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Seite 7

      Tatianas und ihr Mann hatten sich dem sowjetischen Regime angepasst und taten ihr Bestes, um nicht aufzufallen. Er arbeitete als Wissenschaftler, sie als Künstlerin. Aber Stalin misstraute allen, egal wie treu wie waren. So landete sie beide ins Gefängnis, er wurde dann in die Verbannung geschickt in den hohen Norden, am Weissen Meer, Richtung Finnland.

     Als sie ihren Mann mit dem zwölfjährigen Sohn besuchen konnte, schlug er ihr die Flucht vor. Eigentlich absurd und unmöglich. Doch sie wagten es. 

     Nun irren sie in endlosen Wäldern zwischen Russland und Finnland umher, ohne Kompass. Sie richten sich nach der Sonne, wenn sie scheint. Das Essen ist ausgegangen; sie sind am Ende ihrer Kräften.

     Und am nächsten Tage erwartete uns das schlimmste aller bisherigen Katastrophen: Die Sonne kam nur für kurze Zeit zum Vorschein die Sonne, die uns den Kompaß ersetzt hatte, die Sonne, unser einziger Trost! Der prächtige Kiefenwald war zu Ende. Wir mußten wieder durch Niederungen und Schluchten unseren Weg nehmen. Es war zwar klar, dass wir die Wasserscheide zwischen dem russischen und finnischen Tal erreicht hatten. Aber das war alles, was wir wußten. Wir konnten die Richtung nicht mehr bestimmen. Wir irrten einen Tag lang umher, wateten in Sümpfen, und durchnäßt und frierend brachen wir endlich am Abend zusammen.

     Der Morgen brachte uns bewölkten Himmel und Nebel.

     „Wir müssen hierbleiben, bis die Sonne zum Vorschein kommt," sagte mein Mann.

     „Wir müssen gehen, um wenigstens von dieser Niederung wegzukommen, sonst werden wir die Sonne nie sehen," entgegnete ich.

     Und abermals irrten wir einen Tag umher. Einen ganzen Tag voll Anstrengung. In der Nacht regnete es. Unsere „angeblich wasserdichten" Mäntel wurden durchnäßt. Ich konnte nicht schlafen. Unsere Lage war so verzweifelt, daß ich keinen Ausweg sah. Mit den Füßen des Jungen stand es böse. Auf dem wunden Fuß hatte er sich mit dem Stiefel noch die Haut abgeschürft, auf dem anderen Fuß hatte er Blasen. Ich hatte ebenfalls Hautabschürfungen an beiden Füßen. Die Stiefel meines Mannes waren zerrissen, und seine Füße waren mit Blasen bedeckt.

     Die Wärme des Lagerfeuers wirkte ermattend. Aus meinen Albträumen wurde ich durch einen scharfen Zuruf meines Mannes geweckt. Er zeigte mir mit bitterem Lachen die rote Sonnenscheibe, die gerade hinter dem Berge hervorkam, von dem wir angenommen hatten, daß er im Westen stand!

     Wir hatten also zwei volle Tage verloren!

     Wir mußten zurückwandern, im eiskalten Wind, kaum noch bekleidet. Im Norden, auf den Steinmauern der Berge, sahen wir Schnee liegen.

     Ich möchte über die Tage, die nun folgten, den Schleier des Vergessens breiten, ich wünschte, dass mir keine Erinnerung an sie geblieben wäre. Am ärgsten war der Hunger. Ich mußte die Tagesration auf zwei bis drei Löffel Reis und etwa 40 Gramm Speck einschränken, die morgens und abends als Würze der Pilzsuppe dienten. Der Zwieback war längst dahin. Jeder von uns erhielt außerdem morgens und abends je ein Stück Zucker. Fanden wir Blaubeeren – es gab deren nicht mehr viel – so verschlangen wir sie sofort oder hoben sie auf, um sie als Ersatz für Tee zu verwenden. Am schlimmsten war es, daß unser Salz ausgegangen war.

     Ein neues Unglück war der Nordwind, der fast ununterbrochen blies. Nachts froren wir. Es regnete, wir konnten kein Lagerfeuer anfachen und mußten unter irgendeiner Tanne schlafen. Eines Nachts bekam mein Mann wieder Schmerzen. Am Morgen konnte er seine linke Hand nicht bewegen, wurde von Atemnot gepackt und mußte sitzenbleiben, solange der Anfall dauerte. Es war sein Herz, das nicht mehr funktionieren wollte. Es war zu befürchten, daß er nach ein paar Tagen gänzlich zusammenbrechen würde. Was sollten wir dann machen? Nur eines konnte uns retten: eine Begegnung mit Menschen.

     Die erste gute Nachricht brachte uns der Junge.

     „Eine Axtkerbe!" schrie er plötzlich gleichsam erschrocken.

     Ein alter Baum wies in der Tat eine alte Axtkerbe auf.

     Es war ein großes, unfaßbares Erlebnis.

     Dann, nach zwei Stunden, fanden wir einen großen Holzschlag, fanden Spuren von großen Lagerfeuern. Aber dann verging der Tag abermals, ohne daß wir auch stärkere Hoffnung schöpfen durften. Und auch der nächste Tag war ein trostlos verzweifeltes Weitertrotten. Nein, hier wohnten keine Menschen.

