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Tatiana, Künstlerin, 23 Jahre alt, wurde auch gefangen genommen. Eines Tages erfährt sie, dass ihr Mann, Wissenschaftler, in die Verbannung geschickt wurde. Wohin? Das sagt man ihr nicht. Dann teilt man ihr mit, dass sie in Freiheit gesetzt wird. Wann? Bald? Niemand weiß es. Sie geht zurück in die Zelle und wartet nun darauf. Denn da draußen ist ihr Sohn. Der braucht die Mutter. Wenigstens die Mutter. Sie wartet nun auf die Freilassung. Sie bekennt: "einen so langen Tag habe ich in meinem Leben nicht erlebt. Ein neuer Tag bricht an. Ich werde wieder zum Spaziergang hinausgenommen. Die Mitgefangenen starren mich erschreckt an. Es ist bekannt, dass die GPU-Leute zuweilen die Freilassung versprechen, nur um den Willen des Gefangenen zu brechen; wird er dann mit neuen Verhören und neuen Drohungen überrascht, so leistet er keinen Widerstand mehr."
Endlich kommt sie doch frei. Da erfährt sie, dass ihr Mann in einem Konzentrationslager im Norden, Richtung finnländischen Grenze ist. Sie darf ihn besuchen. Vorbereitungen sind getroffen, nun kommt sie in dem Ort der Verbannung an.
„Was werden wir nun machen, Mutti?“ fragte der Junge besorgt. „Wer war diese Frau? Kennst du sie?“
„Woher soll ich sie kennen?“
„Wie konntest du denn mit ihr sprechen?“
„Ich konnte nicht anders. Es stellt sich heraus, dass alles anders ist, als wir dachten. Der Autobus fährt nicht, im Gasthof gibt es keinen Platz, und das Gesuch um die Erlaubnis zu einer Zusammenkunft muss man in Medweshja Gora einreichen.“
„Wirst du nach Medweshja Gora fahren?“
„Wenn es sein muss, selbstverständlich. Warten wir bis zum Morgengrauen. Dann gehen wir nach der Stadt. Dort erfahren wir alles.“
„Und wo werden wir wohnen?“
„Wir haben bis zum Abend noch Zeit genug. Bis dahin werden wir schon ein Quartier ausfindig machen.“
„Ich friere, Mutti, es ist so kalt.“
„Willst du nicht auf dem Bahnsteig ein bisschen hin- und herlaufen? Dann wirst du dich erwärmen.“
Er rannte hin und her, trampelte auf dem hölzernen Bahnsteig und zerbrach das dünne Eis der zugefrorenen Pfützen. „Ich friere, Mutti. Meine Füsse sind angefroren. Wann gehen wir denn in die Stadt?“
„Wenn es heller wird. In ungefähr drei Stunden.“
„Bis dahin bin ich erfroren.“
„Rühr dich, laufe nur weiter.“
Ich fürchtete, dass der Junge sich erkälten würde. Es wäre vielleicht klüger, fortzubrechen, überlegte ich. Wir werden es in der Dunkelheit schwer haben, aber wir werden uns etwas erwärmen. Ich war ganz verzweifelt. Da setzte sich die Frau, die mich im Büffetraum angesprochen hatte, wieder zu mir. Ich sah sie jetzt mit Freude, als ob sie eine alte Bekannte wäre.
„Ihr Junge ist ganz erfroren.“
„Ja, er ist ganz erfroren. Was soll ich nur machen?“
„Ich weiß nicht, liebe Bürgerin, ob es dir recht ist. Ich nehme aber in meinem Hause immer Reisende auf. Mein Haus ist recht gut und steht in der Hauptstraße, Leninstraße heißt sie jetzt, früher hieß sie Domstraße.“
„Jeden Morgen kommt dein Mann an uns vorbei. Du wirst's ja sehen.“
„Können wir sofort zu Ihnen gehen?“
„Ja, wir können sofort aufbrechen.“
Die Frau war sichtlich froh, dass sie nicht allein zur Stadt zu gehen brauchte. „Über den Preis werden wir uns schon einigen. Du wirst nicht knausrig sein.“
„Nein. Einverstanden!“
Ich rief meinen Sohn herbei. „Also, gehen wir!“
„Wohin?“ Der Junge war erschrocken.
