Zurück zur Hauptseite
Teil 6
In Riga
Tausende Mennoniten werden von Moskau zurückgeschickt. Es ist Dezember. Der Winter ist eingebrochen. In den mennonitischen Kolonien hoffen viele darauf, dass es 1930 klappen wird, im nächsten Frühling auszureisen. Jetzt hat eine große Gruppe ausreisen können. Viele denken, das nächste Mal sind wir dran. Vor noch wenigen Jahren ließen die Sowjets 20 tausend Mennoniten nach Kanada auswandern. Warum auch nicht im kommenden Jahr?
Wie oft werden wir von Hoffnungen getragen, die sich im Nachhinein als ein Wahn entpuppen! Über das Schicksal der Zurückgetriebenen, Zurückgebliebenen schreibe ich ein anderes Mal.
Sehen wir uns heute jene Glücklichen an, die raus durften. Ich beschränke mich auf die Texte und Briefe, die im Boten veröffentlicht wurden.
Es fiel mir auf, dass im ersten Augenblick, mitten im Sturm der Ereignisse, niemand von der Durchfahrt durch “Das Rote Tor” spricht. Auch niemand erwähnt das Singen von “Nun danket alle Gott”, als sie endlich aus Russland raus waren. Diese Erinnerungen scheinen erst später wichtig geworden zu sein. Bei tiefgreifenden Ereignissen schafft es der Mensch nicht sofort alles Wichtige zu erfassen. Erst im Nachhinein, wenn er das Vergangene noch mal vergegenwärtigt, erkennt er besser das, was bedeutungsvoll war und mit in die Zukunft hinüber genommen werden sollte.
Welches sind also die ersten Eindrücke und Erlebnisse dieser Glücklichen, denen es gewährt war, die sowjetische Hölle zu verlassen, so weit es im Boten veröffentlicht wurde?
Riga, den 26. November 1929.
An den Boten!
Da ich außer der Adresse der lieben Eltern C.D.H. keine weiteren Adressen habe, aber gern mit den lieben Angehörigen, Verwandten und Bekannten in Briefwechsel treten möchte, so sende ich diese Zeilen an dich, lieber Bote, damit du sie weitergibst. Besonders möchte ich, dass diese Zeilen die lieben Eltern Cornelius Wallen lesen, von denen wir schon seit März d.J. keine Nachricht haben. Zugleich bitte ich diejenigen, welche etwas über unsere Geschwister in Moskau wissen, uns darüber zu benachrichtigen und ihre Adresse einzuschicken.
Wir weilen hier in Riga seit dem 14. Oktober, und haben von ihnen keine Nachricht, obzwar wir gleich nach unserer Ankunft an sie geschrieben haben und ihnen unsere Adresse geschickt haben. Höchstwahrscheinlich sind sie in einer sehr schwierigen Lage, was wir ja an uns selbst erfahren haben. Aber wir wollen Dem vertrauen, der auch uns, als scheinbar kein Ausweg war, aus Russland wegzukommen, geholfen hat. Er wird auch ihnen helfen.
Wir sind in Riga zurückgehalten worden, weil in einem Auge meiner Frau sich Spuren von Trachom gefunden haben. Sonst ist der Gesundheitszustand befriedigend. Unsere Adresse ist: Riga, Latvia; Tornsberg Briescemnica iela 26 — 28, Emigrantenhaus. Peter P. Dück
„Der Bote", Mittwoch, den 25. Dezember 1929
"Seit dem 14. Oktober” ist dieser Peter P. Dück in Riga. Er schreibt am 26. November. Also sind er und seine Familie schon über einen Monat in Riga. Er gehört zu jenen, die noch “normal” ausreisen durften. Wie die Siemensfamilie, meine Großeltern väterlichseits. In seinen Tagebüchern erwähnt mein Vater, dass sie eine angenehme Zeit in Moskau verbracht haben. Sie mussten einen Monat warten, bis sie ausreisen konnten, weil Großmutter ihre Augen behandeln lassen musste.
Auch in Riga mussten sie eine längere Zeit bleiben, weil Kanada keine Einreiseerlaubnis erteilte wegen des Augenleidens meiner Großmutter.
