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Flucht aus der Hölle Stalins

  

     Zur Zeit der sowjetischen Revolution ist Tatiana Tchernavin Künstlerin und ihr Mann Wissenschaftler. Stalin aber misstraut allen. So wird eines Tages ihr Mann gefangengenommen und zu fünf Jahren Arbeitslager Gulag verurteilt. Sie selbst kommt auch in ein Gefängnis, ohne zu wissen, was aus ihr werden soll noch wer für ihren zwölfjährigen Sohn sorgen wird.

    Ihre Leidensgeschichte und die unglaubliche Flucht samt Mann und Kind werden in der mennonitischen Zeitschrift "Bote" ab dem 28.November 1934 erzählt:

     Am 22. September 1930 erschien die Moskauer „Prawda“ mit der grauenerregenden Balkenüberschrift: „Konterrevolutionäre Organisation von Schädlingen der Arbeiterversorgung entdeckt.

     Dieser Überschrift folgten Spalten und Spalten von erschütternden „Geständnissen“. Die Leiter der wichtigsten Versorgungsorganisationen, der Fleisch-, Fisch- und Gemüseversorgung, und ihre wissenschaftlichen und geschäftlichen Berater, also die hervorragendsten Fachleute der Ernährungsindustrie Russlands, wurden als „Schädlinge“ gebrandmarkt.

    In ihren „Geständnissen“ gaben sie ausdrücklich zu, sich als solche betätigt zu haben.

    Im Laufe des Sommers hatte man öfters von Verhaftungen so mancher Fachkräften gehört. Die meisten von den Männern, die in dem Verzeichnis der „Schädlinge“ aufgeführt wurden, waren aber erst ein paar Tage vorher verhaftet worden. Es war also genau so gekommen, wie wir erwartet hatten. Die besten Wissenschaftler wurden für den Misserfolg der Ernährungspolitik der Sowjetregierung verantwortlich gemacht.

    „Wo sind aber die Beweise?“ fragte ich.

    „Beweise?“ entgegnete mein Mann über die Massen empört. „Man wird sich gar nicht erst anstrengen, Beweise zu suchen! Ist doch alles glatter Wahnsinn.

     „Na, das nenn’ ich ein Verbrechen! In Wirklichkeit handelt es sich um etwas ganz anderes.

     „Und das wäre?

     „Man muss zwischen den Zeilen lesen!“ Mein Mann unterstrich mit seinem Fingernagel einzelne Sätze der Zeitungsmeldung.

    „Rjasanzew soll erklärt haben: Ich war bis heute ein Gegner der Sowjetregierung.

    „Karatygin soll ausgesagt haben: Ich wurde von Professor Rjasanzew in die Schädlingsorganisation hineingezogen.“

    „Lewandowski: Bevor ich zur Beleuchtung meiner Schädlingsarbeit übergehe.

    „Kuranow: … Ich gehe jetzt zu meiner Schädlingsarbeit über. …

    „Das ist nicht zu begreifen, nicht zu glauben!“ schrie ich aufgeregt. „Das kann die GPU doch keinem Menschen einreden, dass ein Angeklagter freiwillig derartige Geständnisse ablegen wird. Selbst dann nicht, wenn ihm mit Erschießen gedroht wird! Ein derartiges Geständnis ist ja sowieso mit einem Todesurteil gleichbedeutend.

    „Ein Todesurteil ist noch nicht das Schlimmste“, entgegnete mein Mann. „Die Unglücklichen mussten an das Schicksal ihrer Familien denken.

    „Wieso Familien? Man kann doch unmöglich den alten Professor Rjasanzew, einen Mann von solchem wissenschaftlichem Ruf, –“

    „Wer unter den Verhafteten ist denn nicht ein hervorragender Gelehrter? Sind sie nicht alle von der Sowjetregierung als „unentbehrlich“ bezeichnet worden?