     Am dritten Tage plötzlich erblickten wir einen Zaun. Es war der Vater, der uns zurief: „Ein Zaun!" Wir waren im ersten Augenblick gar nicht imstande, ihn zu verstehen, so unerwartet kam das Wort. Und doch: es war ein richtiger Zaun aus dünnen Stangen. Er streckte sich vom Süden nach Norden und schien endlos zu sein. Ich schritt mit dem Jungen den Zaun auf je zwei Kilometer nach jeder Seite ab, während der Vater wieder einen seiner schmerzhaften Anfälle bekommen hatte und liegenbleiben mußte. Aber ein Ende des Zaunes fanden wir nicht.

      Die Freude, die wir bei dem Anblick des Zaunes empfunden hatten, war schnell verflogen. Gewiß, in unbewohnter Gegend werden keine Zäune errichtet, dieser Zaun aber war uns schier unbegreiflich.

„Es ist anscheinend die die Grenze irgendeines Jagdreviers," erklärte mein Mann. Später, viel später erfuhren wir, daß der Zaun bloß errichtet war, um das Hinüberwechseln der Hirsche von Finnland nach Rußland zu verhüten. Und dann begann aufs neue Urwald, Moräne, Sumpf. Endlose Elchpfade.

      Wir hatten noch für fünf oder sechs Tage Zucker und Tee. Mein Mann war ganz krank. Schmerzen zwangen ihn häufig, den Marsch abzubrechen und eine Zeitlang liegen zu bleiben. Sobald er einigermaßen wieder zu Kräften kam, schleppten wir uns weiter. Bis ihn ein neuer Anfall niederstreckte.

      Und dann fand unser Junge die Flasche.

      „Eine Flasche!" rief er.

      Es war allerdings keine ganze Flasche, sondern nur ihr zerbrochener Boden. Immerhin eine neue, winzige Hoffnung! Etwas weiter lag viel vorjähriges Heu, alter Pferdemist, ein blauer Lappen. Von dieser Stelle, wo zweifellos Menschen gehaust hatten, führten drei klare, gerade Pfade nach verschiedenen Richtungen. Der Sumpf, der unsere Fortbewegung so sehr erschwert hatte, war zu Ende. Der Wald war trocken und sauber. Bauholz! Wir waren also in einer Gegend, die oft von Menschen aufgesucht wurde!

      Wir wählten blind den mittleren Pfad. Nach längerer Wanderung rief mein Junge: „Ein Haus!"

      Nein, es war kein Haus, sondern nur eine niedrige, halboffene Hütte. Die eine Hälfte der Hütte war mit einer niedrigen Decke, die andere mit einem schrägen, aus rohen Latten gezimmerten Dach überdacht. Unter dem Dach war ein Sims, dessen Rand verschiedene Namen und Zeitangaben trug. In der Mitte der Hütte lagen zwei Holzscheite. Wir wurden zuerst von der Freude berauscht. Wie uns doch neue Hoffnung erfüllte!

     Dann aber kam die Sorge: denn wir waren am Ende unserer Kraft. Auch in der Nähe menschlicher Wohnstätten kann man erschöpft zusammenbrechen. Und wir hatten keine Ahnung, wo diese Wohnstätten zu finden waren.

      „Ich werde versuchen, hier zu angeln," sagte mein Mann. Er ging zum Fluß. Der Junge fachte ein Lagerfeuer an und brühte den Tee auf. Ich bereitete die Pilze zu.

      „Wollen wir jetzt hierbleiben, Mutti?" fragte der Junge.

      „Warten wir ab, was Vater sagt. Fühlt er sich wohl, so müssen wir weitergehen. Du weißt, daß wir uns beeilen müssen. Unsere Vorräte sind beinahe zu Ende."

      Am nächsten Tage irrten wir abermals umher. Außer Atem und in Schweiß gebadet, kehrten wir am Abend in die Hütte zurück. Jetzt war es uns klar, daß die Pfade, die wir vorgefunden hatten, uns keine Verbindung mit menschlichen Wohnstätten schenkten. Man benutzte sie, um auf die Jagd oder auf Rentierweiden zu gehen.

      Wir suchten nach irgendeinem Hinweis, welche Richtung wir einschlagen sollten. Die ganze Hütte wurde aufs peinlichste untersucht, die Inschriften noch einmal genau in Augenschein genommen, die trockenen Baumzweige in der Ecke aufgestöbert. Schließlich ein Fund: unter den trocknen Zweigen fanden wir eine Papiertüte mit dem Aufdruck: „Kaufladen in Kuolajärvi" und einer Aufzählung von Waren, die dort zu beschaffen waren: Brot, Salz, Zucker, Butter. Lauter Dinge, die uns märchenhaft zu sein schienen. „Kuolajärvi" diesen winzigen Ort hatten wir auf der Karte gesehen. Dort fing die Landstraße an, die auf der Karte angegeben war. Aus der Tatsache, daß ein Kaufladen in Kuolajärvi Tüten mit Aufdruck gebrauchte, glaubten wir den Schluß ziehen zu dürfen, daß das Dorf in der Zwischenzeit stark gewachsen war. Unser Junge konnte sich die Sache nicht recht vorstellen. Packpapier gibt es in der Sowjetunion so gut wie gar nicht. Diese saubere Tüte mit Aufdruck brachte ihn in Verwirrung. Entzückt streichelte er den unbekannten Gegenstand und versuchte, die unverständlichen Worte zu entziffern. Die Tüte schien ihm ein geheimnisvoller Talisman zu sein, ein sicheres Zeichen, daß Menschen irgendwo in der Nähe seien.