”Aus der alten Heimat” heißt eine Spalte, die in vielen Ausgaben des Boten erschien, Heimat die seine kanadischen Leser ja vor wenigen Jahren verlassen hatten.
Es ist auch interessant festzustellen, wie viele Mennoniten nicht die Adressen ihrer Verwandten in Kanada haben und dann ihre Briefe an den “Boten” richten, wie an einen lieben Verwandten, der ihre Briefe weiterleiten soll.
Aus der alten Heimat
Auszüge aus Briefen.
Lieber Bote!
Sende dir Auszüge aus den Briefen unserer Kinder aus Riga zu. Die Briefe handeln meistens von unsern Kindern. Um zu zeigen, wie sehr wir mit den Geschehnissen und den Personen im Briefe verbunden sind, werde ich bei den betreffenden die entsprechenden Erklärungen machen. Die Schreiber sind vor nicht langer Zeit ebenfalls aus Russland nach Riga gekommen, wo sie wegen ihrer Augen zurückgehalten worden sind.
„...Wir erfuhren in Riga, dass Emigranten ankommen sollten, und machten uns gleich auf zur Station in der Hoffnung, etliche von unsern Verwandten begrüßen zu können. Die anfänglich tote Station belebte sich bald. Es kamen Küchen mit Speisen an, und es wurden großartige Vorbereitungen zum Empfange der Emigranten getroffen. Endlich, um 9 Uhr morgens kamen sie an. Wir schauten sehnsüchtig die Reihen entlang und konnten keinen von unsern Lieben entdecken.
Da mit einmal entdeckten wir David Harder (Sohn meines verst. Bruders David C.H.) aus Petrowka. Wir waren sehr neugierig von unsern lieben Geschwistern in Moskau etwas zu erfahren. Und sie erzählten. Zu unserm großen Leide erfuhren wir, dass sie alle nach Sibirien zurückgeschickt worden sind. Das war ein Stich ins Herz. Kornelius (unser Sohn. C. H.) hatten sie zuerst arretiert und von der Familie gewaltsam weggerissen. Sein Weib hat sehr gejammert. Da hat man sie und die Kinder auf ein Auto geladen, in den Waggon gebracht und zurückgeschickt. Heinrich (unser Schwiegersohn C.H.) wurde ebenfalls arretiert und seine Frau Anna allein gelassen. Des Nachts ist dann ein Mann zu ihr gekommen und hat gesagt, sie solle alles einpacken, sie werde nach Deutschland fahren. Darüber ist sie froh gewesen, da sie ja dann zu euch würde kommen können.
Aber bald ist ein zweiter Mann gekommen und habe sie gefragt, woher und wer sie sei. Als er hörte, dass sie aus Sibirien sei, sagte er: Dorthin wirst du auch fahren. Wie hat es sie geschmerzt, ganz allein mit dem Kinde zurückzufahren. Aber es half kein Weigern. Wie der Berichterstatter weiter erzählte, haben beide Frauen ihre Männer wiedergefunden; er wusste aber nicht, auf welche [Weise]. Johann Harder (unser Sohn G. H.) haben sie auch mit Familie zurückgeschickt, aber ohne ihn zu arretieren. Ihren kleinen Gerhard haben sie in Moskau begraben.
Nikolai Wiens wurde zurückgeschickt, und seine Frau und Kinder sitzen in Moskau ohne Brot. Kornelius (der Sohn unserer verstorbenen Tochter C.H.) stand eines Tages auf der Station in Moskau und weinte. Als die Frage eines Herrn Warkentin aus K., was ihm fehle, antwortete er, dass sie ganz allein in einem Russendorf in einer ungeheizten Stube ohne Brot und Geld wohnten, und die Mutter scheine den Verstand zu verlieren. — Onkel Gerhard Wiens (Ältester in Sibirien an meiner Statt. C.H.) ist auch zurückgeschickt worden. — David Harder, der wie schon gesagt, in Riga angekommen ist, war schon drei Tage unterwegs nach Sibirien, als er erfuhr, dass seine Familie nicht mit sei. Kurz entschlossen stieg er aus, löste eine Fahrkarte zurück und fand nach neuntägiger Abwesenheit seine Familie wieder. Am Abend hatte er sie gefunden, und am anderen Tage sind sie schon nach Deutschland abgefahren. Er begreift selbst nicht, wie er durchgekommen ist.