    „Gut, sie werden doch aber nicht erschossen?“ beharrte ich. „Selbst wenn Rjasanzew zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt werden sollte, dann werden andere vielleicht fünf Jahre kriegen. Die übrigen werden mit Verbannung wegkommen. Die meisten haben ja sowieso in entlegenen Provinznestern gearbeitet, am Kaspischen Meer oder im Nördlichen Eismeer. Wohin sollen sie denn noch verbannt werden?

    „Ins Jenseits!

    „Aber das ist doch Wahnsinn!“ rief ich aus. „Man will Männer vernichten, die gearbeitet, geforscht und neue Zweige der Sowjetindustrie geschaffen haben? Man will Menschen, unschuldige Menschen, erschießen, um die eigene Niederlage zu motivieren?

    Mein Mann zuckte die Achseln. „Wir haben keine Ahnung, wie viele noch außer diesen 48 verhaftet worden sind und wie viele Justizmorde noch folgen werden. Das ist erst der Anfang.

    In den Regierungsbüros wurden diese Fragen erregt besprochen. Man war dabei natürlich vor Spitzeln auf der Hut. Soviel aber stand für alle fest: eine Katastrophe war im Anzuge.

    Nach Schluss der Bürostunden wurden alle Angestellten und Arbeiter zu Massenversammlungen beordert. Selbst Schüler durften sich nicht ausschließen. Die Versammlungsteilnehmer wurden in langen Zügen durch die Strassen geführt. Riesenplakate, die den Zügen vorangetragen wurden, forderten: „Tod den Schädlingen!“ „Tod den Konterrevolutionären!“ „Tod allen Gegnern der Sowjetmacht!“ „Das Urteil der Arbeiterklassen ist unbiegsam. Schädlinge müssen vernichtet werden!

    Alle Massenversammlungen forderten „einstimmig“ Erschießung der Verhafteten. Frauen, Schwestern, Väter, Brüder, ja selbst Kinder der Verhafteten mussten für die Erschießung ihrer Angehörigen stimmen. Wer nicht mitmachen wollte, wurde sofort aus dem Dienst entlassen. Nach der Rückkehr von diesem Marsch unter den blutrünstigen Plakaten war uns allen elend zumute. Man hatte uns gezwungen, für die Erschiessung unserer Kollegen zu stimmen. Also hatten wir ein Todesurteil über uns selbst gefällt.

    Zwei Tage dauerte dieser Hexentanz blutrünstiger Manifestationen. Endlich kam die furchtbare Liste heraus:

  1. Rjasanzew, A. W., Professor, ehemaliger Adliger, Vorstandsmitglied des Zentralkühlhauses, Leiter einer konterrevolutionären Organisation...

  2. Naratygin, E. S., Professor, Vorsitzender der landwirtschaftlichen Sektion des Obersten Volkswirtschaftsrates, Leiter einer konterrevolutionären Organisation...

  3. Karpenko, ehemaliger Adliger, Chef-Ingenieur der Zentralen Kühlhausverwaltung.

  4. Fischsohn, Gruppenleiter der Fischhandelszentrale, Leiter der konterrevolutionären Organisation daselbst.

  5. Nikitin, stellvertretender Vorsitzender des Vorstandes des Wolga-Kaspischen Fischereitrustes. Leiter der lokalen konterrevolutionären Organisation.

  6. Karpow, technischer Direktor des Fischfanggerätetrustes und Organisator der Schädlingsarbeit in dieser Branche usw., immer so weiter, bis zu Nr. 48 – werden zum Erschiessen verurteilt.

Das Urteil ist vollstreckt.

    Der Vorsitzende der GPU: Menschinski.