      „Kuolajärvi kann nicht weit von hier entfernt sein, wenn die Leute eine Papiertüte von dort mitgebracht haben."

      Ach, wie dumm und unhaltbar waren alle diese Mutmaßungen! Und wie hätten die Finnen über uns gelacht, wenn sie sie gehört hätten!

      In dieser Nacht schlief nur der Junge. Es schmerzte mich aber, ihn anzusehen. Er lag unbeweglich, mit unbequem zurückgeworfenem Kopfe. Der Körper schien ihm nicht mehr zu gehören.

     Mein Mann aber saß die ganze Nacht gebückt am Lagerfeuer und sog an seiner längst ausgegangenen Pfeife. Ich lag hinter ihm und sah ihn ab und zu an, fragte aber nicht, woran er denke, denn ich wußte keinen Trost mehr für ihn.

       Als wir uns am Morgen zu unserem Pilzfrühstück setzen, sagte er plötzlich: „Ich werde allein weitergehen, bis ich Menschen gefunden habe. Dann werde ich euch abholen." Und er setzte uns diesen Plan, über den er in der Nacht so schwer gegrübelt hatte, ausführlich auseinander. Er hoffte, allein rascher vorwärts zu kommen.

       „Du sollst gehen," sagte ich. „Ich bin fest überzeugt, daß du uns retten wirst."

       Der Junge umarmte und küßte den Vater, der mittlerweise seine Pläne noch ausführlicher auseinandersetzte. Zum Schluß fragte er: „Was kannst du mir mitgeben? Wieviel Zucker haben wir noch?"

       „Zehn Stück," sagte ich. In Wirklichkeit hatte ich nur sieben.

       „Ich werde ein Stück mitnehmen."

       „Mindestens zwei."

       „Ich werde aber schon vor euch Menschen antreffen, und die werden mir zu essen geben."

       „Dort mußt du aber recht gut essen, Vati."

       Unter ähnlichen Auseinandersetzungen schnitt ich ein Stück Speck ab, das nicht einmal fünfzig Gramm gewogen haben mag. Die Bockigkeit meines Mannes begann mich zu ärgern.

       „Alles kommt jetzt darauf an," sagte ich, „daß du ans Ziel kommst. Wir werden hier schon durchhalten."

       Es war ein furchtbarer Anblick, als der Vater, fahl und abgemagert, mit ausgebranntem struppigem Bart und zerschundenen Händen, den schmächtigen Jungen umarmte, dessen Lippen schmal und blutlos geworden waren.

      „Leb wohl, Vati, komm bald zurück!"

      „Wieviel Tage sollen wir warten?"

      „Fünf. Drei Tage hin, zwei Tage zurück. Der Rückweg wird kürzer sein."

      „Ich werde sechs Tage warten. Was soll ich machen, wenn du nicht kommst?"

      „Große Feuer im Holzschlag anfachen. Sie werden vielleicht Menschen heranlocken."

      Und er ging.

      Von dieser Minute an wurde alles in mir öde und still. Ungeheuerlich groß war die lautlose Welt um mich herum – ich selbst war winzig und hilflos. Wir waren preisgegeben. Und meinen Jungen überfiel jetzt eine Müdigkeit, ein Hunger nach Schlaf, ausgestreckt liegen, Ausruhen, der maßlos war und heftig wie eine Krankheit. Meist lag er still auf der Erde, mit einem leeren Sacke unter dem Kopf. Die Sonne erwärmte seine zerschundenen Füße, auf der Ferse war noch die halb ausgeheilte Narbe sichtbar, an vielen Stellen zeigten sich Wunden von geplatzten Blasen. Er schlief und schlief.

      Es war aber Zeit, Beeren zu sammeln. Die Füße taten mir so weh, daß ich kaum die Schuhe anziehen konnte. Im Walde, durch den mein Mann kurz vorher weggegangen war, überfiel mich unsägliche Traurigkeit.

      „Mama, Mama!" rief der Junge.

      „Ich bin hier. Was willst du?"

      „Komm, Mutti. Mir ist so traurig zumute."

      Ich kam zurück, um ein heißes Getränk aus Blaubeeren und Preißelbeeren zu kochen.

      Nach dem heißen Getränk schlief er mit müde zusammengepreßten Lippen sofort wieder ein. So gingen die Stunden, die Tage, jede Minute schien ein langsamer, dickflüssiger Tropfen zu sein.

      „Mama, wo willst du wieder hin?"

      „Ich sammle Pilze, Liebling. Bleib nur ruhig liegen, ich bin ganz in der Nähe."

      „Ich bin aber so traurig, Mama."

       Ich mußte zu ihm zurück.

      „Willst du mit mir zusammen Pilze zubereiten?"

      „Nein, ich habe keine Lust. Darf ich mich neben dich hinlegen?"

      „Natürlich, komm her."

      Er legte sich an mich und schlief wieder ein.

      Viele, viele Stunden saß ich so neben ihm, wachend am Lagerfeuer, am Tage und in der Nacht. Die Nächte waren das bitterste. Wo mochte jetzt mein Mann sein? Sein Lagerfeuer ist sicherlich ausgegangen, und er friert unter irgendeiner Tanne oder hinter einem Felsen. Zu essen hat er nichts. Ach, wenn nur sein Herz durchhält! Das war eine unausgelöschte Angst.