Unser Sohn Peter schreibt: „David Harder erzählte uns, wie man ihn und die anderen Arretierten behandelt habe. Die Stube, in der sie sich befanden, wurde mit heißem Dampf angefüllt, so dass sie sich nackend ausziehen mussten, um nicht vor Hitze umzukommen. Zudem wurde ein elektrischer Strom hineingelassen, so dass ihre Augen ganz krank wurden. Als sie schon ganz mürbe waren, wurden sie zum Verhör gezogen und aufgefordert zu unterschreiben, dass sie freiwillig zurückkehren wollten. Aber trotz allen Quälereien gaben nur 3 oder 4 ihre Unterschrift. Zehn Züge voll sind zurückgeschickt worden, und dabei sind viele Familien auseinandergerissen worden: der Vater kam nach dem Süden, die Mutter mit den Kindern nach Sibirien. Viele Kinder sollen in Moskau ohne ihre Eltern zurückgeblieben sein. Beim Einladen in die Züge ging's nicht ohne Gliederbrüche ab. Von einer Frau wurde erzählt, dass sie während der Geburt aufgeladen worden sei. Eine andere Frau, die im Zuge niederkam, wurde auf der folgenden Station abgeladen und aufs Pflaster gelegt, und dort ist sie mit ihrem Kindlein gestorben.
Jakob Löwen, ein Mann von 60 Jahren, wurde mit Gewalt in den Zug gebracht. Er weigerte sich zu gehen und hielt sich am Türgriff fest. Aber vier Mann überwältigten ihn doch. Er ließ den Griff nicht los und riss ihn heraus aus der Tür. Er wurde gebunden, auf ein Auto geladen und in den Waggon gebracht. ...
Als der Zug in die Station eingelaufen war und die meisten Emigranten aus dem Zuge waren, wurde das Lied angestimmt: „Lobe den Herrn, o meine Seele!" Die Flüchtlinge wurden gespeist, und die Nackten mit Kleidern versehen. Die Emigranten dankten Lettland und Deutschland für die erwiesene Hilfe. Beim Abschiede wurde der 121. Psalm verlesen und das Lied: „O dass ich tausend Zungen hätte..." gesungen. Nachdem sie in deutsche Waggone verladen waren, wurden sie nach der Grenzstation Eydtkuhnen gefahren.
In Liebe Ihre Peter u. Marg Duck. Riga, den 1. Dezember 1929.
Wie mag wohl Elternherzen zumute sein, wenn sie solches von ihren Kindern und Enkeln vernehmen? — Ich weiß es. Und Gott weiß es auch.
Mit Gruß C. D. Harder, Mayton, Alta.
„Der Bote", Mittwoch, den 15. Januar 1930
”Es kamen Küchen mit Speisen an”, selbstverständlich handelt es sich um Rote-Kreuz-Küchen, die sich der verarmten Flüchtlingen annehmen. Dabei fällt auf, wieviel Gutes an unserem Volk anonym getan wurde.
Davon hat mir mein Vater erzählt. Ihr schönster Zeitvertreib in Riga war, zur Bahnhofstation zu gehen und zu sehen, ob Verwandte oder Bekannte aus ihrem Dorf angekommen waren.
Dabei erfuhr man aber auch die Erzählungen, wie Verwandte mitten in der Nacht aus den Wohnungen geholt worden waren und in Züge geworfen, die nach Sibirien gingen, nicht in das Heimatdorf. Man hat auch später erfahren, dass solche Züge dann irgendwo anhielten, Menschen hinausgeworfen wurden und sich selbst im Schnee und Wald überlassen wurden.