„Gehen wir, sonst erfrieren wir hier.“
Meinen Sack nahm die Frau selbst auf den Rücken, und wir machten uns auf den Weg. Es war so dunkel, dass wir nichts unter unsern Füßen sehen konnten und blind durch den Kot schritten. Ab und zu sahen wir beleuchtete Fenster in den anliegenden Häusern, sie blendeten aber nur die Augen. Laternen gab es nicht. Die Frau war sehr redselig.
Ich hörte ihr zu und versuchte mir darüber klar zu werden, warum sie sich nachts auf dem Bahnhof aufhielt, und was für ein Interesse sie an uns hatte. Ich hatte keinen Grund, ihr böse Absichten zuzutrauen. Wir waren schlecht angezogen und besaßen wenig Geld. Trotzdem hatte ich Angst. Wohnt sie denn allein? fragte ich mich. Kann man sich in dieser Gegend auf die Bauern verlassen?
„Ist Ihr Mann auf lange verbannt?“ unterbrach die Frau meine besorgten Gedanken.
„Für fünf Jahre.“
„So, dann ist es nicht so schlimm. Auch hier kann man leben. Nur Krankheiten setzen den Leuten zu, Skorbut und Typhus. Viele gehen an Schwindsucht zugrunde.“
Es war eine eigenartige Beruhigung. „Ja, auch hier kann man leben...“ Die Bäuerin sprach ohne Unterlass weiter.
„Die Frau, die bei mir einlogiert war, habe ich zur Bahn gebracht. Ihr Zug hatte, glaube ich, fünfzehn Stunden Verspätung. Das Büfett blieb die ganze Zeit geöffnet. Nach der Abfahrt des Zuges blieb ich auf dem Bahnhof, weil ich Angst hatte, nachts allein den Rückweg anzutreten. Da sah ich dich mit deinem Sohn. Na, dachte ich mir, die ist sicherlich zu ihrem verbannten Mann gekommen.“
„Kommen hier viele Leute an, die ihre verbannten Angehörigen sehen wollen?“ fragte ich.
„Jeden Tag kommen neue Besuche für die Verbannten. Sie kommen zu uns in die Häuser und bitten uns flehentlich, sie aufzunehmen. Man kann aber natürlich nicht jeden erst besten hereinlassen. Außerdem macht uns die GPU Schwierigkeiten. Die ärgert sich, weil wir Fremde aufnehmen, nicht aber GPU-Leute in Miete nehmen. Die brauchen wir wirklich nicht. Mehr als drei Rubel im Monat zahlen die nicht, dabei regnet es Denunziationen. Jeder Bissen, den man sich unter der Hand verschafft, wird verpfiffen. Du darfst mich nicht verraten, dass ich dich aufgenommen habe. Wird die Sprecherlaubnis erteilt, so musst du natürlich deine Adresse angeben. Wir haben uns zufällig kennengelernt, verstehst du?“
Sie schwieg einen Augenblick. Endlich stellte sie an mich die Frage, die sie anscheinend stark beunruhigte: „Wirst du drei Rubel pro Tag bezahlen?“
„Ja.“
Die Lage hatte sich also geklärt. Ich durfte aufatmen, und die Frau auch.
Ich nahm meinen Jungen bei der Hand.
„Frierst du nicht mehr?“
„Es ist mir warm geworden. Ist es noch weit? Ich habe nasse Füße bekommen.“
„Nein, es ist nicht mehr weit, Söhnchen“, antwortete die Frau. „Die Hälfte des Weges haben wir hinter uns. Und wenn wir erst mal in der Stadt sind, sind es nur noch ein paar Schritte bis zum Haus. Ich werde den Ofen heizen, Brot backe ich heute nicht, aber warme Fladen werde ich euch vorsetzen; und Tee gibt es auch.“
Wir waren sehr müde und konnten mit der Frau kaum Schritt halten. Sie hatte ihren Pelz und Rock über die Knie hochgeschürzt. Meine hohen Überschuhe versanken bis zum Rande in dem Schmutz. Mein Junge hatte nur kleine Gummischuhe an. Seine Füße mussten ganz nass sein. Als wir die Stadt erreichten, waren wir völlig erschöpft. Selbst unsere Führerin war still geworden.