 

Die letzten Tage

    Die Erschießungen dauerten in den Gefängnissen fort. Es wurden aber keine Listen der Erschossenen mehr veröffentlicht, anscheinend weil die Hinrichtung der 48 doch einen sehr bösen Eindruck im Auslande gemacht hatte. Die Verhaftungen häuften sich aber dermassen, dass in einigen zentralen Staatsanstalten nur Bürodiener und Stenotypistinnen übriggeblieben waren. Drei Tage nach jeder Exekution wurden die Familien der Erschossenen, ihre Frauen, Kinder und Schwestern, alle die bei ihnen gewohnt hatten, verbannt. Ihr gesamtes Eigentum wurde beschlagnahmt. Niemand mehr, überhaupt niemand versuchte, sich gegen dieses brutale Vorgehen aufzulehnen, niemand erwartete Gerechtigkeit. Die Intelligenz in ihrer Gesamtheit war von Verhaftungen, Verbannungen und Erschießungen bedroht. Man wollte sie eben als Klasse erledigen. Was aber erwartete meinen Mann? Er war der Kollege der 48 gewesen. Sie hatten ein ebenso reines Gewissen gehabt, wie er es hatte. Sollte er der 49. werden? Bei jedem Geräusch schreckten wir auf, bei jedem Anlass fingen wir zu zittern an.

    Vier Uhr nachmittags. Die GPU-Leute sind nicht ins Büro gekommen, ich kann also noch einmal nach Hause gehen. Zu Hause ist es übrigens auch nicht besser. Die Zimmer und Möbel verlegten durch ihre kalte Gleichgültigkeit. Sie regen sich nicht darüber auf, dass uns, vielleicht heute schon, Verhaftung, nach einiger Zeit Erschießung und Beschlagnahme unserer ganzen Habe droht.

    Mein Mann kommt. Bald nachher auch mein Junge. Wer weiß, ob ich sie beide nicht vielleicht zum letztenmal zusammen sehe. Wir setzen uns zu Tisch und krampfhaft täuschen wir gute Stimmung vor. Und denken dabei unablässig an die unglücklichen Freunde, die so jählings hingerichtet worden sind. Der Junge blickt uns ängstlich an. Ein Mädchen mit traurigen Augen sitzt neben ihm am Tisch. Ihr Vater ist nicht mehr unter den Lebenden, und ihre Mutter ist irgendwohin verreist.

    Abends hat der Junge Angst, allein zu Bett zu gehen. Wenn er endlich eingeschlafen ist, kehre ich zu meinem Manne ins Wohnzimmer zurück.

   Es wird noch trauriger. Wir haben voreinander nichts zu verbergen. Wir setzen uns beide auf das Sofa und warten.

    Worauf?

    Worauf alle in der Sowjetunion warten. Auf die GPU-Leute.

    Zehn Uhr. Es ist noch zu früh. Wir plaudern, sind aber zerstreut und nicht recht bei der Sache.

    Elf Uhr. Jetzt können die GPU-Leute bald kommen. Wir hören Schritte im Hof und dann auf der Treppe. Das Herz klopft. Nein, der nächtliche Besuch gilt nicht uns.

    Zwölf Uhr. Das ist die übliche Zeit der GPU-Leute.

   „Um diese Stunde wurde mein Kollege L. verhaftet“, sagt mein Mann. „Er war kurz vorher nach Hause gekommen. Bis spät abends war er im Büro geblieben, um mit der Arbeit fertig zu werden. Was für Esel wir doch waren! Wie haben wir geschuftet! Und wofür? Um eine Kugel in den Nacken zu kriegen.

    Wir haben alle Mühe, die Tränen zu unterdrücken. Wie soll man es begreifen können, dass ein Mensch, der wegen seines weichen, versöhnlichen Charakters bei allen beliebt war, der während des ganzen Lebens keinem Menschen ein Unrecht angetan hat, erschossen worden ist.

    Ein Uhr. Der Hof ist still geworden. Der Hausmeister hat das Tor geschlossen. Plötzlich ertönt lautes Klingeln. „Das sind sicherlich die Leute der GPU.“ Laute Schritte und barsche Stimmen. Nein, es sind nur zwei Betrunkene.