      So vergingen Tage. Der erste, der zweite, der dritte. Nur abends wurde der Junge etwa zwei Stunden lang wach. Wir setzten uns nebeneinander, bedeckten uns mit einem und demselben Mantel und plauderten.

      Auch der vierte Tag ging um. Warum habe ich meinen Mann gehen lassen? Darf man sich denn in solcher Lage trennen? Wie, wenn sein Herz dieser Anstrengung wirklich nicht gewachsen war? Morgen werden fünf Tage um sein. Kommt er nicht zurück, so müssen wir gehen. Wohin? Sollen wir denselben Weg wie er wählen? Ja, wir werden denselben Weg gehen. Vielleicht werden wir wenigstens seine Leiche finden.

 

Die Rettung

      „Mutti!“ rief mir mein Sohn mit aller Kraft zu. Seine Stimme brach ab. Ich lief zur Tür.

      Aus dem Walde kamen uns zwei Männer in Soldatenuniform entgegen. Und wo ist er? … Gott, o Gott, da ist auch er! Er schwankt, sein Gesicht ist furchtbar, ganz geschwollen, an der Nase klebt geronnenes Blut.

      „Liebster Vater!“ Wir halten ihn wieder bei der Hand. Der Junge küsst und streichelt ihn.

      Er sinkt kraftlos auf einen Vorsprung der Hütte nieder und starrt an uns vorbei.

      „Was ist mit dir? Liebster! Teuerster!“

      „Nichts! Ich bin gefallen! Gebt mir Wasser!“

      „Hier, Lieber!“

      „Könnt ihr gehen?“

      „Ja.“

      „Die haben etwas mit, aber wenig“, spricht mit Anstrengung der Vater. Er weist auf die finnischen Grenzsoldaten hin, die ihn verlegen ansehen. „Sie haben mir nicht erlaubt, etwas zu kaufen, wollten alles selbst mitnehmen. Sie haben aber fast alles aufgegessen.“

       Er ist furchtbar aufgeregt.

      „Das ist doch so gleichgültig, Lieber. Die Hauptsache ist, dass wir gerettet sind!“

      „Ich brauchte zwei Tage, um ein Dorf zu erreichen, hatte nichts zu essen, und meine Stiefel waren ganz zerrissen. Sie glaubten, dass sie schneller gehen würden als ich, wir gingen aber drei Tage.“

      Er atmete schwer und wurde von einem Hustenanfall wieder hingeworfen. In seinem Taschentuch sah ich rotes Blutgerinnsel.

       Die Finnen kochten inzwischen Hafergrütze. Sie teilten kameradschaftlich mit uns und schenkten jedem von uns je ein Stück Brot. Wie seltsam! Ein Hungernder bemerkt seinen Hunger erst dann, wenn er wieder zu essen bekommt. Wir hätten endlos lange gegessen, die Grütze aber war schnell verschwunden.

      „Wir müssen gehen“, sagte der Vater immer in einer seltsam geistesabwesenden Tonart. „Wir brechen schon auf.“

      Jetzt marschierten die Finnen voran. Sie bereiteten uns den Weg, schlugen Baumzweige, die uns behinderten, ab, warfen Baumstämme über die Bäche, die uns den Weg versperrten. Ich fürchtete, dass mein Mann vor Schwäche umfallen würde. Er schwankte und ging wie ein Nachtwandler.

      Als wir etwa fünfhundert Meter von der Hütte entfernt waren und uns in einer dichten Erlenwaldung befanden, fand er endlich die Sprache wieder. Er erzählte:

      „Ich wundere mich, dass die Finnen mich nicht erschossen haben. Sie wollten schon gestern nicht weitergehen. Sie hatten den Argwohn, dass ich ein Bolschewik sei und sie in eine Falle locken wollte. Heute früh gaben sie mir zwei Stunden Zeit, zeigten auf die Uhr. Das bedeutete, dass sie umkehren würden, wenn wir nach zwei Stunden nichts gefunden hätten. Hätte ich mich geweigert, mit ihnen zurückzugehen, so hätte man mich erschossen. Ich ging wie in Trance. Mein Tod wäre auch euer Tod gewesen. Ihr wäret in dieser Wildnis verhungert. So vergingen zwei Stunden. Die Finnen versperrten mir den Weg, ich leistete ihnen Widerstand. Plötzlich höre ich Menschenstimmen. Ich glaubte zuerst, es sei eine Fieberphantasie vor dem Tode. Plötzlich höre ich die Stimmen wieder. Ich verlor den Kopf, riss aus und lief. Sie liefen mir nach und waren sicherlich nahe daran, auf mich zu feuern. Die Stimme wird immer klarer. Sie machen halt und horchen auf. Ich kann noch nicht denken, nicht überlegen – ich glaube, ich träume wirklich...“

      Die Wanderung war schwer, und doch war sie um vieles leichter geworden, denn zwei kräftige Männer, die noch dazu eine Axt hatten, waren uns behilflich. Für das Lagerfeuer beschafften sie mit Hilfe dieses Werkzeuges zwei mächtige Holzklötze, und es fiel ihnen nicht schwer, das Feuer während der Nacht zu unterhalten. Am nächsten Tage wurde aber auch der Weg leichter. Immer häufiger sahen wir Wege, Spuren von Lagerfeuern. Die Hügel im Walde waren rot von reifen Preisselbeeren. Pferde mit großen Schellen am Hals tauchten aus dem Walde hervor.

