Tun sagt?"

    Bestürzt wichen meine Angreifer zurück und ließen von mir ab. Aber dem anderen Gefangenen hatten sie die Kleider heruntergerissen und ein ganz lumpiges Hemd und eine Hose gereicht, an der keine heile Stelle war, und als er sich widersetzte, richteten sie ihn in der Nacht so jämmerlich zu, daß er ins Lazarett gebracht werden mußte und dort nach einigen Tagen starb. Den Raub teilten meine Zellengenossen vergnügt unter sich.

    Tief erschüttert über den Herzenszustand und die Roheit dieser Räuber kniete ich am Abend nieder und flehte Gott laut um Erbarmen und Gnade für diese armen, von Sünde und Leidenschaft geknechteten Menschen an und dankte Gott, daß er sie so lieb hatte, daß er Seinen einzigen Sohn auf die Erde sandte, um sie zu erretten.

    Die struppigen Köpfe fuhren zusammen, die wilden Männer flüsterten: „Was macht er da? Was sagt er?" Und der Häuptling rief: „Diesen Mann dürft ihr nicht anrühren, ich nehme ihn in meinen Schutz. Er glaubt, daß wir besser werden können und verachtet uns nicht”.

    Die rohen Gesellen fingen an, mich zu lieben und zu umhegen, wie Söhne ihren Vater. Nie werde ich diese Räuberhöhle vergessen, denn in ihr verbrachte ich die schönste Zeit meiner Gefangenschaft. Wenn mir von den Gläubigen der Stadt Essen geschickt wurde und ich es unter ihnen austeilte, wehrten sie und sagten:

     „Um unser Leben ist es nicht schade, wir sind für die Menschheit nicht nützlich und haben den Tod verdient. Aber Sie müssen am Leben bleiben, denn die Menschen brauchen Sie.”

    Dabei war die Gefängniskost sehr kümmerlich. Morgens und abends gab es etwas Brot und aufgekochtes Wasser und einmal am Tage einen Schöpflöffel abscheuliche Suppe.

    Gleich am ersten Tage fing ich an, die Räuber um mich zu scharen und ihnen zu erzählen, weil ich keine Bibel hatte, um ihnen daraus vorzulesen. Ich begann mit der Schöpfung der Welt, die sehr gut war und von dem Gift der Sünde, das die Schlange in die Herzen der Menschheit senkte, so daß sie die Gemeinschaft mit ihrem Schöpfer aufgaben und anfingen, einander zu mißtrauen und zu bekämpfen. Leise Trauer sprach aus den düsteren, großen Augen, sie hatten ja auch ihr Gewissen und inneres Leben vergewaltigt. Stunden und Tage vergingen, ein Bild nach dem anderen zog an unserem Geiste vorüber.

    Ja, das verstanden sie, daß die Sünde die Erde mit Schrecken und Grauen erfüllte. Schwere Seufzer machten ihrem bedrückten Herzen Luft. Die Stimme in der Tiefe ihres Herzens ließ sich nicht töten, das empfanden sie. Wenn sie lauschend und andächtig zu meinen Füßen saßen, waren sie zahm wie die Lämmer, und man mußte sie lieben.

    Aber das böse, gottlose Wesen steckte doch so tief in ihnen, daß die kleinste Aufregung sofort ihre Blutgier wachrief. Eines Morgens wurde die Tür geöffnet und drei Mann hereingebracht, ein Priester und zwei Offiziere. Da kam wieder das Tierische bei den Räubern zum Vorschein. Sie sprangen so wild vom Lager auf, als wollten sie sie zerreißen.

     Ich lief hin und rief„Kameraden, Kameraden, das geht doch nicht. Vergeßt nicht, was wir in den letzten Tagen miteinander besprochen haben.

    Zögernd ließen sie Arme hängen, schauten mich von der Seite an und sagten:

„Um Ihretwillen werden wir es nicht tun."