    Zwei Uhr. Die Elektrische fährt nicht mehr. Ein Auto hupt. Die Hupe heult schrill und widerlich. „Jetzt kommen sie an, die GPU-Leute!“ Nein. Das Auto ist vorbeigefahren.

    Bei jedem Geräusch klopft das Herz qualvoll. Ich lausche und bin auf das Schlimmste gefasst. Sobald das Geräusch vorbei ist, werde ich von Schwäche übermannt, die Hände fühlen sich eiskalt an. Sind wir feige? Nein. Es ist nicht der Tod, der uns mit solchem Grauen erfüllt, sondern nur dieses Warten, das Warten von Minute zu Minute, Nacht für Nacht, Tag für Tag.

    Zum letzten Mal zusammen. Eines Tages – es war der 23. Oktober 1930 – blieb ich etwas länger im Büro. Als ich nach Hause kam, war die Durchsuchung bereits zu Ende. Mein Mann war gerade dabei, sich umzuziehen; dann packte er seine Siebensachen für die Fahrt, von der er nicht mehr nach Hause zurückkam.

    Die Wohnung blieb unberührt. Die Recherchen waren nur oberflächlich durchgeführt worden; der GPU-Mann legte offenbar auf die Ausbeute keinen besonderen Wert. Die Entscheidung über das Schicksal meines Mannes war vielleicht schon im voraus gefällt. Der GPU-Mann, ein unscheinbarer junger Mann in Zivilkleidung, sass mit gleichgültiger Miene in dem Sessel und rauchte.

    Das Dienstauto der GPU ließ recht lange auf sich warten. Sie arbeitete so fleißig, dass sie mit ihren Autos nicht mehr auskam. Der stellvertretende Kommissar der GPU, der mit der Verhaftung meines Mannes beauftragt war, kam zu uns zu Fuss.

    Wir setzten uns alle nach Erledigung der Formalitäten an den Tisch im Speisezimmer. Ich schenkte Tee ein, niemand aber wollte ihn trinken.

    Wir sassen schweigend. Mein Mann und ich, wir blickten einander immer wieder an: waren wir vielleicht zum letzten Mal beisammen? So verging eine Stunde.

    Der GPU-Mann benahm sich recht zwanglos. Er telephonierte mit seinen Bekannten, betrachtete die Bücher und die Bilder, schob die Schubladen auf und zu, fühlte sich anscheinend wie zu Hause. Wir sassen wie Gespenster. Was sollte man einander in Gegenwart eines GPU-Mannes sagen? Und doch empfand ich es als Glück, diese karg bemessenen Minuten mit meinem Mann verbringen zu dürfen! Sein Gesicht war bleich und müde, vor Spannung erstarrt.

    „Kommt der Wagen bald? Beeilt euch!“ telephoniert der GPU-Mann. Wir lauschen besorgt. Unser Junge ist nicht zu Hause. Wird der Vater ihm nicht einmal Lebewohl sagen können? Wir sitzen und starren noch immer vor uns hin. Er versucht anscheinend, mein Gesicht seinem Gedächtnis einzuprägen. Ich bin in diesen schweren Tagen eine alte Frau geworden. So sitzen wir schon seit zwei Stunden und nehmen von einander Abschied wie vor dem Tode. Der Kummer wird mit jeder Minute tiefer. Und unser Sohn ist immer noch nicht da.

     Endlich klingelt es.

    „Es ist mein Sohn“, sage ich. „Darf ich aufmachen?

    Der GPU-Mann nickt zustimmend. Ich lasse den Jungen herein. Ehe ich aber ein Wort gesprochen habe, stürmt er erregt zum Vater und erstarrt, als er sein Gesicht und den fremden GPU-Mann erblickt. Er setzt sich hin und blickt verständnislos um sich. Er zittert am ganzen Körper, wagt aber nicht zu fragen, was denn los sei. Wer weiß, vielleicht wird der fremde Mann den Vater erschießen. Es sind ja schon so viele erschossen worden.

     Der Wagen der GPU hupt. „Gehen wir!