Wer zum Bahnhof ging, erlebte Geschichten des Wiedersehns aber auch Erzählungen von Grausamkeiten wie z.B. die Geschichte des “Nikolai Wiens”, der in die Verbannung verschleppt wurde und die Frau mit Kind unbemittelt in Moskau sitzen blieben. Dabei muss man bedenken, dass diese Frau vielleicht nie aus dem Dorf gekommen war und keine Ahnung hatte, wie sie jetzt mit ihrem Schicksal in der Großstadt fertig werden sollte.
Wie gern würde ich mich mit dem oben genannten “David Harder” unterhalten. Das muss eine abenteuerliche Erzählung hergeben: er wird von der Polizei gefangen, muss unglaubliche Misshandlungen ausstehen, wird dann in einen Zug nach Sibirien gesteckt. Nach drei Reisetagen entdeckt er, dass die Frau nicht mit im Zug ist, sondern in Moskau geblieben ist. Er schafft es auszusteigen und die Rückreise anzutreten. Wie hat die Polizei es nicht gemerkt? Mit welchem Geld hat er die Fahrkarte eingelöst? Er kommt in Moskau an und findet seine Familie. Kann man es sich vorstellen, wie die angstvollen Nächte seiner Frau gewesen sind? Am nächsten Tag steigen sie ein und reisen in die Freiheit.
Wenn zurückgebliebene Mennoniten von dieser Geschichte erfahren haben - “Der Bote” wurde auch weiterhin nach Russland verschickt - wie wird sich mancher Mennonit beschuldigt haben: Warum habe ich es nicht auch so gemacht wie dieser David Harder? Solche die fügsam und anpassungswillig waren, landeten eher im Konzentrationslager und im Verderben, andere wie Harder, die unbeugsam gegen das Schicksal angingen, konnten sich retten.
Das ist aber keine Regel: oft haben gerade die Flexiblen, die Anpassungsfähigen die sowjetische Hölle überleben können.
Hier wurde ein anderes Lied gesungen: „Lobe den Herrn, o meine Seele!"
Die meisten Erretteten mussten mit sehr gemischten Gefühlen fertig werden: einerseits die Freude, aus Russland rauszukönnen, andererseits das Leid, Lieben zurückgelassen zu haben:
* Mountain Lake, den 21. Dezember. —*
Hier ging diese Tage die Nachricht ein, dass Prediger Johann Töws von Ignatjewka, früher Lehrer an der dortigen Zentralschule, dann bei Suworowka, Kaukasus, in leitender Stellung, später wieder in Ignatjewka, seit dem 11. November in Moskau im schwersten Kerker schmachtet. Seine Nerven hatten schon vorher durch „Zusehen“ der Beamten sehr gelitten. Die Familie ist in Deutschland. Was für schwere Weihnachten werden wohl manche unserer Glaubensgenossen haben!
A. Kröker
Der Bote", Mittwoch, den 1.Januar 1930
Deutschland war nicht der einzige Weg ins Ausland. In einer anderen Ausgabe habe ich über die schwedischen Bauern in Russland berichtet, die zurück in die Heimat ihrer Vorfahren auswandern durften.
Nun lesen wir einen Bericht über russische Bauern, die sich nach Finnland durchgeschlagen haben:
Russische Flüchtlinge in Finnland.
Die „Free Press“ veröffentlicht folgende Nachricht aus Finnland:
In der vorigen Woche haben verschiedene Gruppen von Flüchtlingen die finnische Grenze überschritten. Sie kamen völlig erschöpft in der Nähe von Juolaparvi an. Die meisten kamen paarweise an, und gegenwärtig sind ungefähr 18 Flüchtlinge in Finnland. Unter ihnen ist auch eine Frau. Die Flüchtlinge sind zum größten Teil 30 Jahre alt und stammen aus verschiedenen Gegenden Russlands. Unter ihnen sind auch gewesene Gutsbesitzer aus der Ukraine. Alle waren als politische Verbrecher nach Solowesk verbannt worden. Die Frau gehört nicht zu den Verbannten, sie war als Köchin angestellt.