      Wir waren freilich sehr hungrig. Die Vorräte der Finnen waren fast erschöpft. Wir schleppten uns mühsam dahin. Der Vater versuchte, uns mit Erzählungen seiner Erlebnisse in den letzten Tagen die Zeit zu vertreiben. Es schauderte uns, wenn wir uns ausmalten, wie er ohne Lebensmittel, ohne Sohlen an den Schuhen, allein und in Angst um uns, immer weitergeirrt war. Und erst als er von der ersten Hütte sprach, in die er einbrach und in der er gelabt und gefüttert wurde, atmete der Junge wieder auf.

      „Wohin wird man uns bringen, Vati?“

      „Nach dem Grenzrevier.“

      „Wird man uns auch zu essen geben?“

      „Ich glaube es wohl.“

      „Dann ist es mir recht.“

      Als es dunkel wurde, wurde es auch wärmer. Es roch nach Korn. Wie märchenhafte Ungeheuer tauchten aus dem Dunkel hohe Getreideschober auf. Und plötzlich ein Auto! Es stand ganz friedlich neben einem Bauernhaus.

      Wir lachten und lachten. Die Finnen wandten sich erstaunt um.

      „Sind wir bald am Ziel, Vati?“

      „Ich finde mich nicht zurecht.“

       Wir gingen recht lange durch das Dorf. Die Häuser lagen weit verstreut und waren von Feldern und Gemüsegärten umgeben. Das ganze Dorf schlief. Die Fensterläden waren verschlossen.

      Plötzlich machten die Finnen halt. Wir standen vor einem freundlichen Haus. Durch die verschlossenen Fensterläden hörte man ein Grammophon, das einen lustigen Walzer spielte. Die Finnen klopften an die Tür, sie tat sich auf. Dem Grammophonwalzer, der sich jetzt ungehemmt über uns ergoss, mischten sich laute Begrüssungsworte bei. Hinter uns bellten wütend zwei riesige Rattenhunde.

      „Paive, Paive! Willkommen!“

      Wie viele Menschen in dem Hause waren, und was sie hier machten, war schwer zu unterscheiden.

      Ein großer Raum, ein riesiger Ofen, ein Gestell für Gewehre, eiserne, mit weißen blaukarierten Decken bedeckte Bettstellen in zwei Reihen übereinander. Ein einfacher großer Tisch mit Bänken ringsum. Und wir selbst so schmutzig, traten verlegen ein, setzten uns hilflos auf eine Bank, durchnässt, zerlumpt. Wir sahen und hörten zu, ohne etwas zu verstehen. Nur eines verstanden wir: dass ein kleiner untersetzter Mann, der flugs hin und herschoss, für uns die Hauptperson war. Er war nämlich der Koch.

      Seine Bewegungen waren so interessant, dass der Junge ihn wie verhext anstarrte.

     „Mutti, was dreht er denn?“

     „Eine Kaffeemühle.“

     „Was ist das?“

     „Sie mahlt Kaffeebohnen. Wir bekommen Kaffee.“

      Diese Tätigkeit leuchtete dem Jungen nur wenig ein, denn er kannte ja nur Hafer- und Mahlkaffee.    Wozu sind Bohnen da, und was sind das für Bohnen?

     „Sieh mal, was er bringt!“ rief mir der Junge in höchster Erregung zu. „Einen Teller ganz voll Butter! Aber guck doch mal hin! Es ist wohl ein ganzes Kilo. Was will er nur mit der Butter machen?“

     Lieber Herr Koch, wunderbarer, unvergesslicher Herr Koch! Er hetzte noch ein paarmal hin und her und sagte uns endlich: „Kahvi! Kaffee!“ Dieses Wort wurde von einer ausdrucksvollen Gebärde begleitet, die uns nach der Küche einlud. Sein Herd war in voller Tätigkeit. Das Brennholz knatterte im Ofen, in den Töpfen brodelte und kochte es. Am Fenster stand ein weißgedeckter kleiner Tisch, auf jeden von uns wartete ein geblümtes Porzellantässchen. In der Mitte eine Zuckerdose, eine Milchkanne und ein Korb mit Backwerk.

     Und das alles trug sich in einer Grenzkaserne zu!

     In der Grenzkaserne von Kurtinvardi.

     Wir aßen alle, wir tranken, wir aßen und tranken immer wieder, das Grammophon spielte, die Musik und das Lachen und die herrliche, herrliche, unwahrscheinliche Wärme – all das machte uns glücklich, machte uns trunken.

      Nach dem Abendessen wusch der Koch das Geschirr ab. Man brachte für mich und meinen Jungen eine große Heumatratze, ein Kissen und eine wollene Decke. Mein Mann erhielt eine freistehende obere Bettstelle, die ebenfalls mit einem Kissen und einer Decke versehen war. Die Soldaten legten sich zur Ruhe und löschten das Licht aus.

      „Ach, Mutti“, sagte mein Sohn, „mir ist so mollig, so weich.“ Das Essen war ihm gut bekommen, sein Gesicht hatte wieder Farbe. Wir waren gerettet!

      Wir waren also wirklich gerettet! Das Schicksal hatte uns am Leben gelassen! Es gab also noch Glück, Geborgenheit, Ruhe, Hilfsbereitschaft! Wir blieben in Kurtinvardi, bis wir wieder zu Kräften gekommen waren. Dann brachte man uns nach Provaniemi. Ach, wie wenig wissen die Menschen, die nicht im Lande des Leides gelebt haben, ihr Glück zu schätzen!