    Ich nahm die Neulinge in der Nacht an meine Seite und sagte zu den Räubern:

Wenn ihr diese anrühret, erzähle ich euch nichts mehr. Ich werfe mich dazwischen und ihr könnt mich zuerst quälen. Lange wollten sie nichts versprechen, aber schließlich sagten sie:

„Gut, wir werden uns fügen, aber lassen Sie uns doch einmal unsere Freude an jemanden auslassen.

    „Nein, in meiner Gegenwart auf keinen Fall, wenn ihr es tut, werfe ich mich an ihre Stelle, und ihr könnt euer Vorhaben an mir ausführen.

    Die Räuber wären aber für mich durchs Feuer gegangen und versprachen endlich, sich ruhig zu verhalten. Am nächsten Tage setzten sich alle Zellenbewohner wie die Tataren mit untergeschlagenen Füßen um mich herum, und ich erzählte weiter. Als ich am Abend auf dem schmutzigen Erdboden niederkniete und wie gewöhnlich betete, waren die beiden Offiziere so gerührt, daß sie zu mir sagten:

     „Dazu hat uns Gott ins Gefängnis gebracht, damit wir das hören, wonach wir uns gesehnt haben. Niemand hat uns so das Evangelium verkündigt, wie Sie es tun. Wir wollen auch ein neues Leben anfangen."

    Ich kniete mit den beiden Männern hin, und sie riefen Gott an, so gut sie es verstanden. Es war eine herrliche Stunde, die wir zusammen in dieser Zelle verlebten. Die Verbrecher sahen und hörten erstaunt zu. Einige von ihnen knieten auch nieder und legten sich auf ihr Angesicht. Es war, als ob der Teufel den Raum verlassen hätte und die Zelle zu einem Tempel Gottes geworden sei.

    Der Geistliche aber lag unruhig auf seinem Lager, bald drehte er sich auf diese, bald auf jene Seite, stöhnte, aber er betete nicht mit. Die Gefangenen schauten oft mißbilligend zu ihm hinüber, aber er rührte sich nicht. Als wir an einem Morgen nach dem Frühstück uns hinsetzten und ich fortfahren wollte, zu erzählen, sagte der Häuptling:

    „Warten Sie ein wenig, wir haben noch eine kleine Arbeit vor. Bleiben Sie alle sitzen und hören Sie gut zu. Ich wußte nichts was sie vorhatten, und glaubte, vielleicht sei an ihren Sachen noch irgend etwas zu nähen. Dann ging ein Verbrecher zu dem Geistlichen, der abseits von uns anderen saß, packte ihn an den Bart und zerrte ihn herbei. Ich wollte dazwischenspringen, aber man ließ mich gar nicht zu Worte kommen. Der Teufel war los, und ich hatte nur Angst, man würde dem Mann alle Knochen einschlagen. Aber der Führer beruhigte mich:

    „Seien Sie ganz still, es wird nichts Besonderes geschehen, aber wir müssen diesen Mann einmal bestrafen, denn sonst geschieht es nie, Sie werden es nicht tun, das sehen wir, und warten, bis der liebe Gott es tut, dauert uns zu lange. Wir wollen ihn jetzt bestrafen."

   Dann kam ein Verbrecher zu dem Priester und schrie ihn drohend an:

   „Du bist schuld, daß ich ein Verbrecher bin!"

   Und ein anderer kam und sagte: „Du bis schuld, daß ich anfing zu stehlen. Ihr Priester habt uns zu Dieben und Mördern gemacht. Ihr habt uns nie das wahre Evangelium gebracht. Wenn Ihr es uns erzählt hättet, wie dieser Mann, dann säßen wir nicht in diesem Loch. Du bist schuld daran. Auch unsere Familien würden sittlich gut sein, wenn Ihr anders gelehrt hättet, aber jetzt haben wir Frauen und Kinder, die in unseren Fußspuren gehen. Das hat die Kirche auf dem Gewissen, das ist eure Arbeit."