Die Hauptstraße lief durch die ganze Stadt, die sich dicht an eine Bucht legte. Querstraßen gab es fast gar nicht. Auch Bürgersteige gab es nicht. Alle Häuser waren aus Holz. Es waren die typischen Bauernhäuser, wie sie in den wohlhabenden Dörfern Nordrusslands überall zu finden sind. Sie bestehen in der Regel aus zwei Zimmern: aus einer „guten Stube“, über der noch ein Dachstübchen angebracht ist, und einer Wohnstube, die den gewöhnlichen Aufenthaltsplatz der Familie bildet.
„Da ist die GPU“, sagte die Frau, indem sie auf ein unförmiges graues Steinhaus mit Spiegelglasscheiben zeigte.
„Kommen wir bald an?“ fragte mein Junge mit mürrischer, weinerlicher Ungeduld. Er war am Ende seiner Kräfte.
„Jawohl, mein Sohn, sehr bald. Sofort! Nur noch vier Häuser und dann sind wir zu Hause.“
Sie beschleunigte ihre Schritte. „Gib deinen Rucksack her, Junge“, sagte sie zu meinem Sohn. Sie nahm den zweiten Sack auf ihren Rücken und lief nun beinahe. Wir humpelten nur mit Mühe ihr nach und versanken oft bis zu den Knien in den Pfützen.
Die Frau machte endlich vor einer hölzernen Gartentür halt, zog an einer Leine, die durch ein Loch der Tür heraushing, und die Tür ging auf. Ein Hund empfing uns mit wütendem Gebell.
„Habt keine Angst. Er beißt nicht.“
An der Haustür zog die Frau wieder die Leine. Wir traten in einen dunklen Vorraum ein, der mit Tonnen, Bottichen, Kisten, Spaten und Besen vollgepfropft war. Wir blieben stehen, da wir uns in der Dunkelheit zwischen all dem Hausrat nicht zurechtfinden konnten. Die Frau schob uns in die Küche, die groß, aber niedrig war. In der Mitte stand ein weißgetünchter Herd. An drei Wänden waren schmale Holzbänke aufgestellt. Über den Fenstern waren Bretter angebracht, die mit blankgeputzten kupfernen Schöpflöffeln, Kannen, Schüsseln und Krügen voll beladen waren. Auf dem Herd stand ein riesiges kupfernes Wasserbecken, das die Form einer Vase hatte. Die Fenster waren mit schneeweißen, spitzenumränderten Vorhängen behängt. Der Fußboden, wie ein Tisch blank gewaschen, war mit bunten, selbstangefertigten Läufern belegt. Die Stube war so sauber, dass man förmlich Angst hatte, sie mit schmutzigen Füßen zu betreten.
Am Herd machte sich eine alte Frau zu schaffen.
„Hast du Gäste mitgebracht?“ fragte sie mit einem flüchtigen Blick auf uns.
„Ja, von der Bahn, Logiergäste.“
„Soll ich den Samowar aufsetzen?“
„Ja. Was willst du backen?“
„Fladen will ich backen.“
„Ziehe die Schuhe aus, mein Junge“, sagte unsere Wirtin. „Wenn du Lust hast, kannst du dich auf den Ofen legen. Oder willst du hier am Feuer bleiben?“
Er zog sich geschwind aus und lief barfuß zu dem Ofen, den die Frau mit einem Besen aus Tannenzweigen abfegte.