Ende

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    Tatianas Mann,  Wladimir, gab auch einen kurzen Bericht über diese Erlebnisse. Ich veröffentliche ihn heute und nächste Woche.

     „Oeffne! dies ist die G.P.U.!“

     Ich konnte nicht schlafen. Es war eine Nacht Ende März in Murmansk (Hier),  weit hinter dem Polarkreise. Der Wind heulte draussen um meine Wohnung – ein Wohnzimmer und eine winzige Küche – und ein gefrorener Strick, der zum Aufhängen der Wäsche diente, schlug draussen gegen die hölzerne Hauswand. Meine Frau und mein kleiner Sohn waren in unserm Hause in Leningrad (Hier) und wie gewöhnlich hatte ich den Abend für mich allein im Zimmer verbracht.

     Plötzlich – es war ungefähr zwei Uhr morgens – hörte ich ein Geräusch im Hause und Schritte. Dann ertönte ein lautes Klopfen an der Tür. „Wer ist da?“ frage ich. „Oeffne sogleich! Dies ist die G.P.U.!“

     Drei Mann kamen herein, zwei von ihnen in der Militäruniform der GPU und mit Revolvern bewaffnet, der dritte war ein roter Wächter mit einer Flinte. Sie fingen an meine Sachen durchzusuchen, drehten alles auf meinem Tische um, untersuchten meine Kleider am Leibe und harkteten alle Asche aus dem Ofen heraus. Sie durchwühlten mein Bett, schauten in jedes Buch hinein. Schliesslich stellten sie ein Protokoll auf, dass sie nichts Belastendes gefunden hatten und gingen weg.

Darauf erfuhr ich, dass sie jeden im Hause besucht hatten ausser Daniloff – der ein Kommunist war. Es war klar, die GPU suchte nach Beweisen für „Schädlingsarbeit“ in dem „Nördlichen Staats-Fischerei-Trust.“ Und nun, ehe ich daran gehe zu erzählen, was nach dieser seltsamen mitternächtlichen Haussuchung geschah, lassen Sie mich erklären, wie ich dazu kam, an solch entlegenem Aussenposten der Zivilisation angestellt zu werden.

     Der Geburt nach gehöre ich zum Adel. Das bedeutet für die Sowjet-Regierung, dass ich ein „Klassenfeind“ sei, aber wie es oft bei den russischen Adeligen der Fall ist, besassen weder meine Eltern noch ich irgendwelches Geld oder Eigentum, das wir nicht durch eigene Kraft erworben hatten. Vor dem Kriege war ich ein Forscher und Zoologe, Spezialist in Fischen. Die Revolution brach meinen normalen Lebenslauf, und die Institution, wo ich arbeitete, wurde von den Bolschewiken geschlossen. Aber ich verlor nichts durch die Revolution, denn wie viele andere hatte ich nichts zu verlieren.

     Anfang 1925 (Die Sowjetische Revolution war im Jahre 1917 geschehen) wurde mir der Posten eines Direktors der Forschungs- und Erzeugungsarbeiten im „Nördlichen Staats-Fischerei-Trust“ angeboten. Dieses dem Staate gehörende Industriewerk wurde unter schrecklich schweren Verhältnissen an der Barents-See fortgeführt. Murmansk, die Hauptstadt der Provinz, hatte keine Strassen oder Bürgersteige, keine Pferde oder Automobile. Im Winter kamen die Lappen auf Renntieren in die Stadt. Der Winter dauerte acht Monate, von denen zwei Monate vollständig Nacht war.

     Die Obrigkeit der Stadt – Mitglieder der GPU, das Exekutivkomitee und die anderen Sowjetorganisationen – waren Kommunisten, die an diesen einsamen Ort zur Strafe für Diebstahl oder Trunksucht verbannt waren. Und all ihr Verlangen und Bestreben ging darauf hinaus, zurückgerufen zu werden. 1925 gab es noch keine zwangsweise Zuweisung von Experten zu solchen Industrien, und wir Spezialisten konnten alle irgendwo Arbeit gefunden haben. Doch das Neue und der Umfang des Unternehmens, das in einem unerhörten Massstabe geplant war, lockten uns.

 

Der Fünfjahresplan für die Fischerei.

     Gleich am Anfang unserer Arbeit fing das Geschäft an sich mit merkwürdigem Erfolg zu entwickeln. Murmansk, das anfänglich nur 50 Familien hatte, wuchs zu einer Stadt mit 15,000 Einwohnern heran, mit einem grossen und ausgezeichnet ausgestatteten Hafen, mit Warenhäusern und Fabriken. Als dann der berühmte Fünfjahresplan von 1928-1933 kam, zog unser Trust die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich, und dieses war der Anfang zum Ruin des ganzen Geschäfts.

     Auch vor dem Fünfjahresplan hatten wir angefangen zu zweifeln, ob unsere 22 veralteten Schleppnetzboote ersetzt werden könnten, ehe sie ganz verbraucht und brüchig wurden. Jetzt jedoch war alles plötzlich anders, und uns wurde befohlen, bei dem Aufstellen des Planes für die Fünfjahresarbeit den Bau von 70 neuen Schleppnetzbooten und die Erhöhung des Fanges von 40,000 Tonnen auf 175,000 Tonnen pro Jahr zu erwägen.