     Wir stehen dabei, wie der Vater, zitternd und seine Erregung beherrschend, den Mantel anzieht. Er nimmt wortlos von uns Abschied. Niemand von uns bringt ein Wort über seine Lippen. Zum letzten Mal reicht er mir und dem Jungen die Hand. Er geht.

 

Leere Tage

     Wie soll ich von den leeren, ausgehöhlten Tagen, die der Verhaftung meines Mannes folgten, erzählen? Eine Verhaftung war gerade in jenen Epochen beinahe immer mit einem Todesurteil gleichbedeutend. Und wie lange würde man mich denn frei herumlaufen lassen? Der Tod wäre eine Erlösung gewesen, ich musste aber leben, leben für zwei andere Menschen.

     Die Zeitungen brachten täglich sensationelle Meldungen. Zuerst kam die grauenerregende Inszenierung des Prozesses der sogenannten „Industriepartei“. Der Hauptangeklagte, Professor Ramzin, erklärte vor Gericht, dass ungefähr zweitausend Personen mit seiner angeblichen Organisation verbunden seien. Mit diesen Worten gab er den Preis, um den er sein eigenes Leben erkaufte. Dann folgte der sogenannte „Prozess der Akademiker“, der hauptsächlich gegen die russischen Historiker gerichtet war. Ihr Schicksal wurde von der GPU selbst entschieden. Zu einer öffentlichen Verhandlung ließ sie es in diesem Falle nicht kommen, da die Opfer ihr keine guten Schauspieler zu sein schienen.

     Endlich kam der widerwärtige Menschewistenprozess, bei dem die sozialistischen Parteiführer ihre Reue bezeugten.

    Mit der Zahl der Erschießungen und der Deportationen stieg auch die allgemeine Gleichgültigkeit. Nicht einzelne Personen, sondern eine Klasse ging zugrunde. Der Terror wütete wie eine Elementarkatastrophe und vernichtete alles, was er auf seinem Wege fand.

    Während der Revolutionsjahre hatte die russische Intelligenz unter Einsatz ihrer ganzen Kraft gearbeitet. Die Sowjetregierung bezahlte für dreizehn Jahre Arbeit, die manchmal unter den schwersten Bedingungen vor sich ging, mit blindem, erbarmungslosem Terror. Wo nicht die GPU direkt herrschte, wurde sie durch kommunistische Parteikomitees aller Art ersetzt, die sich in jede Arbeit einmischten und die Direktiven der Partei um jeden Preis durchzusetzen versuchten. Diese Direktiven waren schon an und für sich hart und sinnlos, sie wurden aber zu allem Überfluss von Leuten ohne jede Vorbildung durchgeführt.

    Das war aber noch nicht alles. Wir mussten allein eine „Säuberung“ über uns ergehen lassen. Diese wurde durch Riesenplakate angekündigt. „Genosse“, lautete eines dieser Plakate, „entlarve deine Kollegen, Popen, Kapitalistendiener und andere Konterrevolutionäre.“ Unter diesem Plakat war ein riesiger Kasten für Denunziationen aufgestellt.

    Einer solchen Aufforderung musste doch Folge geleistet werden! Alte Arbeiter, die vielleicht zwanzig Jahre lang an der Werkbank gestanden, aber nie von der Arbeit des betreffenden Instituts gehört hatten, und junge, schneidige Arbeiter, Schlosser, Monteure und Heizer, sie suchten wissenschaftliche Kabinette, Bibliotheken und Sammlungen auf, um die „Säuberung“ nach allen Regeln der Kunst vorzunehmen. Sie konnten sich aber auf dem unbekannten Gebiet nicht zurechtfinden. Was sollten sie glauben und was nicht? Alles kam ihnen wie eine Art schwarzer Magie vor. Sie wanderten von einem Gelehrten zum andern und stellten die sinnlosesten Fragen.