Wie hatte sich plötzlich wieder alles geändert! Schmutz, Gestank, Lärm im Eisenbahnzug und auf dem Bahnhof; und nun diese reinliche warme, nach Brot riechende Stube! Hier war alles noch genau so wie vor Jahrhunderten. Der alte Wohlstand war noch nicht ausgerottet. Auch die gute Stube nebenan war sauber und hatte einen ungeheuren Ofen mit einem Anbau zum Liegen. Die hölzerne Bettstelle war mit einer gesteppten Decke überschlagen. Die Kopfkissen waren hoch aufgestellt und mit einem Spitzenbezug überdeckt. In der vorderen Ecke hing ein Schrein mit alten Heiligenbildern an der Wand. An den Fenstern standen Geranien, in der Ecke ein großer Gummibaum. Alles war wie ein Traum aus einer schönen alten Zeit. Wir standen und konnten nicht genug staunen.
„Bitte, der Tee ist fertig“, rief uns die Wirtin zu.
In der Wohnküche dampfte ein richtiger Samowar. In der Zuckerdose aus gepresstem, bläulich schimmernden Glas lagen ein paar kleine Stücke Zucker, die vermutlich von unserer Vorgängerin zurückgelassen worden waren.
Wir setzten uns an den Tisch. Wir erwärmten uns, wir lebten wieder auf, wir unterhielten uns und erzählten und so verging die Zeit. Aber wie langsam verging sie!
Der Morgen brach an. Von der Straße hörten wir plötzlich das Geräusch eiliger Schritte.
„Die Verbannten kommen“, sagte die Wirtin. „Setzt euch ans Fenster und wartet. Dein Mann kommt ja auch. Wo arbeitet er denn?“
„In der GPU-Fischerei.“
„Natürlich kommt er.“
Die Wirtin machte sich an die Arbeit und warf nur ab und zu einen Blick zum Fenster hinaus.
Ich setzte mich auf eine Bank am Fenster. Mein Junge schmiegte sich an mich. Wir blickten zum Fenster hinaus und sprachen kein Wort miteinander. Ich hörte nur sein Herz und mein eigenes klopfen.
Auf der breiten, mit dickem, klebrigem Schmutz bedeckten Straße schritten Trupps von Verbannten einher. Sie schritten frei, ohne von Wachposten begleitet zu sein. Es war ein beinahe unwirklicher Anblick. Sie gingen mit eiligen Schritten, und ihre Gesichter waren abgespannt und von Sorge grau. Merkwürdig war ihre Kleidung. Jeder von ihnen trug irgendein Stück der vorschriftmäßigen Strafgefangenenkleidung, etwa die Hose oder die rostbraune Jacke. Viele hatten Sträflingsmützen mit Ohrlappen auf dem Kopf. Aber fast alle hatten außerdem Reste ihrer früheren Zivilkleidung behalten, etwa eine zerrissene Pelzmütze, einen Wintermantel mit einem Astrachankragen, der jetzt mangels Knöpfen mit einem Riemen zusammengehalten war. Einige hatten ihre alten Kragenschoner um den Hals. Die Frauen waren im allgemeinen besser angezogen. Fast alle trugen selbstgestrickte Kappen auf dem Kopf oder Schals um die Schultern. Sie gingen in klobigen, dicken Männermänteln.
„Wie sieht dein Mann aus? Was hat er an?“ fragte mich die Wirtin.
„Er hat eine braune Lederjacke an“, antwortete mein Junge.
„Er wird gleich kommen“, versicherte die Wirtin. „Die Leute von der GPU-Fischerei gehen etwas später zur Arbeit. Es gibt ihrer Tausende. Ihre Arbeit ist nicht so schwer. Schlimm sind aber die Leute dran, die zu Erdarbeiten beim Chausseebau befohlen werden. Oder zu den Arbeiten im Walde. Die müssen noch vor Tagesanbruch antreten in Trupps. Die Verbannten, die in der Stadt arbeiten, dürfen allein zur Dienststelle gehen. Sie werden nur im Lager an jedem Morgen kontrolliert. Fliehen können sie sowieso nicht. Rings um die Stadt gibt es nur Sümpfe, keine Möglichkeit, sich dort zu verstecken. Außerdem denkt doch jeder an seine Familie. Wenn er flieht, wird ja die Familie verbannt.“
Ich war nicht imstande, auch nur ein Wort zu sprechen.