   Dann zogen sie ihn an den Haaren und am Bart. Die Räuber aber achteten auf mich und meine Haltung, sonst hätten sie es wohl noch ärger getrieben.

   „Kommt, wir wollen ihn beten lehren!" befahl der Häuptling, und einer der Bande hing noch ein Stück Papier mit einer Karikatur darauf als Heiligenbild in die Ecke. Der arme Priester mußte alle Zeremonien nachmachen, die in der orthodoxen Kirche verrichtet werden. Alle Kirchengebete, die er kannte, sagte er her, und die Räuber sorgten mit Püffen und Haarezerren dafür, daß er sich ordentlich bekreuzte und vor dem angeblichen Heiligenbild bis auf dk Erde verbeugte.

   Nachdem er so eine gute halbe Stunde wohl gebetet hatte, hörte er ganz erschöpft auf. Aber da kam er schlecht an. «Nur weiter, du Hundesohn, das war noch gar kein rechtes Beten. Du mußt wie dieser Mann beten. Wenn der betet, dann zieht immer so ein schönes Gefühl durch unser Herz."

   In seiner Angst und Not fing der arme Mann nun wieder an, die Mutter Gottes und alle Heiligen anzurufen. Aber es wollte nichts nützen.

   „Sage mal, du verfluchter Rabe, glaubst du eigentlich, daß deine Gebete etwas nützen?" — Als der Priester schwieg, bekam er von verschiedenen Seiten heftige Tritte und Püffe. „Wirst du wohl antworten, glaubst du an deine Gebete?" Schließlich, in der Angst seiner Seele, kam das Geständnis heraus:

   „Nein, ich glaube nicht daran!" — Nun aber ging der Lärm erst recht los: „Hört ihr's, Kameraden, der Pope glaubt selbst nicht an seine Gebete. Und dabei hat er das Volk gelehrt, und viel Geld hat er ihm abgenommen für sein Geplappere. Blutsauger, du räudiger Hund, du bist schuld, daß ich ein Verbrecher, ja, ein Mörder geworden bin. Wenn ihr Popen uns hättet so beten gelehrt wie der Mann hier, dann wäre ich auch ein ordentlicher und ehrlicher Mensch geworden. Du bist schuld, wenn ich erschossen werde. Warte, wir wollen dich,..! Aber ehe wir dich totschlagen, sollst du noch beten lernen!"

    „Dieser Mann betete gestern und du konntest liegen, der Mann betete heute morgen und du bliebst ruhig sitzen, und du willst unser Geistlicher sein? Nun bete aber von Herzen."

   Zu jeder Seite stellten sich die Männer mit ausgestreckten Armen auf und gaben ihm eine Ohrfeige, wenn es nicht gut war. Der Priester fing an, aus Angst zu beten.

   „Halt, halt, das ist nur ein Angstgebet, das kann uns und dich nicht retten. Du mußt so beten, daß es dich packt”.

    Und als er anfing zu weinen, schrien sie:

    „Das sind nur ausgepreßte Tränen, die helfen auch nichts. Wenn du nicht wirklich von Herzen betest, kommst du nicht lebendig aus diesem Loch hinaus." Dem Geistliehen wurde doch so angst, daß er sich zu mir wandte und bat, ich möchte für ihn beten, aber das ließen sie nicht zu, so daß der Priester schließlich anfing, sich von Herzen zu beugen, seine Sünden bekannte und Gott anflehte, bis es den Verbrechern ungemütlich wurde und sie schrien:

„Halt, halt, das langt zu, jetzt wird Gott dich schon erhören, aber jetzt wollen wir sehen, wie du Fortsetzung machst."

    Seit diesem Erlebnis lag der Priester immer am ersten auf den Knien, und nun waren wir vier Gefangene, die von Herzen den Herrn anrufen konnten.