    Die Vertreter der GPU erleichterten ihnen die Arbeit; sie legten sich auf die „soziale Herkunft“ der Spezialisten und ihre mutmassliche Anhänglichkeit an das Zarenregime. Der eine hat in irgendeinem Ministerium gearbeitet, der andere hat mit dem Minister gut gestanden. Dieser oder jener war mit einer geborenen Komtesse, einer Prinzessin, einer Generalstochter verheiratet. Und da die Leute, die über das Schicksal der Wissenschaftler zu entscheiden hatten, nie und nimmer begriffen, was für Leute vor ihnen standen, so jagten sie die besten Fachleute aus den Gründen weg, die mit ihrer Arbeit nicht das Geringste zu tun hatten.

    So schritt die Zerstörung der wissenschaftlichen und künstlerischen Institute immer weiter vor. Die GPU beseitigte die hervorragenden und begabtesten Wissenschaftler.

    Mir war alles gleichgültig geworden. Mein Mann sass ja in der „Schpalerka“, einem Gefängnis, das jedes Kind in der Stadt kannte. In jedem Augenblick konnte auch ich verhaftet werden. Was würde dann mit unserem Sohn geschehen? Er war damals zwölf Jahre alt.

    Es ist vier Uhr. Mein Dienst ist zu Ende. Es ist aber eine Angestelltenversammlung anberaumt. Einer der Ausgänge unseres Instituts ist geschlossen, an dem anderen wachen die Vertreter des kommunistischen Lokalkomitees darüber, dass keiner der Angestellten entwischt.

    Es ist vier Uhr. Ich denke daran, dass mein Junge schon von der Schule zurückgekommen ist. Es ist bitterkalt. Der Ofen ist noch nicht geheizt. Wird der Junge Brennholz bringen? Er tut es nicht gern. Die Arbeit ist noch schwer für sein Alter.

    Die Versammlung hat noch nicht begonnen. Die Vorgesetzten haben sich verspätet. Alle sind müde und hungrig. Es ist kalt im großen Saal. Einige gehen in ihren Mänteln auf und ab, andere sitzen missgelaunt herum. Alle sehnen sich nach ihrem Heim.

     Die Vorgesetzten sind endlich da. Der Redner schreit seine bombastischen Sätze in den Saal.

    Es ist bald fünf.

    Der Junge hat sicherlich Hunger. Ich kann mich nicht entsinnen, ob wir noch Petroleum für den Primuskocher haben. Wird er Petroleum holen? „Um fünf wird der Genossenschaftsladen geschlossen“, denke ich.

    „Der sozialistische Aufbau“, donnert der Redner weiter, „fordert von uns Stossarbeit, Anspannung unseres ganzen Arbeitswillens. . .

     „Der Junge wird doch sicher nicht versäumen, Brot zu holen. Die Brotkarten liegen auf dem Tisch.

     „... Die Industrialisierung schreitet mit Riesenschritten fort und erfasst das ganze Land. ...“

     Ach, wenn ich doch noch vor fünf Uhr kommen könnte! Sonst ist der Genossenschaftsladen schon geschlossen. Wir haben zu Hause nur noch Kartoffelsuppe von gestern, sonst gar nichts. Man weiß im voraus, dass die Versammlung nicht vor neun zu Ende sein wird. Niemand aber wagte es, fortzugehen, das könnte übel angekreidet werden. Ich halte es schließlich nicht mehr aus, schleiche mich weg, laufe wie ein gejagtes Wild zur Treppe hinunter und ziehe vor den Augen des Exponenten des Verbandes der kommunistischen Jugend meinen Mantel an.

     „Sie wollen schon gehen, Genossin? Ist denn die Versammlung schon zu Ende?“ fragt er mich boshaft.

     „Nein, aber ich habe heute Abenddienst.“

     „Ach so“, erwidert er misstrauisch. „Sie sollten aber trotzdem bleiben. Wir stehen vor einer Säuberung.“ Ich höre ihm nicht mehr zu. Ich muss unbedingt nach Hause. Soll denn mein Junge den ganzen Abend hungern?