„Zieh dich an, Söhnchen“, sagte die Wirtin. „Geh auf die Straße. Pass gut auf, wie du es anstellen sollst. Du gehst den Verbannten entgegen. Erblickst du deinen Vater, so darfst du ihn nicht ansprechen, auch kein Zeichen darfst du ihm geben. Ist er aber weitergegangen, so kehre um, hole ihn ein und marschiere vor ihm her. Vielleicht erwischt er einen Moment, wo ihn niemand beobachtet, damit er dir zwei Worte sagen kann, wie es um die Zusammenkunft bestellt ist. Er hat möglicherweise schon selber ein Gesuch eingereicht.“
Eine sonderbare Schule macht die Ortsbevölkerung in Kem durch. Diese Bäuerin kannte alle Schliche der Verbannten und brachte ihre Wissenschaft meinem Jungen bei.
Der Junge zog sich an und lief auf die Straße. Ich sah, dass er im ersten Augenblick zögerte; er wagte anfangs nicht, gegen den Menschenstrom zu gehen. Dann aber fasste er Mut und drängte sich langsam vor.
Die Frauen sahen sich nach ihm um, aber ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Der unbekannte Knabe gehörte ja einer anderen Welt an, einer Welt, die ihnen verloren war, an die sie nicht mehr denken durften. Ich konnte ihnen ihr Leid nachempfinden – ich kannte es aus der Gefängniszeit. Auch manche der Männer drehten sich um, gingen aber weiter, ohne einen Augenblick stehen zu bleiben.
„Weiß dein Sohn Bescheid?“ fragte die Wirtin. „Er soll sich vor Denunzianten hüten. Wird er verpfiffen, dass er mit seinem Vater auf der Straße gesprochen hat, so wird die Sprecherlaubnis zurückgezogen.“
„Da bin ich ohne Sorge. Der Junge weiß gut Bescheid.“
Ein ungeheurer Schmerz bemächtigte sich meiner. Gleich werde ich meinen Mann sehen. Dieser heißblütige, impulsive, kraftvolle Mensch ist ebenso niedergezwungen wie alle anderen. Wenn man nur wüsste, was für einen Zweck das alles hat!
Da ist er! Er schreitet schneller als die anderen. Sein Gesicht ist bleich und von einem schwarzen Bart umrahmt, den ich noch nie an ihm gesehen habe. Seine Hände hält er in den Taschen.
Jetzt hat er mich erblickt. Nur eine kaum wahrnehmbare Bewegung mit dem Kopfe. Dann geht er noch schneller.
Es waren nur wenige Augenblicke. Ich blieb am Fenster sitzen, sah aber nichts mehr. Vor meinen Augen verschwamm alles. Das Geräusch hastiger Schritte auf der Straße wurde seltener. Die Straße wurde immer leerer.
Die Tür knarrte. Mein Junge kam langsam zurück, als ob ihn etwas schmerzte. Er trat ein und vergrub wortlos seinen Kopf in meinen Schoß.
Die Alte schneuzte sich brummend in die Schürze.
Ich wartete eine Weile, dann nahm ich den Kopf des Jungen in meine Hände. Er weinte nicht, ein tiefer Schatten aber lag über seinem Kindergesicht.
„Nun, was hat Vati gesagt?“
„Um zehn sollst du zum Platzkommandanten gehen“, hat er gesagt, „die Sprecherlaubnis ist erteilt.“
„Und was noch?“
„Sonst nichts.“
Er legte wieder den Kopf in meinen Schoß. Nach einigen Minuten stand er, ruhiger geworden, auf. „Gehen wir!“ sagte er.
Wir erkundigten uns nach der Kommandantur. Man sagte uns, dass alle Organe der Regierung, Verwaltung der Gefangenenlager, Miliz und Kommandantur dicht beieinander in einer Straße liegen. Wir gingen hin. Am Tage schien das Städtchen noch kleiner zu sein. Mit Ausnahme des düsteren Hauses der GPU sah alles friedlich aus. Draußen in der Bucht, die von Granitfelsen umrahmt war, lagen Inseln, idyllisch und zart. Es war schön hier, aber man konnte bei keinem Schritt vergessen, dass man im hohen Norden war.