    Merkwürdigerweise blieb ich so lange im Gefängnis, bis ich zur Kreuzigung Jesu kam. Ich schilderte ihnen, wie bitter der reine Gottessohn um unserer Sünden willen leiden mußte, wie er in Gethsemane rang, bis das Blut von seinem Angesichte tropfte, wie er ans Kreuz genagelt, verhöhnt und verspottet wurde. Selbst die gemeinsten Verbrecher behandelt man nicht so. Aber als er sein Haupt neigte und sprach: „Es ist vollbracht I”, da mußte die ganze Sündenmacht, die Hölle mit ihrem Heer fliehen und erkennen: „Wir sind gerichtet, wir sind mit dem Fürsten dieser Welt vom Throne gestoßen.

   Das machte einen ganz besonders tiefen Eindruck auf die rohen, und doch für Mut und Heldentum empfänglichen Räuberherzen. „Erzähl das noch einmal”, sagte der Führer am nächsten Tage, „wie sie Jesum geschlagen und gekreuzigt haben.”  Als ich dann auch auf die beiden Räuber zur Rechten und zur Linken kam, und wie der eine vom Heiland begnadigt sei, weil er offen bekannt habe, da hielt es der Hauptmann nicht länger aus. Er sprang auf und rief:

   „Neunzehn Monate sitze ich mit meinen zwölf Mann im Gefängnis und bin fürchterlich mißhandelt und der schwersten Verbrechen beschuldigt worden, aber man hat nichts aus uns herausbekommen können, man hat uns geschlagen und gefoltert, aber wir wären lieber gestorben als ein Geständnis abzulegen. Aber jetzt kann ich nicht länger, ich muß bekennen, wir sind Mörder. Kameraden, ich bin schuld daran, ich habe euch verführt, man soll mich hinrichten, wie ich es verdient habe”.

   Er fiel mir vor die Füße und schluchzte. Nun folgte eine Beichte, wie sie fürchterlicher kaum gedacht werden kann. Soviel Greueltaten, Morde, Schändungen — es war entsetzlich: „Das habe ich alles getan, kann Gott mir das vergeben?" — „Gott sei gelobt, er kann und will es genau so, wie Jesus deinem Kollegen, dem Räuber am Kreuz, vergeben hat.”

    „Dann bete mit mir, daß Er es tue”, — das geschah; der Herr erhörte das Gebet und schenkte auch diesem blutbefleckten Gewissen seinen göttlichen Frieden.

   „Kameraden”, sagte darauf der Anführer, „sterben müssen wir doch, wollen wir doch wenigstens zum Schluß noch ehrlich sein. Ich werde der Tscheka alles gestehen, was wir getan haben!”  — „Tue es, wenn Gott es dich heißt”, erwiderten ihm seine ehemaligen Mordgesellen. Er hat sein Vorhaben dann auch ausgeführt, und man hat ihm sogar Hoffnung gemacht, daß er noch freigelassen würde.

   Das waren Stunden und Tage, die ich nicht vergessen werde. Wenn Jesus in die Kerker und Herzen der Gefangenen eintritt, dann wird das Gefängnis zum Paradies und der Verbrecher zu einem Lamm, und der schmutzigste Raum verwandelt sich in einen Tempel Gottes. Wie einst der Besessene zu Gadara zu den Füßen Jesu saß und seinen Worten zuhörte, so kauerten die Gefangenen um mich herum und lauschten. Jedes Wort lasen sie vom Munde ab, alles erlebten sie mit und lobten und dankten Jesus für die Offenbarung und Vergebung, die sie empfangen hatten.

   Anstatt des Fluchens schallten Lieder durch unsere Zelle, und Gebete stiegen zum Throne Gottes empor.