Die Gruppe hatte schon lange vorher einen Plan zur Flucht ausgearbeitet, und vor etwa drei Wochen bot sich ihnen die Gelegenheit dazu. Aus einem Gespräch der wachthabenden Soldaten erfuhren sie, dass sie sich in der Nähe der finnischen Grenze befanden. Sie überfielen die Wache, nahmen ihnen Flinten, einige Nahrungsmittel und eine primitive Karte weg und machten sich durch die mit Schnee bedeckten Wälder auf den Weg zur Grenze. Ihre Nahrungsmittel gingen nach vier Tagen aus, und sie waren genötigt, sich von Beeren und Moos zu nähren. Durch die erschöpfende Wanderung ging einer nach dem anderen verloren, so dass nur ein Teil der Gruppe über die Grenze gekommen ist.
Die Flüchtlinge wurden von den finnischen Soldaten aufgenommen, gekleidet und gespeist. Darauf wurden sie ins Lager bei Rovaniemi gesandt. Über diese Flüchtlinge und über ihre verlorenen Kameraden werden Informationen eingeholt. Einstweilen veröffentlicht die finnische Regierung keine Informationen, die sie erhalten hat. Es ist möglich, dass sich unter den Flüchtlingen auch Sowjetagenten befinden.
Die Flüchtlinge erzählen, dass sich in Solowetsk ungefähr 450 Sträflinge befinden. Etliche von ihnen müssen Holz fällen. Dieses erklärt, weshalb die russische Regierung das Holz so billig auf dem Holzmarkt verkaufen kann. Die Lage der Verurteilten in Solowetsk spottet jeglicher Beschreibung. In der Behandlung der Gefangenen herrscht keine Gerechtigkeit. Für die leichtesten Vergehen werden die Gefangenen gequält, und die Frauen sind ganz von der Gnade der bestialischen Wache abhängig. Sie wohnen in ungeheizten Zelten oder Baracken.
Sie erzählen von einer schrecklichen Todesstrafe, die 200 Gefangenen erlitten haben. Im vorigen Februar wurden sie zum Tode durch Erfrieren verurteilt. Sie mussten ihr eigenes Grab graben, alsdann sich nackend ausziehen und sich in das Grab legen. Sie wurden bewacht, bis sie tot waren. Ein Flüchtling, namens Ahonen, erzählt von sich selbst, dass er ein erblicher Verbannter sei, da sein Vater in der Verbannung in Solowetsk gestorben sei. Auch andere Gruppen Verbannter sollen revoltieren, und die Wache veranstalte förmliche Jagden um das Weiße Meer herum, um die Flüchtlinge zu fangen. Man fürchtet, dass die nicht über die Grenze gekommenen Flüchtlinge der Wache in die Hände gefallen sind, oder dass sie umgekommen sind. Die russische Behörde hat bei der finnischen Regierung keine Anfrage über die Flüchtlinge gemacht.
„Der Bote", Mittwoch, den 4. Dezember 1929
Bestialisch, ich weiß kein besseres Wort dafür. Die Leiter in Moskau suchten sich in jedem Ort, in den sie kamen, den Abschaum der Gesellschaft aus und setzten diese nun als Leiter und Führer ein. Und insofern keine weiteren Anweisungen von oben kamen, konnten sie nun alle ihre Fantasien von Macht über die früher angesehenen Bewohner der Umgebung auslassen. Solange sie die Anweisungen Moskaus befolgten, brauchten sie sich vor nichts zu fürchten.
Ein lutherischer Pfarrer in Hamburg, der sich der angekommenen Flüchtlingen annahm, schreibt in einer Zeitung über “Die religiösen Motive der Bauernflucht”. Ende der zwanziger Jahre und Anfang der dreißiger ist die kommunistische Partei sehr stark in Deutschland und bezweifelt die Gründe, warum diese deutschen Bauern aus einem so wunderbaren Land geflohen sind, wie das sowjetische Russland. Da bedarf es der Aufklärungsarbeit. Ich habe den Bericht etwas gekürzt.
Die religiösen Motive der Bauernflucht.
Von Dr. H. Wagner, Auswandererpfarrer in Hamburg.