Wir kamen zur Kommandantur: ein schmaler Korridor, ein Zimmer, das durch eine Bretterwand in zwei Hälften geteilt war, mit einem Schalter.
Hinter dem Schalter ein kräftiger GPU-Mann: das war der Platzkommandant. Ein rundes, fettes, rotbäckiges Gesicht, ein robuster Körper und, wie alle GPU-Leute, ganz versteift. Es ist eine eigenartige Dressur.
Ich frage: „Wie kann ich die Erlaubnis bekommen, einen Gefangenen zu sprechen?“
„Dazu ist der Tisch für Zusammenkünfte da.“
„Mein Mann schrieb mir aber, dass er bereits ein Gesuch um die Bewilligung einer Zusammenkunft eingereicht hätte“, schwindle ich, weil ich nicht erzählen darf, dass mein Junge den Vater auf der Straße gesprochen hat, „die Erlaubnis liegt möglicherweise schon vor.“
„Tisch für Zusammenkünfte.“
Bums, der Schalter wird zugeschlagen. Ich kann nicht einmal fragen, wo dieser „Tisch für Zusammenkünfte“ zu finden ist.
Wir stehen wieder auf der Straße. Ein paar Fußgänger schlurfen an uns vorbei. Sie sehen aber alle wie Verbannte aus. Man darf sie nicht ansprechen, sonst werden sie vielleicht bestraft.
„Wo gehen wir jetzt hin, Mutti?“
„Gehen wir zur Verwaltung der GPU.“
Wir sehen uns das Haus genau an. Im Erdgeschoss waren früher Verkaufsläden. Sie sind jetzt geschlossen. Wir können den Eingang in das Haus nicht finden. Endlich stoßen wir auf einen GPU-Mann.
„Bitte, wollen Sie mir vielleicht sagen, wo der „Tisch für Zusammenkünfte“ ist?“
„Zweiter Stock.“ Der Mann geht weiter.
„Wie komme ich dorthin?“ rufe ich ihm nach.
Er macht eine Bewegung mit der Hand, die auf die Ecke zu zeigen scheint. Richtig. Dort finde ich den Eingang, der direkt zum zweiten Stockwerk führte. Alles wie vorher in der Kommandantur: Kanzlei, Bretterwand, Schalter und über dem Schalter sogar die Inschrift: „Tisch für Zusammenkünfte.“ Vor dem Schalter stehen schon mehrere Personen, zwei oder drei Frauen aus gebildeten Kreisen, eine Bäuerin mit einem Säugling unter dem Halb-pelz und eine Dame in Seidenmantel. Ich bin erstaunt, dass die Dame es gewagt hat, in einem kostbaren Pelzmantel hierher zu kommen, während ihr Mann im Strafgefangenenlager ist.
Hinter dem Schalter sitzt ein Mann, den ich an seinem hoffnungslosen Blick sofort als Verbannten erkenne. Ich frage:
„Wie kann ich die Erlaubnis zu einer Zusammenkunft bekommen?“
„Füllen Sie den Fragebogen aus.“
„Und wenn mein Mann um die Erlaubnis bereits nachgesucht hat und die Erlaubnis schon da ist?“
„Füllen Sie den Fragebogen aus“, wiederholt der Mann leise.
Ich ärgere mich darüber, dass ich offenbar abermals nicht an den richtigen Schalter gekommen bin und dass ich anscheinend nicht richtig frage. Von anderen Frauen höre ich, dass eine seit einer Woche auf die Erlaubnis wartet, eine andere seit zehn Tagen. Das Gesuch wird an die Verwaltung nach Medweshja Gora geschickt.
Ich fülle den Fragebogen aus. Mein Junge ist sichtlich besorgt, sagt aber kein Wort, bis wir wieder auf der Straße sind.
„Hör mal, Mutti, Vater hat doch gesagt, dass du zum Kommandanten gehen sollst und dass du von ihm die Erlaubnis kriegst.“
„Du weißt doch, Liebling, was mir der Kommandant gesagt hat.“
„Vati hat's aber anders gesagt“, erwiderte er und ist dem Weinen nahe.