   Wenn ich daran dachte, daß ich eines Tages diese Kammer verlassen sollte, wurde mir bange, es war, als riefen die Wände mir zu:

   „Geh nicht hinaus, denn wir müssen immer solche Menschen beherbergen, und niemand ist da, der ihnen von der Befreiung aus dem ewigen Gefängnis sagt."

 

IN DIE FREIHEIT

   In der halbdunklen Zelle lagen alle Bewohner in tiefem Schlaf. Einige Lumpen unter den Kopf geschoben, die schmutzigen Mäntel übergedeckt, hatte jeder sein Eckchen auf dem unsauberen Boden eingenommen. Die Lichtstrahlen der spärlichen Nachtlampen tanzten gespensterhaft über die schwarzen, struppigen Häupter, und Nachtschatten huschten leise über die verzerrten Gesichter. Auf der Erde regten und bewegten sich lautlos und geschäftig Tausende kleiner grausamer Angreifer, den friedlichen Schlummer zu stören. Die Gefangenen warfen sich unruhig von einer Seite auf die andere, um sie abzuwehren, aber vergeblich.

   Ich war durch alle Entbehrungen und durch die Arbeit so ermüdet, daß ich mich kaum auf den Beinen halten konnte, deshalb hatte ich mich frühe hingelegt. Ich schlief so fest ein, daß selbst unsere kleinen Feinde mich nicht zu wecken vermochten. Inzwischen hatte sich die Tür unserer Zelle aufgetan. Das Rasseln der Schlüssel zu ungewohnter Stunde machte uns immer unruhig, dadurch erwachte auch ich. Innerlich zitternd warteten wir, was kommen würde. Da rief der Wärter:

   „Die Offiziere, der Geistliche und M. sollen sich morgen früh um 5 Uhr zu einem weiten Transport bereit halten."

   Alle waren still. Die Gefangenen bewegte der Gedanke, daß die Stunde der Trennung gekommen sei. Einer brachte mir seinen Rock, seinen einzigen Schutz gegen die Nachtkühle, ein anderer legte seinen Mantel unter meinen Kopf, ein dritter breitete seine Lumpen auf die Erde aus, und so machten sie ein weiches Lager zurecht, damit ich den letzten Teil der Nacht gut ausruhen könnte. Die Offiziere, der Geistliche und ich lagen mit offenen Augen und dachten an unsere Angehörigen, von denen wir so weit getrennt werden sollten, ohne daß wir ihnen Nachricht geben oder sie wiedersehen durften. Durch die verschlossenen eisernen Türen konnte kein Laut sie erreichen, und für sie waren wir verschollen, wenn wir ins Ssolowetzkijkloster gebracht wurden. Durch finstere Täler wurden unsere Seelen geführt, alle Wasserwogen gingen über unser Haupt, aber mit dem Psalmisten durften wir aus tiefster Seele endlich sprechen: „So bist Du doch bei mir!" Im Bewußtsein dieser Gottesnähe im größten Leid schlief ich todmüde wieder fest ein.

   Da sprach Gott im Traum zu mir: Sei getrost, du wirst frei werden. Ich erlebte alle Einzelheiten der Befreiung, ich sah, wie ich hinausgeführt wurde, wie ich zu den Gläubigen eilte und ihnen die Freudenbotschaft brachte und dann im Zuge der Heimat zufuhr. In grenzenloser Freude der wiedererlangten Freiheit jauchzte meine Seele im Traum.

   Und wie einst bei Petrus der Engeln stieß jemand mich leise in die Seite, rüttelte mich, strich mir sanft über das Angesicht und sagte:

   „Stehen Sie auf, man ruft Ihren Namen!"

   Ich richtete mich schlaftrunken auf und konnte mich gar nicht zurechtfinden, die Räuber standen und knieten an meinem Lager, der Gefangenenwärter an der offenen Tür rief:

   „Stehe auf, nimm deine Sachen, du bist frei!" Ich blieb ruhig sitzen und wußte nicht, ob ich träume oder wache. Freude und Traurigkeit stritten um die Oberhand. Ungeduldig rief der Wärter zum zweitenmal:

   „Packe deine Sachen, du bist frei!"