Nicht nur die Pilgerväter aus England, sondern auch die zahlreichen deutschen Auswanderer (unter ihnen viele Mennoniten) zogen als "ein Heer von Märtyrern" über Land und Meer, um in der Ferne ungehindert ihres Glaubens froh zu werden. Mit der Verweltlichung unseres Kulturlebens und mit der zunehmenden Bedeutung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Vorgänge traten diese religiösen Motive der Auswanderung im letzten Jahrhundert mehr und mehr in den Hintergrund.
"Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein." Ehe wir's uns versehen haben, sind wir wieder mitten hineingestellt in eine große geistige Auseinandersetzung, die durchaus religiösen Charakter trägt. Ein Symptom dafür ist die ungeheure Katastrophe, die jetzt über die Rußlandeutschen hereingebrochen ist. Ueber die natürlich nicht zu leugnenden wirtschaftlichen Hintergründe der Flucht unserer Stammesgenossen aus Rußland wurde häufig genug schon geschrieben. Aber es ist nicht in gleicher Weise bekannt, daß für das Entweichen dieser vornehmlich mennonitischen Bauern, die schon einmal um ihres Glaubens willen den Wanderstab ergriffen haben und damals in die russische Wildnis gezogen sind, auch heute wieder die religiösen Motive fast noch gewichtiger waren als die wirtschaftlichen.
Als ich im letzten Jahre mit den Führern jener 18,000 Auswanderer, die bereits nach dem Kriege von Rußland nach Canada gezogen sind, in ihrer canadischen Zentrale Rosthern sprach, kehrte als gleichlautender Refrain überall die Klage wieder: Weil wir mit den niedrigsten Schikanen darin gehindert wurden, unsere Kinder in dem Glauben, der den Vätern Kern und Stern ihres Lebens war, zu erziehen, haben wir es vorgezogen, unsere großen (damals übrigens noch lebensfähigen!) Güter aufzugeben, um in Canada wieder freie, innerlich unabhängige Menschen zu sein.
Auf denselben Ton waren nun auch die Klagen der patriarchalischen Führer der neuen Flüchtlinge gestimmt, mit denen soeben die Hamburger Auswanderermission, wohl als erste deutsche Organisation, in engste Fühlung getreten ist, nachdem sie das Land verlassen hatten, wo ihnen nicht nur ihr Hab und Gut bedroht, sondern die früher zugesicherte religiöse Bewegungsfreiheit unter einem furchtbaren geistigen Terror genommen worden ist. Aber soviel ist sicher, dass hinter der die ganze Welt interessierenden Katastrophe ein Geistesringen von Riesenmaßen sichtbar wird.
Es ist deshalb auch kein Wunder, dass der tiefgefühlte Dank der Flüchtlinge denen galt, die sich ihrer in Glaubensverbundenheit auf fremder Erde angenommen haben. Dafür haben wir in den letzten Wochen ergreifende Beweise erhalten. Was bedeutet gegenüber der bevorstehenden großen geistigen Auseinandersetzung heute der alte Gegensatz zwischen Lutheranern und Mennoniten? Wir haben ihn in Hamburg jedenfalls ganz zurückgestellt., wenn wir uns im Angesicht der schweren Schicksalsschläge unserer religiösen Verbundenheit bewusst wurden. Wie ein Klang aus einer fremden Welt erschienen uns in unserer rationalisierten Zeit jene Menschen mit ihrer echten Frömmigkeit, in der jener Luthertrotz Wirklichkeit geworden war: „Nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehr', Kind und Weib...
Diesen Brüdern zu helfen, die Fleisch von unserem Fleische sind und die alles verloren haben, ist Gewissenspflicht. Der neugegründete Evang. Hilfsausschuss „Brüder in Not", der in engster Anlehnung an den großen deutschen Hilfsausschuss arbeitet, hat sich diese Aufgabe gestellt. Geldspenden werden unter dem Kennwort „Brüder in Not" erbeten an die Wohlfahrtsabteilung des Zentralausschusses für Innere Mission, Berlin-Dahlem (Postscheckkonto Berlin 36,995). Ev. Pressedienst.