     Der Winterabend ist recht kalt, etwa achtzehn bis zwanzig Grad unter Null.

     In größter Hast erstehe ich im Genossenschaftsladen das einzige, was ohne Karten zu kaufen ist: Kunsthonig. Ich zahle zwei Rubel dreißig Kopeken für zweihundert Gramm gelbe süßliche Flüssigkeit. Das wird dem Jungen immerhin Freude machen.

     Gleich bin ich zu Hause! Ich steige die Treppe hinauf und schelle. Mit Freude höre ich die kleinen Schritte meines Jungen hinter der Tür.

    „Was ist denn los, Mutti? Schon sechs Uhr! Sieh mal die Uhr an! Ich will doch essen!

    „Hast du Petroleum geholt?“

    „Nein. Die Schlange war zu groß. Wenn man Hunger hat, kann man nicht solange aushalten, man erfriert. Etwas Petroleum ist noch in der Flasche.

    „Hast du Holz gebracht?

    „Nein. Es war zu dunkel im Holzschuppen.“

    „Ach, Junge, Junge! Du hättest trotzdem Holz bringen sollen. Wir werden erfrieren.

    „Ich habe Hunger, Mutti“, antwortet mein Junge in bittendem Ton. „Seit zwölf Uhr habe ich nichts gegessen. Das Essen in der Schule war schlecht, nur Hirsebrei ohne Milch und Zucker mit einer schmutzigen Soße.

    Wir gehen nach der Küche, um die Suppe aufzuwärmen.

    „Ist das alles, Mutti?

    „Ja, Liebling. Aber aus dem Genossenschaftsladen habe ich noch eine Dose Kunsthonig mitgebracht.“

    „Fein! Da können wir ja Tee trinken.

    Der Junge pumpt den Primus auf und schwätzt ohne Unterlass, während ich Kartoffeln zerschneide.

    „Haben sie dich noch nicht entlassen?

    „Nein, noch nicht.

    „Weißt du, Mutti“, sagte der Junge traurig, etwas schuldbewusst, „die Wasserleitung im Badezimmer ist eingefroren.

    „Wieso? Ich habe mich heute früh gewaschen.

    „Als ich von der Schule nach Hause kam, gab es kein Wasser mehr.

    „Dann müssen wir Holz holen. Zieh dich an.

    Wir wandern nach dem Schuppen. Die Tür des Schuppens ist so fest angefroren, dass wir kaum die Kraft aufbringen, sie loszureißen. Die Holzscheite sind schwer und vereist. Wir schinden uns die Haut an den Händen ab.

    „Schade, dass Vati nicht da ist“, sagt der Junge. „Der würde uns den Ofen schön warm heizen.“

    „Ja, der Vater ...“

    Wir arbeiten nun schweigend. Der Ofen im Zimmer brennt. Und ich hoffe, dass die Wasserleitung im Badezimmer wieder auftauen wird. Wir sitzen am Feuer. Auf die glühenden Kloben haben wir einen Wasserkessel gestellt. Der Junge muss seine Aufgaben machen. Er ist schläfrig, und es fällt mir schwer, ihn aufzumuntern. Plötzlich blitzen seine Augen freudig.

    „Mutti, deine Schuhe sind kaputt.

    Wir unterziehen sie einer näheren Betrachtung: sie sind an zehn Stellen geplatzt; von den Sohlen sind nur armselige Reste geblieben. Billige Schuhe kann man nur gegen Bezugsschein bekommen, ich habe aber keinen; beim Schuhmacher muss man für ein Paar Schuhe zweihundert Rubel zahlen; soviel beträgt mein Monatsgehalt.

    Der Junge läuft nach der Küche und bringt mir triumphierend Schuhe, die nicht mehr neu, aber doch ganz brauchbar sind.

    „Wo hast du die her?“ frage ich freudig überrascht.