   Als ich es noch nicht glauben wollte, spuckte er aus und sprach: „Ein verrückter Mensch, man sagt ihm, daß er frei ist, und er glaubt es nicht!"

   Meine Räuber aber fielen mir um den Hals, faßten meine Hände und sagten: „Du bist wirklich frei!”

   Allmählich konnte ich die große Freude fassen, sie überwältigte mich. Die Abschiedsstunde läßt sich nicht beschreiben. Jeder hatte noch etwas zu sagen, einen Gruß zu bestellen, zu danken oder mir einen Liebesdienst zu erweisen. Zum letztenmal knieten wir zusammen nieder und lobten und priesen Gott für die erlebten Gnadenzeiten im Gefängnis. Den Kameraden standen die Tränen in den Augen. Dann öffnete sich eine Tür, die eiserne Hand, die uns so grausam vom Leben weggerissen hatte. Ich schritt langsam auf sie zu, bis zum Flur von Rufen und Grüßen begleitet, bis die schwere Eisentür sich hinter mir schloß. Kein Bewaffneter erwartete mich auf dem Korridor, ich war frei. Ich kam ins Geschäftszimmer, um meine Entlassungspapiere gu holen, ein Freund aus unserem Dorfe erwartete mich dort und holte mich ab. Ich trat auf die Straße, nach langer Zeit zum erstenmal ohne Bewachung. Menschen eilten durch die Straßen, aber es war mir, als sei ich ein Fremdling unter den Lebenden. Die reine Luft nach der langen Haft in der stickigen Atmosphäre des Gefängnisses benahm mir den Atem. Denselben Weg ging ich zurück, den ich vor einigen Monaten von Soldaten getrieben worden war, aber wie anders waren die Gedanken und Empfindungen, die mich jetzt bewegten. Frei war ich wie die Vöglein in der Luft, die ihr Morgenlied sangen, frei wie die Tauben auf dem Dach, die ich damals so beneidete. — Und doch nicht frei. Man hatte mir nur einen kleinen Raum, nur einen Stadtteil zugelassen, in welchem ich nach eigenem Willen leben durfte. Das Verlassen desselben verbot mir der Vorsitzende der G,P.U. aufs strengste.

    Menschlich gesehen war die Tatsache meiner Freilassung wahrscheinlich auf einen politischen Druck zurückzuführen, den gerade in jener Zeit England der Sowjet-Regierung gegenüber ausübte. Für mich bedeutete es aber dennoch nur Gottes Hilfe.

   Gerade in der Nacht vor meinem Abtransport nach dem hohen Norden war ein Telegramm aus M. gekommen mit dem Befehl, mich sofort aus dem Gefängnis zu entlassen und die Anklageakten der vorgesetzten Behörde zu schicken. Ich selbst sollte in der Stadt bleiben und die Entscheidung abwarten.

   Die Freunde, die mich im Gefängnis immer mit Nahrung versehen hatten, wohnten anderthalb Stunden entfernt. Oft setzte ich mich auf dem Wege zu ihnen an der Straße hin, denn meine Kräfte versagten den Dienst. Mein Freund, der mich abholte, stützte mich, und endlich erreichten wir das Haus der lieben Geschwister. Ihr Erstaunen und ihre Freude waren groß. Ein Festessen wurde bereitet, und nachdem ich mich ein wenig erholt hatte, fuhren wir mit der Elektrischen gleich in die Stadt, um einen Dankgottesdienst vorzubereiten, denn ich hatte am Ort viele Freunde. Es war ein wunderbarer Abend, den ich nie vergessen werde.

   In der Nacht um ein Uhr bestieg ich den Zug, der mich zu den Meinen führte. Telegraphisch hatte ich meine Befreiung bereits gemeldet.