Wir gehen wieder zum Kommandanten. Aber das Resultat bleibt dasselbe. Ich kann meinen wohl vorbereiteten Satz nicht einmal zu Ende sprechen. Der Schalter wird wieder zugeschlagen.
Wiederum zum „Tisch der Zusammenkünfte“! Wieder warten! Und dann den leisen Rat, ich möge abends noch einmal wiederkommen. Und wieder auf der Straße.
Wir schlendern mutlos durch die Straßen, lassen uns das verwahrloste, schmutzige Gebäude der Fischereitrusts zeigen, das früher sicherlich einem wohlhabenden Bauern gehört und ganz anders ausgesehen hat. Durch die Fenster ist kein Menschenwesen zu erspähen. Wir kehren um. Plötzlich hören wir bekannte hastige Schritte in unserem Rücken.
„Hast du die Erlaubnis erhalten?“
Ich antworte mit einer verneinenden Kopfbewegung.
„Kommt zum Kommandanten“, sagt er uns überholend.
„Siehst du“, jauchzt der Junge.
Mein Mann geht schnell und kommt vor uns an. Wir folgen ihm. „Hier sind meine Frau und mein Sohn. Sie sind gekommen, um mich zu sehen. Man hat mir die Erlaubnis zugesagt. Ist sie schon da?“
Wir stehen schweigend und wagen nicht einmal, den Vater zu grüssen.
„Sie können miteinander sprechen“, sagte der Kommandant mit derselben versteinerten Stimme und schlägt den Schalter zu.
Wir setzen uns auf die Bank am Fenster. Das Gespräch kommt aber nur schleppend in Gang. Der Junge hat die eine Hand des Vaters ergriffen, ich drücke ihm die andere. Seine Hände sind heiß und zittern, meine Füße aber sind eiskalt. Der Junge streichelt die Hand des Vaters, seinen Mantel, sein Knie.
„Hast du mich trotz des Bartes wiedererkannt?“ fragt endlich der Vater.
„Ja, ich habe dich erkannt“, antwortete der Junge ernst. „Rauchst du jetzt Pfeife?“
„Ja, ich rauche jetzt Pfeife. Woher hast du das erkannt?“
„Du hast eine Pfeife in der Tasche.“
„Richtig!“ Er holt die Pfeife aus der Tasche und nimmt sie in den Mund.
Mir graut es. Es ist dasselbe Gesicht, und doch ist es ein anderes. Wie viele Jahrhunderte sind seit dem Tage vergangen, an dem wir zum letzten Mal einander angeblickt haben? Oder war das vielleicht in einem anderen Leben? Er ist furchtbar blass, die Haut ist von dem Leben in der eisigen Baracke rau und dunkel geworden. Über sein ganzes Gesicht haben sich Schatten gelegt, besonders um die Augen und um den Mund. Die Backenknochen treten hervor. Am erschreckendsten erscheint nur der Hals: er ist furchtbar abgemagert, trocken und faltig, der Hals eines Greises, ein Hals, der kaum imstande ist, den Kopf zu tragen.
Der Schalter geht auf.
„Bürgerin, geben Sie Ihren Pass her!“
Ich reiche meine Papiere.
„Hier ist die Erlaubnis zur Zusammenkunft. Bestätigen Sie den Empfang. Ihren Pass erhalten Sie nach Beendigung der Zusammenkunft zurück.“
Es war eine Erlaubnis für wenige Tage. Eine Erlaubnis, dass mein Mann in den freien Stunden bei uns, anstatt in der Kaserne wohnen durfte.
Wir glauben es noch nicht, fassen es nicht. Er darf also jetzt, jetzt gleich, mit uns mitkommen. Und so gehen wir alle drei zusammen durch die Straße. Der Vater hält den Sohn bei der Hand. Ich schreite neben ihm. Der Vater steckt in hohen Stiefeln und schreitet durch den Schmutz, ohne ihn zu bemerken.