      Im Sommer des Jahres 1929, als die Verhältnisse sich so schwer gestalteten, dass die Frage mehr als einmal erwuchs, ob überhaupt irgendeine konstruktive Arbeit fortgesetzt werden könne, als die Arbeiter wegen der ungenügenden Nahrungsrationen flohen, als trotz allen Anstrengungen die Produktion um 10 bis 15 Prozent zurückging, erhielt der Nördliche Staats-Fischerei-Trust folgende lakonische telegraphische Instruktionen von Moskau: „Ändert den Fünfjahresplan, gründet die neuen Zahlen auf 150 Schleppnetzboote und einen Fang von jährlich 3000 Tonnen pro Schiff anstatt der früheren angegebenen 2500.“ Drei aufeinander folgende Telegramme erhöhten weiter die Aufgabe und brachten die Anzahl der Boote auf 500 und den jährlichen Fang auf 1,500,000! Bald nach diesem wurde bekannt gemacht, dass infolge des ungewöhnlichen Fortschrittes der Fünfjahresplan in vier Jahren ausgefüllt werden müsse.

     Der Befehl war von keiner Vorschrift begleitet, seine Form war kategorisch und ohne Berufung. Wenn man in Betracht zieht, dass das ganze Vorkriegs-Russland, das im Fischerei-Gewerbe den ersten Platz in der Welt einnahm, nur 1,000,000 Tonnen Fische im Jahr erwarb, wird es einem klar, wie unwirklich die Zahlen des neuen Planes für einen unlängst gegründeten Fischerei-Trust waren, mit einem Jahresfang von 40,000 Tonnen, der hinter dem Polarkreis lag in einem Städtchen mit nur 15,000 Einwohnern. Wo konnten wir 500 Boote hernehmen und die Mannschaft, um sie zu besetzen?

     Was geschah? Der Präsident des Direktoriums, ein früherer Dachdecker, entschied plötzlich, er müsse nach Moskau gehen, und überliess die Lösung der schweren und unangenehmen Aufgabe den anderen. Der Vize-Präsident, ein Bauer, war ein ungebildeter Trunkenbold, der nichts von Fischerei verstand. Aber er sowie auch die andern Parteimänner verstanden, dass die Aufgabe nicht zu erfüllen war. Eine Parteikarte garantierte ihm jedoch volle Freiheit von der Verantwortlichkeit; wir, die „Experten“, waren diejenigen, die man verantwortlich machen würde.   

     Die Parteileute wussten auch, dass, wenn einer von uns es wagen sollte, seine Bedenken über die Durchführbarkeit der Aufgabe zu äussern, er sofort der Sabotage beschuldigt werden würde. Und darauf würde die GPU folgen, Gefängnis – oder Tod. Andererseits wieder, wenn wir jetzt still blieben, dann würden wir nach einem Jahre, höchstens zwei, wenn der Plan durchgefallen wäre, beschuldigt werden, dass wir keine Einwendungen gemacht hatten, und darauf würde folgen GPU-Gefängnis – oder Tod.

     Ein Techniker versuchte den Dienst zu quittieren. Seine Eingabe kam zurück mit dem Vermerk „Abgewiesen“, und ihm wurde „geraten“, nicht noch einmal solchen „Versuch“ zu machen. Und als ich darum einsam, übergeführt oder entlassen zu werden, antwortete mir der Hauptdirektor der Fischereien, ein Kommunist: „Wir halten Ihre Arbeit in dem „Nördlichen Staatlichen Fischereitrust“ für so wertvoll, dass wir Ihnen nicht erlauben können wegzugehen, und wenn nötig, werden wir mit Hilfe der GPU befinden, um Sie zur Arbeit zu zwingen.“

      Der Arbeitszwang des Trusts wurde enorm vergrössert. Kommunisten, die frei bekannten, dass sie die Fische nur als Appetit reizendes Mittel zum Wodka kannten, wurden unsere Aufseher: sie stolzierten einher, erteilten Befehle und kritisierten alles laut. Unsere Station fing nun an die Wirkung des rein phantastischen Plans zu fühlen. Es war traurig anzusehen, wie unsere Kühlanlage, welche wir eben zu bauen angefangen hatten, zerstört wurde, weil ihre Fassungskraft, die vor anderthalb Jahren geplant war, sich als zu klein erwies. Die Fundamente der Hüttenfabrik standen verlassen, weil die Pläne geändert waren. Die im Bau begriffenen Werften, welche so nötig für die immer mehr anschwellende Zahl der Schleppnetzboote waren, standen unvollendet da, weil man auf neue und mehr grandiose Pläne wartete. Es war herzbrechend das Chaos anzusehen. Diese Pläne wurden der Zerstörer der ganzen Industrie.

 

Die Gefangennahme

      Die Wirkungen des erfolglosen Fünfjahres-Experiments wurden überall gefühlt. Die Nahrung wurde spärlich. Nach und nach verschwanden die zum Leben notwendigen Artikel – Galoschen, Seife, Zigaretten und auch Papier. Hungrige Bürger äusserten sich ganz offen und sarkastisch über die Resultate des „Planes“. Eine Erklärung musste unverzüglich gegeben werden. Die Kommunisten, die einen Sündenbock haben mussten, schrieben den Fehlschlag der „Schädlingsarbeit“ der einzelnen Experten, den „ausländischen Elementen“ und den Beamten des alten Zarenregimes zu. Nach der Märznacht, als die Haussuchung bei mir stattfand, fühlten wir alle, die „Parteilosen“, dass unsere Lage sehr schnell gefährlich wurde. Auch die Kommunisten waren befragt worden: aber bald wusste jedermann, dass sie „der GPU halfen, die Schädlinge zu entdecken.“

     Ich kam zuletzt an die Reihe zur Untersuchung. Eines Morgens erhielt ich die Nachricht, mich um sechs Uhr abends in der Kanzlei der GPU einzufinden. Ich benachrichtigte davon den Präsidenten des Trusts und so viele meiner Kollegen wie ich eben konnte, damit die Neuigkeit im Falle meines Verschwindens doch zu den Ohren meiner Frau gelange. Wie viele Leute in der U.S.S.R. verliessen ihr Haus nach solcher Vorladung und kehrten nie wieder zurück!