    „Kennst du sie nicht mehr? Du hast sie im vorigen Jahr dem Mädel im Hof schenken wollen, hast es aber vergessen. Ich habe sie hinter dem Schrank gefunden und geputzt. Ich schenke sie dir, Mutti!

    „Ach, wie lieb von dir! Es sind wunderbare Schuhe!

    Freudig geht der Junge ins Bett und schläft schnell ein. Ich bleibe allein in dem arg mitgenommenen Wohnzimmer, dessen Einrichtung schon zur Hälfte verkauft ist.

    Ob mein Mann noch lebt?

 

Ein schwerer Tag

     Der Morgen graut, aber es ist noch dunkel. Es ist Februar.

     Das Aufstehen fällt mir schwer. Meine Arbeitslust ist vergangen. Ich muss mich gewaltsam in die Höhe reißen. Seit der Verhaftung meines Mannes sind vier Monate vergangen, wir warten noch immer auf das Urteil. Die Erschießungen sind etwas weniger geworden. Tausende aber werden zur Verbannung verurteilt. Als ich die Wohnung verließ, sah ich auf dem Treppenabsatz einen halb vereisten Blutfleck. Mir schwindelte. Der rote Fleck blieb vor meinen Augen. Ich sah ihn überall, wo auch immer ich hinblickte. Vermutlich war der Nachbar, ein notorischer Säufer, auf der schlüpfrigen Treppe zu Fall gekommen und hatte sich das Gesicht verletzt. Aber mein Herz war zusammengezuckt. Auf dem weißen Schnee, der die Strassen bedeckte, glaubte ich immer neue rote Flecke zu sehen.

    Ich wurde im Büro mit der Frage empfangen:

    „Wie steht es mit Ihrer Gesundheit?

    „Ich habe nicht zu klagen. Warum fragen Sie?

    „Jemand hat sich eben telephonisch nach Ihrem Wohlbefinden erkundigt. Das kam uns sonderbar vor. Sie haben doch Telephon zu Hause?

    „Das verstehe ich auch nicht. Besten Dank.

    Merkwürdig. Hatte mich ein Freund warnen wollen? Überwachte mich eine polizeiliche Stelle?

    Kaum aber setzte ich mich an den Schreibtisch, da stürmte eine Kollegin ins Zimmer.

    „Wissen Sie schon, dass Frau E. Selbstmord verübt hat?

    „Was?

    „Ihr Mann war in den Prozess der Hochschullehrer verwickelt. Er wurde zu zehn Jahren Verbannung nach einem Konzentrationslager verurteilt. Sie hat sich aus dem vierten Stockwerk gestürzt.

    Ich arbeite weiter. Aber nach einer Stunde fiel es mir auf, dass ich statt zu arbeiten mit meinem Körper hin- und herschwankte, wobei ich ununterbrochen wiederholte: „Was ist das? Was ist denn das?

    Zu Hause wurde ich durch eine neue Schreckensnachricht überrascht: „Frau Professor V. hat sich erhängt.

     „Und weshalb?“ frage ich automatisch.

     „Ihr Mann wurde zu zehn Jahren Verbannung und Beschlagnahme des gesamten Eigentums verurteilt. Als die GPU-Leute ankamen, um die Sachen zu pfänden, bat sie um Erlaubnis, sich für einen Augenblick zurückziehen zu dürfen. Sie ging in ihr Schlafzimmer und erhängte sich. Als man die Tür erbrach, war sie schon tot.

    „Sie hat es also fertiggebracht.

    So ging dieser schwere Tag zu Ende. Wieder klingelte das Telephon. „Man erkundigt sich nach Ihrem Wohlbefinden“, sagte mir die Nachbarin, die mir den Tee aufsetzte.

    „Sagen Sie, dass ich wohlauf bin, aber Kopfschmerzen habe und im Bett bleibe.

    Jemand hat mich offenbar mit Frau E. verwechselt, alle wundern sich, dass ich noch lebe. Meine Zeit aber ist noch nicht gekommen.

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