   Ob ich mit diesem Schritt wie einst Jona Gottes Stunde nicht abwarten konnte, es mag sein, und vielleicht mußte ich deshalb die folgenden schweren Zeiten erleben. Aber der Gedanke, noch einmal festgesetzt zu werden, war mir unerträglich, und so handelte ich gegen das Gebot der Regierung, den Ort nicht zu verlassen.

   Wohl war ich nun frei, aber ich lebte in beständiger Flucht. Meine Feinde ruhten nicht, und ich mußte meinen Aufenthaltsort immerfort wechseln, um meine Spuren zu verwischen. Nur kurze Stunden vereinigten mich mit meiner geliebten Familie, dann verschwand ich wieder aus unserem Dorf. Zeitweise lebte ich in den Bergen und in den verschiedensten Städten, auch veranstaltete ich Evangelisationsvorträge, wo es mir möglich war, aber es dauerte nie lange, dann hatten die Behörden meine Spur gefunden, und ich mußte weiter fliehen.

   Lange Zeit befand ich mich auf der Flucht, aber meine Lage wurde immer unhaltbarer. Frau und Kinder gerieten in große Schwierigkeiten, man nahm die Tochter gefangen und wollte erfahren, wo ich geblieben sei. Zwar wurde sie wieder freigelassen, aber sie lebten in ständiger Furcht und baten mich dringend, Rußland zu verlassen. Ich wollte anfangs nicht, denn es tat mir weh, das reiche Arbeitsfeld, das sich mir überall auftat, aufzugeben. Aber auch ich sah ein, daß mir kein anderer Ausweg blieb, wenn ich nicht wieder hinter den Mauern der G.P.U. verschwinden wollte. Und das wußte ich, ein zweites Mal kam ich nicht so leicht davon. Mit vieler Mühe gelang es mir, einen Auslandspaß in einer Stadt durch Vermittlung guter Freunde zu erhalten, ich darf sagen, Gott lenkte die Herzen der Menschen, sonst wäre es nie möglich gewesen. Andere warteten monatelang und erhielten weder Paß noch Visum.

   Vor meiner Abreise hatte ich noch viel zu ordnen, um die nächste Zukunft meiner Angehörigen sicherzustellen. Als das geschehen war, machte ich meine Abschiedsbesuche in den Gemeinden. In einer Stadt A, erhielt ich einen Brief von meiner Frau mit der Nachricht:

„Lieber C, komme ja nicht nach Hause, Du bist bei der G,P.U, angeklagt worden, sie wollen Dir den Auslandspaß wegnehmen und Dich ins Gefängnis setzen. Man beschuldigt Dich, Du habest ihn auf unehrlichem Wege erworben. Ich überlebe es ein zweites Mal nicht. Bitte komme nicht, wir bitten Dich alle darum, fahre sofort ins Ausland.

    Das war ein harter Schlag für mich. Ohne Abschied sollte ich Rußland verlassen. Wer konnte wissen, ob ich Frau und Kinder je wiedersehen würde. An einem Montagabend setzte sich langsam der Zug in Bewegung, der mich nach dem Westen brachte. In dunkler Nacht kam ich an dem Ort vorbei, wo meine Familie wohnte. Niemand war auf dem Bahnhof, um mir die Hand zum Abschied zu drücken. In der Ferne verschwanden die Lichter des Dorfes, die Räder rollten, die Telegraphenmasten sausten vorbei. Mit kalter Hand umklammerte die grausame Wirklichkeit des Verlassenseins mein Herz und preßte es in schwerem Druck zusammen.

    Der Zug verließ auch die nächste Stadt. Ich schritt durch die Wagen, und als ich an einem Abteil vorbeikam, siehe, da erblickte ich in ihm meine Frau und meine Kinder und Schwiegersöhne. Die Freude und Überraschung war so unerwartet, daß ich kein Wort sagen konnte. Ich wollte auch den Wagen besteigen und kaufte mir auf der nächsten Station eine Platzkarte, aber meine Tochter kam mir entgegengelaufen und rief:

    „Vater, bleibe ja auf diesem Bahnhof, ein Kommunist aus unserem Ort fährt uns nach und beobachtet uns scharf”.