„Wo gehen wir eigentlich hin?“ fragt der Vater. „Wo seid ihr abgestiegen? Es ist furchtbar, dass ich nichts vorbereiten konnte. Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte, und der Zug kommt in der Nacht an.“
Er war so erregt, als ob er erst jetzt unseren Brief bekommen hätte, worin wir ihm unsere bevorstehende Ankunft mitgeteilt hatten. Nach den Vorschriften der GPU durften die Anverwandten einem Verbannten ja so oft schreiben, wie sie wollten — er selbst aber darf nur einmal im Monat antworten.
„Alles klappte sehr gut; es ging ausgezeichnet.“
„Weißt du, Vati“, unterbricht mich der Junge, „Mutti ging mit einer ganz unbekannten Frau vom Bahnhof in die Stadt.“
„Ist euch etwas zugestoßen?“ fragte besorgt der Vater.
„Nein, nein“, und ich erzähle ihm rasch, beinahe mit Verlegenheit.
„Die Ortsbewohner sind sehr gute Leute. Ich darf aber jetzt nicht länger bei euch bleiben, ich muss zur Arbeit; man hat mich, weil ihr angekommen seid, für kurze Zeit freigegeben — aber die kurze Zeit ist um.“
„Wieso, Vati? Warum musst du gehen?“
„Also gut, ich werde noch ein paar Minuten bei euch bleiben. Dann gehe ich zur Arbeit und komme um vier Uhr wieder. Der Tag ist bald vorbei.“
Wir treten durch die Tür ein. Dem Jungen macht es Spaß, mit dem eigenartigen Schloss zu hantieren. Er zieht an der Leine und die Tür geht auf. Der Vater folgt dem Jungen unsicher. Er hat verlernt, fremde Häuser zu betreten, und muss sich jeden Schritt überlegen. Denn für Verbannte ist alles verboten.
„Komm, Vati! Hier ist die Küche, und daneben ist unser Zimmer.“
Der Vater bleibt verlegen an der Schwelle stehen. Er macht in der Tat eine unheimliche Figur. Seine groben Stiefel verursachen furchtbaren Lärm. Seine ehemals so schöne Lederjacke ist voll Flecken. Die Taschen sind ausgerissen, die Knöpfe zum Teil abgerissen, zum Teil zerbrochen. Die Pelzmütze ist ganz schäbig geworden. Er hält sie in der Hand und macht vor der Wirtin eine verlegene Verbeugung.
„Willkommen. Tretet bitte näher. Meine Glückwünsche zu eurer Zusammenkunft!“ sagt die Wirtin.
„Ich bin so schmutzig, meine Stiefel...“, sagt mein Mann verlegen. Er mag nicht, den rein gewaschenen Fußboden und die bunten, reinlichen Läufer zu betreten.
„Ach was! Nur keine Angst haben! Außerdem habe ich die Stube heute noch gar nicht gefegt. Ganz verdreckt ist sie durch die Hühner. Entschuldigt bitte!“
Die Frau versucht, die Hühner und den schmucken, frechen Hahn im Hühnerstall einzusperren, der am Ofen angebracht ist. Der Hahn aber flattert von Ecke zu Ecke, und zum Entsetzen der Wirtin erhebt er ein furchtbares Geschrei.
Mein Mann setzt sich auf die schmale Bank, wischt seine Füße sorgfältig ab und geht vorsichtig in die gute Stube. Seine Bewegungen sind ganz anders geworden, sie sind langsam, gebunden, ungelenkig.
Wir sind in der guten Stube. Mein Mann schließt die Türe leise hinter sich. Dann reicht er mir und dem Jungen beide Hände. So standen wir, als wir bei seiner Verhaftung Abschied von ihm nahmen. Ich fühle, wie das Leid, das mir dieses Jahr der grausamen Verfolgung gebracht hat, wieder in mir aufsteigt und alle anderen Gefühle verdrängt. Ich will mich freuen und kann nicht. Ich finde kein Wort. Ich versuche zu lächeln, da sehe ich, dass seine Augen voll Tränen sind, die zwischen seinen schwarzen Wimpern hängen bleiben.
„Vati, lieber Vati, du sollst nicht weinen“, flüstert der Junge, indem er die Hand des Vaters streichelt. „Du siehst, Vati, wir sind zu dir gekommen, und wir kommen bald wieder. Armer, armer Vati.“