"Der Bote", Mittwoch, den 8. Januar 1930
Der Hölle entgangen, öffnen sich die soeben angekommenen Mennoniten diesem lutherischen Pfarrer, schütten bei ihm ihr Herz aus. Er ist von der Echtheit ihres Glaubens beeindruckt und bekennt: “Es waren die heiligsten Stunden, die wir seit langem in unserer Kapelle erlebten”.
Eine Reihe von leitenden Figuren, denen die Mennoniten in Deutschland begegnen, sind so beeindruckt von ihnen, dass sie auch nach ihrer Weiterwanderung nach Brasilien den Briefverkehr mit ihnen aufrecht erhalten und einige sogar sich die Mühe machen, sie am Krauel zu besuchen.
Zu Rosenort ist vorige Woche ein junger Mann namens Quapp wahnsinnig geworden. Er war auch mit seinen Eltern in Moskau. Da wurde er eingesteckt, seine Frau mit einem Kinde entkam nach Deutschland, wo sie auch noch ist. Jetzt wurden seine Eltern ausgesiedelt. Das ist doch wohl zu schwer für ihn gewesen.
"Der Bote", Mittwoch, den 18. März, 1931
Es folgt eine Geschichte von jemandem, der nun in Deutschland, im Land der Freiheit ist und es noch nicht so richtig fassen kann, dass ihm dieses Geschenk zuteil wurde. Man spürt ihm die Erleichterung ab, aber er muss sich noch mal das Ganze ins Gedächtnis rufen, welche Ängste er mit seiner Familie durchstehen musste und wie Gott ihn hinausgeführt hat:
Aus der alten Heimat
Ein Brief aus Deutschland. Hammerstein, den 11. Dez. 1929.
Innig geliebte Geschwister!
Jetzt da wir in Deutschland sind, können wir auch ausführlich berichten, wie es uns ergangen ist auf der Reise. Vieles haben wir in den verflossenen Tagen durchgemacht. Zu Hause war einfach nicht mehr zu leben. Alles wurde mit Gewalt in die Kommune getrieben. Die großen Wirtschaften wurden mit Gewalt ruiniert.
Am 8. November fuhren wir mit Dietrich Hildebrands von Moskalenko los, und am 10. folgten noch Johann Warkentin, David und Dietrich Thiessen und Schwägerin Katharina Thiessen.
Wohlbehalten kamen wir in Moskau an, aber hier empfing man uns mit der Nachricht, dass allnächtlich Verhaftungen vorgenommen werden. O weh, dachte ich, ich glaubte, allem entronnen zu sein, und nun soll's hier wieder losgehen. Aber es half nichts: hier musste man nur immer frisch voran. Ich mietete eine Datsche in Kljasma (in der Nähe Moskaus, wo unsere Mennoniten wohnten) und machte mich auf den Weg, um zu sehen, ob ich nicht in irgendeine Gruppe hinein könnte, und wirklich, es glückte mir auch bald. Ich hatte viel Arbeit, bis in die Nacht hinein, um alle Fragebögen auszufüllen, die verlangt wurden.
Eben hatte ich mich hingelegt, da klopft es. So, sagte ich nur, jetzt sind sie hier, und richtig, herein kamen drei Mann von der G.P.U., die fragten mich, wer und was ich sei, woher ich komme und was ich hier wolle. Dann mussten ich und mein Sohn uns schnell fertig machen, und wir wurden arretiert und von der Familie fortgerissen.
In der G.P.U. wurden wir dann drei Tage und drei Nächte gequält, damit wir unterschrieben, dass wir wieder wünschten, nach Hause zu fahren. Nun, das konnten und wollten wir nicht. Am dritten Tage kamen plötzlich drei Mann in unsere Zelle, ergriffen uns und schleppten uns ins Kabinett. Hier wurden wir wieder mit dem Revolver bedroht, damit wir unterschrieben. Dabei zeigten sie durchs Fenster auf den Hof, wo ich zu meinem Schrecken meine ganze Familie auf einem Lastauto erblickte. Unsere Sachen waren zerschlagen und zerrissen. Was sollte ich bei dem Anblick tun? Mir blieb nichts übrig, als zu unterschreiben, um fortzukommen, aber nach Hause wollte ich nicht.