    Eilig holte ich meine Sachen aus dem Zug, denn das war höchst gefährlich für mich, und ich fuhr mit einem Wagen zu Bekannten in die Steppe, um aus dem Bereich der Gefahr zu kommen und den nächsten Zug abzuwarten. In R, traf ich wieder mit den Meinen zusammen, und wir feierten in aller Stille den Verlobungstag meiner jüngsten Tochter und meinen Abschied bei meinen Verwandten mitten im Walde, Das waren unvergeßliche Stunden. Wir lasen Johannes 17 und beteten zusammen. Nur zu schnell verging der Tag.

    Gegen Abend begleiteten mich alle Angehörigen zum Bahnhof. In der Ferne tauchten zwei große Lichter auf, der Zug brauste heran. Eine letzte Umarmung, ein Händedruck, mein Sohn, der mich ins Ausland begleiten sollte, und ich bestiegen den Wagen, die Räder setzten sich in Bewegung, erst langsam, dann immer schneller. Mit Tränen in den Augen sah ich die Gestalten meiner Lieben verschwinden, die weißen Tücher wehten ferner und ferner, und wir waren getrennt. Ob wir uns auf dieser Erde wiedersehen? O, ihr unvergeßlichen Lieben, wie viele frohe Stunden habe ich mit euch geteilt, wieviel Leid haben wir miteinander getragen. Wie oft haben wir in Todesschrecken zusammen im Gebet verweilt. Wie oft sind wir zerstreut gewesen, ich dort, ihr hier. Wie haben wir Gottes wunderbare Bewahrung erlebt und gelobt, Ihm anzugehören und zu vertrauen?

    In Ch. weilte ich einige Tage bei den lieben Geschwistern, die gleich einen Gottesdienst ansagten. Ich sprach über Offenbarung 2. Nach einer gesegneten Andacht verabschiedete ich mich, und mancher sagte unter Tränen: „Du bist ein glücklicher Mensch, daß du herauskannst. Wir müssen hierbleiben. Ach, wann kommt die Zeit, wo auch wir zu Zion jauchzen werden?" Viele Grüße wurden mir aufgetragen mit der Bitte:

    „Grüße alle Kinder Gottes im Ausland. Sage ihnen, wie es mit der Mauer Jerusalems steht. Betet für uns!"

    Bruder C, in M, ergriff meine Hand und sagte mit Tränen in den Augen:

    „Du bist frei und gehst zu den Brüdern ins Ausland. Gedenkt meiner, denn ich erwarte jede Stunde, daß ich wieder in die G.P,U, muß, Gott allein weiß, wie es mir dann ergehen wird. Wie bewegten diese Worte mein Herz, denn ich wußte, was das heißt.

    Der Schnellzug brachte uns der Grenzstation näher,— Paßkontrolle— Zollrevision — alles verlief ohne Schwierigkeiten. Dann fuhren wir langsam über die Grenze des Landes der Revolution mit allen Schrecken und aller Unfreiheit in die Fremde, in die Freiheit. Nun bin ich in Deutschland. Die Grüße der Brüder jenseits der Grenze, die um Jesu willen leiden, habe ich weiter gegeben. Meine Erlebnisse sind nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus der großen Trübsal, durch die viele Kinder Gottes in Rußland geführt werden. Möchten diese Berichte euch Kinder Gottes des Westens, die ihr in Freiheit das Evangelium unseres Königs verkündigen dürft, ermuntern, die Zeit auszukaufen, und möchte der Auftrag und die Bitte unserer Brüder euer Herz erreichen: „Betet für uns!*

Ende

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