     Bei dem Interview war ich erstaunt, unter den Beamten der GPU auch eine Frau zu finden.

     „Setzen Sie sich, Genosse Tschernawin, wir haben über vieles mit einander zu sprechen.“

     Sie war klein, dünn und bleich, ungefähr 30 Jahre alt, mit herben Zügen und einem grossen, unangenehmen Mund. Vor ihr lagen zwei geöffnete Päckchen der billigen Zigaretten „Buschka“, die sie unaufhörlich rauchte. Ihre Hände zitterten. Zuweilen sprach sie auf eine freundliche Weise, dann wieder wollte sie mich mit ihren Blicken durchbohren. Einmal drohte sie und war entrüstet, das anderemal gütig und fast zärtlich. Es würde amüsant gewesen sein, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich vollständig von diesem unbalancierten Frauenzimmer und ihrem Bundesgenossen, einem langen Letten in Militäruniform, abhinge.

      Das Examen dauerte sechs Stunden und die Examinatoren wechselten einander zweimal ab. Vier Stunden von den sechs wurden einem Satz gewidmet: „Um so schlechter für sie: es ist alles eine Ungereimtheit, und lass sie die Konsequenzen tragen.“

      „Wer sagte das? Wann? Unter welchen Umständen?“ Ich konnte mich nicht entsinnen, den Satz jemals gehört zu haben, und auch jetzt weiss ich nicht, woher sie den hatten. „Wie erklären Sie diesen Satz?“ fragte die Frau. „Sehen Sie keine „Schädlingsarbeit“ darin?“

      „Ich verstehe diesen Satz nicht,“ antwortete ich. „Er hat für mich keinen Sinn: Ich weiss nicht, was er bedeutet und wer ihn gesprochen hat.“ „Sie meinen also, er ist korrekt?“ „Das habe ich nicht gesagt.“ „Dann ist er unrichtig? Antworten Sie! Ist er richtig oder unrichtig?“ bestand sie, böse werdend. „Zu behaupten, dass die „Pläne“ eine Ungereimtheit seien, ist unrichtig.“ „Nur unrichtig? Ich meine, das ist verbrecherisch.“ „Ich kann nicht verstehen, wie man in einem Satz etwas Schädliches sehen kann. Ich verstehe unter „Schädlingsarbeit“ eine Arbeit, eine Tat, die einem Geschäft schadet, und nicht einen Satz, der aufs Geratewohl aus dem Gespräche einer unbekannten Person in unbekannten Umständen genommen wird.“ „Wie gut Sie wissen, was eine „Schädlingsarbeit“ ist,“ rief der Untersuchungsrichter aus. „Aber wir kommen auf die Arbeiten später.“ Schliesslich liessen sie mich los, aber im Fischereitrust wurden so viele Verhaftungen vorgenommen, dass Mitte September schon keiner übrig geblieben war, um irgendeine Arbeit zu tun.

      Am 25. September erschien dann die Bekanntmachung, dass auf Befehl der GPU 48 Gelehrte und Spezialisten in den Nahrungsversorgungs-Industrien erschossen worden seien, wegen „konterrevolutionäre Schädlingsarbeiten“. Solch ungeheures Blutbad war über alle Begriffe – 48 von Russlands vordersten Gelehrten waren ohne Gericht erschossen worden. Eine Verzweiflung und eine Panik setzte ein. Keiner dachte an Arbeiten; jeder fürchtete für sein eigenes Leben und erwartete, jeden Moment ergriffen zu werden und seine Freunde und Angehörigen verhaftet zu sehen.

     Mittlerweile war ich als Konsultant nach Moskau gerufen worden. Nach der Hinrichtung der „48“ beschloss ich, nicht mehr nach Murmansk zurückzukehren, sondern sogleich meine Familie in Leningrad aufzusuchen; denn ich wusste, dass ich früher oder später arretiert werden würde. Was würde mit meiner Frau und meinem 11jährigen Jungen geschehen, die so schon genug Tragisches erlebt hatten? Jeden Abend, wenn der Junge schon im Bette lag, sassen meine Frau und ich lange noch beisammen – und warteten. Wir sprachen niemals davon, aber wir beide wussten, auf was wir warteten und dass dieses unsere letzten Stunden des Zusammenseins sein könnten.

     Zuletzt geschah es, und sehr einfach. Ich war allein zu Hause. Mein Sohn war ins Kino gegangen – er war auch ruhelos und nervös. Meine Frau war noch nicht von ihrer Arbeit heimgekehrt. Die Klingel erschallte. Ich öffnete die Tür und sah den Hausverwalter mit einem Fremden in Zivilkleidern. Ich verstand. Der Fremde überreichte mir ein Papier – den Befehl zur Haussuchung und zum Arretieren.

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