Man ließ mich los, und ich bekam meine Familie und die Sachen zurück. Flugs nahm ich eine Droschke an, und zurück ging es ins Quartier. Da war aber guter Rat teuer. Hier bleiben konnte ich nicht und nach Hause wollte ich nicht. Am anderen Morgen suchte ich nach einem anderen Quartier und fand auch solches, 40 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite der Stadt. Hier saßen wir denn ganz in Ruhe, und die Kinder fuhren jeden Tag nach Kljasma, um zu erfahren, wann es losgehe. Mit einmal hieß es, wer nicht mit der ganzen Familie in K. sei, könne unmöglich den Platz erhalten. Da mussten wir denn wieder alle zurück. Das war eine schreckliche Zeit, die wir da verlebten. Jede Nacht wurde arretiert, und ich habe die ganze Zeit über die Kleider nicht ausgezogen. Sobald es klopfte, war ich auf dem Dachboden.
Auf der Station Puschkin wurden wir entladen, aber kein Mensch wusste genau, ob wir fahren würden oder nicht, denn noch niemand hatte einen Platz. Endlich, nach langem Warten hieß es: Jetzt kommen sie mit den Pässen! O wie klopfte da das Herz: Werden unsere Pässe darunter sein, oder wird man uns zurückschicken? Die Beamten fingen vom hintersten Waggon an, und ehe sie noch bis an unseren gekommen waren, hörten wir schon, dass eine Familie herausgeholt worden sei. O dieses bange Warten! Wie habe ich zum Herrn in meinem Herzen geschrien! Da mit einem Male waren sie in unserem Waggon. Wie ist der Name? Neufeld K. A. Der Beamte sucht und sucht und findet mich nicht. Das Blut flog in meinen Adern – da – sehe ich meine Photographie auf einem Passe, und wirklich, die ganze Familie erhielt ihre Pässe. O wie froh waren wir, dankten und lobten Gott und fuhren freudig ab. Aber drei Familien aus unserem Zuge mussten zurückbleiben.
Am 3. Dezember abends fuhr der Zug aus der Station Puschkin hinaus; in der nächsten Nacht kamen wir auf der Grenzstation Sebesh an, wo wir gründlich untersucht wurden, dann ging's weiter, und bald sahen wir andere Menschen durch die Waggone gehen: – es waren lettische Soldaten und lettische Beamten in ihren hübschen bestickten Röcken, die nahmen uns die Pässe ab. Auf dem nächsten Haltepunkt wurden wir mit Kaffee und schönem Weißbrot bewirtet, stiegen in andere Waggone ein und fuhren ab nach Riga, wo wir an demselben Tage um 11 Uhr vormittags ankamen. Eine große Volksmenge, meistens Deutsche, erwarteten uns auf dem Bahnhofe; sie beschenkten uns mit verschiedenen Süßigkeiten und Esswaren. Pastor Schulze hielt eine großartige Begrüßungsrede und hieß uns im fremden Lande willkommen. Nach einem guten Mittagsmahl, das uns gegeben wurde, ging's weiter der deutschen Grenze zu. In Eydtkuhnen mussten wir aussteigen und wurden in die Baracken gebracht. Wir wurden gebadet, und unsere Kleider wurden desinfiziert. Auch hier wurden wir großartig empfangen und bewirtet. Die Begrüßungsrede hielt Prediger Heinrich Pauls. Am Abend wurden auf dem Bahnhofe noch einige Lieder gesungen zum Abschiede und nach einem herzlichen Dankeschön von uns fuhren wir unserem Bestimmungsort Hammerstein zu.
Hier sitzen wir nun und werden gebadet und kuriert und wissen nicht, wie und wann und was weiter. Wir warten nur, dass Canada uns aufnehmen möchte, denn in Russland sagte uns die G.P.U., dass Canada uns nicht haben wolle. Aber alles, wie Gott will. Wir sind froh, dass wir aus Russland draußen sind; denn zu klagen haben wir hier nicht. Wir haben eine schöne warme Stube und bekommen satt zu essen.
(Eingesandt von H. Dahl-Rosthern.)
"Der Bote", Mittwoch, den 8. Januar 1930